Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. einstweiliger Rechtsschutz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. Sozialhilfe. Anspruchsüberleitung. Nichterforderlichkeit des tatsächlichen Bestehens des Anspruchs. Negativevidenz. Erbschaft. Ausschlagung. Sittenwidrigkeit. Nichtübertragbarkeit der Rechtsprechung des BGH zur fehlenden Sittenwidrigkeit eines Erbverzichts. Streitwertbestimmung
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Wirksamkeit der Überleitung eines Anspruchs nach § 93 SGB 12 genügt es bereits, dass ein überleitungsfähiger Anspruch überhaupt in Betracht kommt, er also nicht von vornherein objektiv ausgeschlossen ist.
2. Entscheidend ist nicht, ob ein Anspruch tatsächlich besteht, sondern dass die Überleitung für einen Zeitraum erfolgt, für den Leistungen der Sozialhilfe tatsächlich gewährt worden sind.
3. Die bei der Ausschlagung einer Erbschaft (§ 1942 Abs 1 BGB) anzulegenden Maßstäbe entsprechen nicht unbedingt denen eines Erbverzichts.
4. Bei einem rechtsgeschäftlichen Erbverzicht (§ 2346 Abs 2 BGB) weiß der Verzichtende idR weder, wie hoch das Erbe sein wird, noch, ob er zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers sozial bedürftig ist.
5. Verzicht und Ausschlagung als zivilrechtlich eröffnete Gestaltungsmittel eines Hilfebedürftigen zu Lasten der Allgemeinheit sind nicht in jedem Fall hinzunehmen.
6. Ein Abschlag vom Streitwert ist im Hinblick auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht vorzunehmen (Streitwertkatalog für die Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl 2012, B. Allgemeines; Verfahrensrecht 11.1.).
Tenor
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 26. Mai 2015 wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerinnen haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das gesamte Antragsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
In der ersten Instanz ging es um die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die vom Antragsgegner vorgenommene Überleitung eines zivilrechtlichen Anspruchs (Leistungsberechtigter D. L.).
Der im Jahr 1991 geborene D.L. leidet seit dem 12. Lebensjahr an einer psychischen Erkrankung und erhält vom Antragsgegner Leistungen, zum Teil in Einrichtungen. So erhielt er für die Zeit vom 2.10.2012 bis 3.8.2014 Leistungen der Eingliederungshilfe in einer Jugendwohngruppe mit Kosten von 28.928,25 Euro. Für die Zeit seit 4.8.2014 werden Leistungen der Eingliederungshilfe für ambulant betreutes Wohnen gewährt (monatlich rund 830,00 Euro).
Am 8.2.2014 verstarb der Vater des D.L. ohne letztwillige Verfügung. Laut notarieller Urkunde vom 14.5.2014 schlug D.L. die Erbschaft aus jeglichem Berufungsgrunde aus. Die Echtheit der Unterschrift wurde von einer Notarin beglaubigt. Der Vater des Leistungsberechtigten wurde laut Erbschein vom 12.6.2014 von den Antragstellerinnen zu 1) zu 1/2 sowie zu 2) und 3) zu je 1/4 beerbt. Der Reinnachlass ohne Firmenvermögen beträgt nach vorläufigen Ermittlungen des Antragsgegners rund 458.700 Euro, das Firmenvermögen etwa 500.000.- Euro.
Eine Anhörung der Antragstellerinnen sowie des D.L. erfolgte am 2.12.2014. Mit Bescheid vom 18.2.2015 leitete der Antragsgegner den Anspruch des D. L. auf Herausgabe des gesetzlichen Erbteils von 1/6 dem Grunde nach gegen die Erbengemeinschaft mit den einzelnen bezeichneten Antragsstellerinnen auf sich über. Die Erbausschlagung sei sittenwidrig, da sie zu Lasten der Allgemeinheit gehe.
Am 18.2.2015 beauftragte der Antragsgegner einen Rechtsanwalt mit der Durchsetzung des Anspruchs auf Herausgabe des Erbteils des Leistungsberechtigten.
Am 12.3.2015 erhoben die Antragstellerinnen Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.2.2015. Es sei höchstrichterlich geklärt, dass eine Ausschlagung in diesem Fall nicht sittenwidrig sei (vgl. BGH IV ZR 7/10, NJW 2011, 1586), so dass ein Fall der Negativevidenz vorliege, da der übergeleitete Anspruch offensichtlich nicht bestehe.
Am 30.3.2015 erhoben die Antragstellerinnen einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht München (SG). Die Überleitung des Anspruchs sei rechtswidrig, da ein Fall der Negativevidenz vorliege.
Mit Beschluss vom 26. Mai 2015 hat das SG den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs abgelehnt.
Zur Begründung hat das SG angeführt, der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sei gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG statthaft, denn nach § 93 Abs. 3 SGB XII habe ein Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt, der den Übergang eines Anspruchs bewirke, keine aufschiebende Wirkung (Fall des gesetzlich vorgeschriebenen Sofortvollzugs nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). Die Entscheidung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG stehe im Ermessen des Gerichts und erfolge auf Grundlage einer Interessenabwägung. Den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache komme eine wesentliche Bedeutung zu. Es sei dabei die Wertung des § 93 Abs. 3 SGB XII zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung der Individual- und öffentlichen In...