Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 17.11.1997; Aktenzeichen 5 Sa 351/97)

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 17.11.1997; Aktenzeichen 5 Sa 356/97)

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 17.11.1997; Aktenzeichen 5 Sa 358/97)

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 17.11.1997; Aktenzeichen 5 Sa 357/97)

 

Tenor

1. Die Revisionen der Kläger gegen die Urteile des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 17. November 1997 – 5 Sa 351/97, 5 Sa 356/97, 5 Sa 357/97 und 5 Sa 358/97 – werden zurückgewiesen.

2. Die Kläger haben die Kosten der Revisionen zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Kläger und die Klägerin sind bei dem Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des metallverarbeitenden Handwerks in Schleswig-Holstein i. d. F. vom 26. Juni/18. Juli 1990 Anwendung (nachfolgend: MTV), den die Tarifvertragsparteien mit Wirkung vom 1. Januar 1994 wieder in Kraft gesetzt haben. Die hier interessierenden tariflichen Bestimmungen lauten wie folgt:

„§ 6 Arbeitsausfallvergütung

1. Bezahlt wird nur die Zeit, die der Arbeitnehmer im Rahmen der regelmäßigen vereinbarten Arbeitszeit zur Verfügung steht.

2. Gemäß § 616 BGB ist trotz Nichtleistung der Arbeit in den folgenden geregelten Fällen trotzdem eine Entlohnung vorzunehmen (Abrechnungsbasis s. § 10 MTV):

...

2.2 In folgenden Fällen wird im Zusammenhang mit den genannten Ereignissen unter Weiterzahlung des Durchschnittsverdienstes Freistellung von der Arbeit gewährt:

...

2.2.2 bei eigener Hochzeit, Niederkunft der Ehefrau, Tod des Ehegatten, Tod der Eltern, Tod eines Kindes.......2 Tage

...

2.3 Während einer lohnfortzahlungspflichtigen Erkrankung bzw. während des Erholungsurlaubs eines Arbeitnehmers entsteht Arbeitsausfall nur dann, wenn es sich bei dem Ereignis, das den Sonderurlaub begründet, um den Tod eines Familienangehörigen (Ehegatten, Kinder, Eltern) oder um die Niederkunft der Ehefrau handelt.

...

3. Ist der Arbeitnehmer durch unvorhergesehene Ereignisse oder durch Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert, so hat er es dem Arbeitgeber unverzüglich unter Angabe der Gründe mitzuteilen. Bei Krankheit hat der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen.

4. Verdienstausfall wird außerdem gezahlt:

4.1 bei Verlassen der Arbeitsstätte wegen Krankheitserscheinungen nach erfolgter Abmeldung beim Arbeitgeber oder unaufschiebbarem Aufsuchen des Arztes, wenn die Dauer der Abwesenheit nicht über 1 Tag hinausgeht.

4.2 bei einer auf Anordnung des Arztes aus medizinischen Gründen während der Arbeitszeit erforderlichen Untersuchung (z. B. Röntgendiagnostik bei Nüchternheit) oder bei einer Behandlung, die infolge bestimmter, aus der Art der Behandlung sich ergebender Stundenfristen aus medizinischen Gründen durchgeführt werden muß (z. B. Entfernen von Betäubungseinlagen durch den Zahnarzt).

...

§ 10 Ermittlung des Durchschnittsverdienstes als einheitliche Abrechnungsbasis für alle Berechnungsfälle

1. Der durchschnittliche Stundenverdienst ist zugrunde zu legen für die Berechnung der

- Urlaubsentgelte (§ 9 Ziff. 2.1. MTV)

- Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Lohnfortzahlungsgesetz)

- Arbeitsausfallvergütung (§ 6 MTV)

- Feiertagsbezahlung

nach dem Gesetz über die Feiertagsbezahlung

Einheitliche Basis für alle o.g. Fälle ist die durchschnittliche regelmäßige tägliche Arbeitszeit von ...

7,4 Stunden pro Urlaubstag ab dem 01.10.1993.

2. Der durchschnittliche Stundenverdienst bemißt sich nach dem Verdienst, den der Arbeitnehmer im letzten Kalenderjahr, ausgewiesen durch die Lohnsteuerkarte, erhalten hat. Abzuziehen sind von dem so ermittelten Jahres-Gesamtverdienst folgende darin enthaltene Beträge:

2.1 Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle in Zeit (s.3.) und Geld

2.2 zusätzliches Urlaubsgeld

...

3. Unverschuldet ausgefallene Arbeitszeit, für die kein Arbeitsentgelt gezahlt wurde, sowie die Zeit der lohnfortzahlungspflichtigen Erkrankung, sind von der Gesamtstundenzahl abzuziehen.

...”

