Leitsatz (redaktionell)
Nach § 12 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter der Spedition und des Güternahverkehrs in Baden-Württemberg vom 30. Mai 1989, zuletzt geändert am 13. Juni 1995, hat der Arbeiter bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts in Höhe von 100 %.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. Er ist bei der Beklagten, die Mitglied des Verbandes des Speditionsgewerbes e. V. ist, seit 1988 als Müllwerker beschäftigt. Kraft beiderseitiger Tarifbindung ist auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der Manteltarifvertrag für die Arbeiter der Spedition und des Güternahverkehrs in Baden-Württemberg vom 30. Mai 1989, zuletzt geändert am 13. Juni 1995 (MTV), anzuwenden. Dieser enthält in seinem § 12 unter der Überschrift "Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall" folgende Bestimmungen:
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1. |
Bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit gelten die Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes. |
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2. |
Arbeitnehmer erhalten als Zuschuß zu den Barleistungen der Krankenkasse über die Dauer von sechs Wochen hinaus, |
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a) |
bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit |
nach 5-jähriger ununterbrochener Tätigkeit im gleichen Betrieb |
bis zu 1 Monat, |
nach 10-jähriger ununterbrochener Tätigkeit im gleichen Betrieb |
bis zu 2 Monate, |
nach 15-jähriger ununterbrochener Tätigkeit im gleichen Betrieb |
bis zu 3 Monate, |
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b) |
bei Arbeitsunfähigkeit infolge eines Betriebsunfalles |
nach 3-jähriger ununterbrochener Tätigkeit im gleichen Betrieb |
bis zu 8 Wochen, |
nach 8-jähriger ununterbrochener Tätigkeit im gleichen Betrieb |
bis zu 10 Wochen |
den Unterschiedsbetrag zwischen den aus Anlaß der Krankheit von Versicherungsträgern und privaten Kassen bezogenen Leistungen und 100 % des Nettobetrages der Monatsbezüge. Für die Berechnung dieses Zuschusses ist das Bruttokrankengeld zugrunde zu legen, also ohne Abzug der Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge.
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4. |
Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen und vor Ablauf des dritten Kalendertages nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer nachzureichen. |
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Der Kläger war am 20. Januar 1997 sowie in der Zeit vom 12. bis 14. Februar 1997 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des Stundenlohnes unter Berufung auf die ab dem 1. Oktober 1996 geltende neue Fassung des § 4 EFZG.
Der Kläger beansprucht den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe. Er sieht in § 12 Nr. 1 MTV eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung. Es handele sich um eine statische Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz ohne Jeweiligkeitsklausel. Im übrigen ergebe sich aus dem Gesamtzusammenhang der tarifvertraglichen Regelungen, daß eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % gewollt sei.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 156,74 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu bezahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 12 Nr. 1 MTV enthalte keine eigenständige Regelung. Mit ihrem Verweis auf die Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes hätten die Tarifvertragsparteien zum Ausdruck gebracht, daß die jeweiligen gesetzlichen Regelungen Anwendung finden sollten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Kläger hat für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % seines Arbeitsentgeltes. § 12 Nr. 1 MTV enthält keine eigenständige (konstitutive) Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung.
I. Bis zum 31. Mai 1994 galt für Arbeiter das "Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall (Lohnfortzahlungsgesetz)" vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994, in Kraft getreten am 1. Juni 1994 (Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I S. 1014, 1070), wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nur noch "80 von Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts".
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte nicht in bestehende Tarifverträge eingreifen (BT-Drucksache 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179).
II. Die Auslegung des Manteltarifvertrages ergibt, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung dort nicht eigenständig geregelt ist.
1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - und - 5 AZR 638/97 - beide zur Veröffentlichung vorgesehen).
2. Tarifliche Verweisungen auf geltende, ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften sind im Zweifel deklaratorisch (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - und BAG Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; Senatsurteile vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, und vom 1. Juli 1998 - 5 AZR 456/97 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961). Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder "seiner Bezüge" nach oder nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen.
Aus einer deklaratorischen Verweisung wird nicht dadurch eine konstitutive Regelung, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, hier das Lohnfortzahlungsgesetz, außer Kraft treten und die Tarifvertragsparteien die Verweisungsvorschrift unverändert lassen. Das gilt auch dann, wenn der Tarifvertrag später an anderer Stelle geändert wird.
