Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der Klage. Versäumung der Klagefrist. Wiedereinsetzung in die Klagefrist durch das Berufungsgericht. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB 10. Dreitagesfiktion. Geltung auch für Feiertage und Wochenende. Abgrenzung zur BFH-Rechtsprechung. Widerlegung. Postaufgabenvermerk
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB X gilt auch dann, wenn der dritte Tag ein Feiertag ist oder auf das Wochenende fällt. Die dem entgegen stehende Rechtsprechung des BFH verkennt den Wortlaut des Gesetzes und den Willen des Gesetzgebers.
2. Der Postaufgabevermerk muss nicht mit dem Namenskürzel des Mitarbeiters der Poststelle versehen sein, wenn sich der Tag der Aufgabe zur Post anderweitig, z.B. durch Darlegung des Ablaufs der Postversendung und der ergriffenen Maßnahmen durch die Behörde, nachweisen lässt.
3. Der Postaufgabevermerk muss von einem Mitarbeiter der Behörde angebracht werden, der auch zuverlässig das Datum der Überführung in den Verantwortungsbereich der Post dokumentieren kann. Dieser Mitarbeiter muss nicht zwingend Mitarbeiter der Poststelle gewesen sein.
4. Dass das Poststück nicht von der Post selbst, sondern von einem Subunternehmen der Post abgeholt wird, macht für die Anwendung des § 37 Abs 2 S 1 SGB X keinen Unterschied.
5. Für ein substantiiertes Bestreiten des sich aus der Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB X ergebenden Bekanntgabezeitpunkts reicht es nicht aus, nur die weitere/zusätzliche Möglichkeit eines Zugangs nach diesem Zeitraum aufzuzeigen.
6. Die Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 S 1 SGB X ist nur dann widerlegt, wenn ein Zugang für jeden einzelnen Tag der Dreitagesfrist durch substantiierte Angaben bestritten und erschüttert wird.
7. Der Eingangsstempel einer Rechtsanwaltskanzlei reicht für ein substantiiertes Bestreiten des sich aus der Zugangsfiktion ergebenden Zugangsdatums nicht aus; ein anwaltlicher Eingangsstempel hat eine förmliche Beweiskraft, anders als ein Eingangsstempel eines Gerichts oder einer Behörde, nicht.
8. Eigene Ermittlungen des Gerichts dahingehend, ob andere, noch nicht vorgetragene Umstände dazu verwendet werden könnten, die Dreitagesfiktion substantiiert zu bestreiten, verbieten sich. Die Vorschrift des § 37 Abs 2 S 1 SGB X verlangt ein Vorbringen des Adressaten, das nicht durch Ermittlungen des Gerichts von Amts wegen ersetzt werden kann.
9. Zur Wiedereinsetzung in die Klagefrist durch das Berufungsgericht.
Orientierungssatz
Mangels Regelungslücke kommt eine analoge Anwendung des § 26 Abs 3 S 1 SGB 10 bzw § 64 Abs 3 SGG nicht in Betracht.
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 19.03.2013 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begeht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls vom 10.02.2010 mit einer daraus resultierenden Lärmschwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen sowie dessen Entschädigung in Form von Verletztengeld, Heilbehandlung und Verletztenrente durch die Beklagte.
Der Kläger ist im Jahr 1966 geboren und war am 10.02.2010 (Mittwoch) als Fräser bis zur (fristlosen, hilfsweise ordentlichen) Arbeitgeberkündigung am 16.02.2010 bei der S GmbH tätig.
Am 12.02.2010 (Freitag) stellte sich der Kläger bei seinem Hausarzt vor und gab an, am vorhergehenden Donnerstag während der Arbeit auf Anordnung seines Chefs die Ohrschützer für etwa drei Stunden abgenommen zu haben; seither habe er insbesondere beim Fernsehen Ohrgeräusche rechts bemerkt. Am 16.02.2010 suchte der Kläger den HNO-Arzt H auf und gab diesem gegenüber an, dass er am 10.02.2010 um 10:00 Uhr Gewinde geschnitten und diese mit Druckluft ausgeblasen habe. Dabei habe sich - so der Kläger - ein sehr hohes und lautes Pfeifen entwickelt. Der Kläger habe angegeben, ohne Ohrstöpsel gearbeitet zu haben; 30 Minuten nach beendeter Arbeit habe er Ohrenschmerzen und später noch Ohrgeräusche bekommen. Der HNO-Arzt stellte bei normalem Hörvermögen bei der audiometrischen Untersuchung die Diagnose "Tinnitus aurium - Verdacht auf der rechten Seite nach Lärmeinwirkung". Am 01.03.2010 wurde vom Arbeitgeber des Klägers eine Unfallanzeige aufgenommen. Am 16.02.2010 sei - so in der Unfallanzeige - dem Arbeitgeber erstmals ein angeblicher Arbeitsunfall am 10.02.2010 durch den Kläger bekannt gegeben worden. Gegenüber Kollegen sei von Seiten des Klägers die Aussage erfolgt, aus der Fa. S möglichst viel herauszuholen. Der "Hörschaden" sei angeblich verursacht durch Pressluft. Der Kläger habe Zugang zu Gehörschutz gehabt und diesen während der Arbeitszeit auch ständig in Gebrauch gehabt. Nach Angaben von Kollegen an benachbarten Arbeitsplätzen seien keine Vorkommnisse bzw. Äußerungen bezüglich einer Verletzung aufgefallen.
Mit Bescheid vom 05.04.2012 lehnte die Beklagte nach ausführlichen Ermittlungen, bei denen auch die polize...