Die Kläger waren im November 1996, die Klägerin war im Oktober und November 1996 arbeitsunfähig krank. Der Beklagte leistete jeweils Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des Arbeitsentgelts unter Berufung auf die ab 1. Oktober 1996 geltende neue Fassung des § 4 EFZG.

Die Kläger und die Klägerin beanspruchen den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie haben vorgetragen: § 10 MTV enthalte eine abschließende und eigenständige Regelung, die § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. verdränge. Durch die Bezugnahme auf das Lohnfortzahlungsgesetz hätten die Tarifvertragsparteien klargestellt, daß sie von einer hundertprozentigen Entgeltfortzahlung ausgegangen seien. Insoweit sei der Grundsatz der vollen Lohnfortzahlung auch in den Manteltarifvertrag aufgenommen worden.

Die Kläger und die Klägerin haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen,

  • 1. an den Kläger zu 1) 48,36 DM brutto,

    2. an den Kläger zu 2) 108,72 DM brutto,

    3. an den Kläger zu 3) 261,96 DM brutto und

    4. an die Klägerin zu 4) 541,62 DM brutto

jeweils nebst Zinsen zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klagen abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, daß § 10 MTV nur deklaratorisch sei und keine Aussage zur Höhe der Entgeltfortzahlung enthalte.

Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Die Berufungen waren erfolglos. Mit ihren Revisionen verfolgen die Kläger und die Klägerin ihre Klageanträge weiter. Der Senat hat die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind nicht begründet. Die Kläger und die Klägerin haben für die Zeit ihrer Erkrankung keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % ihres Arbeitsentgelts. § 10 MTV enthält keine eigenständige (konstitutive) Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung. Das hat das Landesarbeitsgericht richtig erkannt.

I. Bis zum 31. Mai 1994 galt für Arbeiter das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)” vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994, in Kraft getreten am 1. Juni 1994 (Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 - BGBl. I S. 1014, 1070), wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG n. F. nur noch „80 von Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”.

Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179).

II. Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht geregelt haben.

1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - und - 5 AZR 638/97 - beide zur Veröffentlichung vorgesehen).

2. In seiner Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts folgenden Auslegungsgrundsatz entwickelt: „Werden einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat” (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; Urteile vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 201/95 - AP Nr. 50 zu § 622 BGB; vom 14. Februar 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; vom 29. Januar 1997 - 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726; zuletzt Urteil vom 6. November 1997 - 2 AZR 707/96 - juris).

Hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften gilt nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts dieselbe Auslegungsregel wie bei der wörtlichen oder inhaltlich unveränderten Aufnahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften in ein Tarifwerk. Danach sind auch Verweisungen im Zweifel deklaratorisch, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Norm im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - und Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; vgl. auch BAG Urteil vom 12. November 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961).

3. Dem Zweiten Senat ist zumindest hinsichtlich tariflicher Verweisungen auf geltende ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften zu folgen. Diese sind im Zweifel deklaratorisch. Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z. B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder „seiner Bezüge” nach oder nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen.

Aus einer deklaratorischen Verweisung wird nicht dadurch eine eigenständige Regelung, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, außer Kraft treten und die Tarifvertragsparteien die Verweisungsvorschrift unverändert lassen.

4. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts verlangt, daß der Wille zur Schaffung einer von der gesetzlichen Norm unabhängigen eigenständigen Regelung im Tarifvertrag „einen hinreichend erkennbaren Ausdruck” gefunden hat. Das sei z. B. bei Formulierungen wie, die Tarifbestimmung gelte „unabhängig von der gesetzlichen Regelung” oder „auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung”, der Fall. Diese Formulierungen betreffen allein die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme der gesetzlichen Bestimmungen in den Tariftext. Bei Verweisungen könnte die Formulierung etwa lauten, „es gilt das Gesetz in seiner am ... gültigen Fassung” . Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung kann sich aber nicht nur aus derartigen Formulierungen, sondern auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben. Das ist auch bei Verweisungen nicht von vornherein ausgeschlossen.

5. In seinem Urteil vom 10. Mai 1994 (- 3 AZR 721/93 - AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe) ist der Dritte Senat hinsichtlich eines Klammerzusatzes (50 km) zu dem Begriff Nahverkehr in einer tariflichen Spesenregelung ohne Anwendung der vom Zweiten Senat entwickelten Vermutungsregelung zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich dabei nicht um eine eigenständige tarifliche Regelung handele. Er hat dafür den Wortlaut, den tariflichen Zusammenhang und den Auslegungsgrundsatz herangezogen, bei mehreren denkbaren Auslegungsergebnissen verdiene dasjenige den Vorzug, das zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führe.