3. Da Verweisungen auf ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften typischerweise auf fehlenden Regelungswillen hindeuten, bedarf es in solchen Fällen besonders deutlicher Anhaltspunkte dafür, daß gleichwohl ein Regelungswille bestand. Anders verhält es sich bei wortgleicher oder inhaltsgleicher Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften eines Tarifvertrags ohne Nennung des Gesetzes. Nach Auffassung des Zweiten Senats sind auch solche Bestimmungen im Zweifel deklaratorisch (BAGE 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie) und bedarf es auch hier zusätzlicher Anhaltspunkte, um auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen zu können. Da aber in derartigen Fällen nicht schon der Wortlaut des Tarifvertrags gegen das Bestehen eines Regelungswillens spricht, sind insoweit weniger strenge Anforderungen an den Ausdruck dieses Willens zu stellen.
Diese Unterschiede zeigen sich insbesondere bei der Bedeutung, die das Vorhandensein einer eigenständigen Tarifregelung über die Zahlung von Zuschüssen zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche für die Auslegung hat. Der Senat sieht in einer solchen Regelung bei bloßen Verweisungen - anders als bei der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme gesetzlicher Bestimmungen in den Tarifvertrag - kein hinreichend starkes Indiz dafür, daß der Tarifvertrag die Höhe der Entgeltfortzahlung innerhalb der Sechswochenfrist eigenständig regelt. Aus den Zwecken von Zuschußregelungen ergibt sich nichts anderes.
Tarifliche Bestimmungen über die Zahlung von Zuschüssen zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche sind - auch nach den Grundsätzen des Zweiten Senats - eigenständig, da es sich dabei um über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehende Ansprüche handelt. Aus dem konstitutiven Charakter solcher Bestimmungen folgt jedoch noch nicht, daß auch die Verweisungsvorschrift als konstitutiv anzusehen wäre. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereichs läßt noch keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und in anderen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (vgl. BAG Urteil vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie, zu II 4 b der Gründe).
Zuschußregelungen sollen je nach Ausgestaltung den Einkommensverlust bestimmter Arbeitnehmergruppen nach Ablauf der Sechswochenfrist für einen gewissen Zeitraum ganz oder teilweise ausgleichen und ihn annähernd so stellen wie innerhalb der Sechswochenfrist. Dieser Zweck wird zwar nur erreicht, wenn dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts zusteht. Allein daraus kann aber bei Verweisungen nicht auf eine eigenständige Regelung geschlossen werden. Deutlich wird daraus nur, daß sich die Tarifvertragsparteien bei der Zuschußregelung eine vorausgegangene Entgeltfortzahlung zu 100 % vorgestellt, also auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung verhandelt haben.
4. Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung in § 12 Nr. 1 MTV nicht eigenständig geregelt ist. Die Vorschrift enthält eine bloße Verweisung auf das Lohnfortzahlungsgesetz. Die Tarifvertragsparteien haben die gesetzlichen Bestimmungen weder wort- noch inhaltsgleich übernommen. Sie haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Der Tarifvertrag wurde 1989 abgeschlossen und 1995 nur an anderer Stelle geändert. Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergibt sich nicht, daß es sich um eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung handelt. Wie ausgeführt, ist die Zuschußregelung kein hinreichend starkes Indiz für eine eigenständige Regelung.
Aus § 11 Nr. 1 i ia, l MTV ergibt sich nichts anderes. Nach diesen Bestimmungen hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung für "die notwendig ausgefallene Arbeitszeit ... bei Arztbesuch und ärztlich verordneter Behandlung, die aufgrund ärztlicher Befundnis unbedingt während der Arbeitszeit erfolgen müssen" und bis zu zwei Arbeitstagen bei schwerer Erkrankung des Ehegatten. Das bedeutet, daß der Arbeitnehmer in diesen Fällen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts hat. Der Kläger meint, es könne nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien entsprochen haben, dem Arbeitnehmer bei eigener Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 %, bei Arztbesuchen ohne Arbeitsunfähigkeit und bei Krankheit des Ehegatten dagegen einen Anspruch in Höhe von 100 % zu geben. Selbst wenn dies zuträfe, folgte daraus nicht, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eigenständig geregelt haben. Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. § 616 BGB, früher § 616 Abs. 1 BGB, ist unverändert geblieben, so daß bei vorübergehender Dienstverhinderung das Entgelt in voller Höhe weiter zu zahlen ist, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden (vgl. § 619 BGB). Das ist hinzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für beide Fälle zu schaffen.
Fundstellen
BB 1999, 112 |
DB 1999, 235 |
NZA 1999, 332 |
RdA 1999, 232 |
SAE 1999, 208 |
AP, 0 |