6. Im § 10 MTV haben die Tarifvertragsparteien die Berechnungsmethode (Referenz) und die Berechnungsgrundlage (Verdienst des letzten Kalenderjahres) festgelegt, aber nicht die Höhe der Entgeltfortzahlung. § 10 Nr. 1 MTV enthält einen bloßen Hinweis auf das Lohnfortzahlungsgesetz.

Gegen eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung sprechen Wortlaut und Überschrift des Manteltarifvertrages. Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergibt sich nichts anderes. Die Tarifvertragsparteien haben gesetzliche Bestimmungen weder wort- noch inhaltsgleich übernommen. Der Manteltarifvertrag enthält auch keine Formulierung, wonach der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach dem Lohnfortzahlungsgesetz hat. Es wird auch nicht ausdrücklich auf das Lohnfortzahlungsgesetz verwiesen oder dieses für anwendbar erklärt. Es handelt sich damit nicht um eine typische Verweisung. Das Wort Lohnfortzahlungsgesetz findet sich nur in einem Klammerzusatz hinter den Worten „Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle” in § 10 Nr. 1 MTV.

a) In Klammerzusätzen wird nach allgemeinen sprachlichen Regeln lediglich erklärt und erläutert, nicht aber Eigenständiges festgelegt (BAG Urteil vom 10. Mai 1994 - 3 AZR 721/93 - AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe, zu B II 2 a der Gründe; Senatsurteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 728/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Höhe der Entgeltfortzahlung ist in § 10 MTV überhaupt nicht erwähnt. Das wird durch die Überschrift bestätigt. Danach enthält § 10 MTV nur Regelungen zur „Ermittlung des Durchschnittsverdienstes als einheitliche Abrechnungsbasis für alle Berechnungsfälle”.

§ 10 MTV unterscheidet sich damit deutlich von solchen Tarifverträgen, die nicht nur Berechnungsmethode und -grundlagen, sondern auch das Ergebnis der Berechnung vorgeben und damit die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regeln. Solche Formulierungen lauten etwa, daß der Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf 1/22 des durchschnittlichen Monatsverdiensts oder 1/65 des durchschnittlichen Vierteljahresverdiensts hat. Es gibt auch Fälle, in denen hinsichtlich der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall innertariflich auf derart genaue Berechnungsvorschriften verwiesen wird (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 728/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). In derartigen Fällen haben die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung präzise geregelt. Das ist hier nicht der Fall.

b) Eine Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung wäre nach der Tarifsystematik, wenn überhaupt, in § 6 MTV zu erwarten gewesen. In dieser Vorschrift und in § 9 haben die Tarifvertragsparteien die Fälle geregelt, in denen die Arbeitnehmer tarifliche Ansprüche auf Entgelt ohne Arbeit haben. § 6 Nr. 2.3 MTV erwähnt zwar die „lohnfortzahlungspflichtige Erkrankung”; die Vorschrift regelt aber nur das Zusammentreffen von mehreren Verhinderungsgründen.

c) Auch aus § 6 Nr. 4.1 und 4.2 MTV ergibt sich nicht, daß der Tarifvertrag die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regelt. Nach diesen Vorschriften wird „Verdienstausfall ... außerdem gezahlt ... bei Verlassen der Arbeitsstätte wegen Krankheitserscheinungen ... oder unaufschiebbarem Aufsuchen des Arztes, wenn die Dauer der Abwesenheit nicht über 1 Tag hinausgeht” und bei ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen, die notwendig während der Arbeitszeit stattfinden müssen. Wortlaut und tariflicher Zusammenhang (Anschluß an § 6 Nr. 2.1, 2.2 MTV) sprechen dafür, daß der Arbeitnehmer in diesen Fällen einen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts hat. Die Klageparteien haben die Auffassung vertreten, es könne nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien entsprochen haben, dem Arbeitnehmer bei Krankheit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 %, in den Fällen des § 6 Nr. 4.1 und 4.2 MTV, also bei weniger schwerwiegender Beeinträchtigung, dagegen einen Anspruch in Höhe von 100 % zu geben. Auch wenn dies zuträfe, würde daraus nicht folgen, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eigenständig geregelt haben. Allenfalls ergäbe sich daraus, daß die Tarifvertragsparteien auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung der Entgeltfortzahlung verhandelt haben.

Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. § 616 BGB, früher § 616 Abs. 1 BGB, ist unverändert geblieben, so daß bei vorübergehender Dienstverhinderung das Entgelt in voller Höhe weiterzuzahlen ist, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden (vgl. § 619 BGB). Das ist hinzunehmen. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für diese Fälle zu schaffen.

d) Weitere Anhaltspunkte für das Bestehen einer eigenständigen Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung gibt es nicht. Damit handelt es sich um einen bloßen Hinweis auf die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften, nicht um eine eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

 

Unterschriften

Griebeling

Reinecke

Kreft

Blank

Glaubitz

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1338718

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