Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Eingang einer Berufung ohne qualifizierte elektronische Signatur im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach. Tragfähigkeit einer selbstständigen Tätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Geht eine nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehene Berufung im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eines Gerichts ein, ist der Kläger hierauf hinzuweisen.
Ist unter Berücksichtigung des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bei Gericht davon auszugehen, dass ein erteilter Hinweis dem Kläger die Möglichkeit eröffnet hätte, die Berufung formgerecht einzulegen, kommt die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch von Amts wegen in Betracht.
Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der selbständigen Tätigkeit kann im Rahmen der Gewährung von Leistungen zur Eingliederung von Selbständigen die Vorlage einer Tragfähigkeitsbescheinigung einer fachkundigen Stelle verlangt werden.
Normenkette
SGB II § 16c Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 3 Sätze 1-2, §§ 1, 3, 7 Abs. 1 S. 1, §§ 7a, 16 f.; GG Art. 2, 20 Abs. 3, Art. 34 Abs. 3; SGG §§ 16, 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 4, § 65a Abs. 3-4, 6, § 67 Abs. 1, 3, § 99 Abs. 3 Nr. 2, §§ 122, 151 Abs. 1, 3, § 202 S. 2; ZPO §§ 159-160, 165 S. 1; GVG §§ 12-13, 71 Abs. 2 Nr. 2, § 198
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg
vom 26.05.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zur Eingliederung von Selbstständigen.
Der 1964 geborene Kläger übt eine selbstständige Tätigkeit aus. Zum 02.11.1985 meldete er zum Gewerberegister ein Einzelunternehmen mit dem Zweck Propagandist, Handel mit Musikinstrumenten und Musikstunden an. Am 07.11.2016 erfolgte eine weitergehende Gewerbeanmeldung "Verlag/Plattenfirma", die nicht im Nebenerwerb betrieben werde. Seit dem 01.02.2016 bezieht der Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem SGB II vom Beklagten. Zuletzt wurden mit Bescheid vom 04.08.2020 vorläufige Leistungen für die Zeit von August 2020 bis Januar 2021 i.H.v. monatlich 809,69 € bewilligt.
Im Rahmen einer Erstberatung beim Beklagten am 17.03.2016 gab der Kläger als die drei Standbeine seiner Tätigkeit Musikunterricht, die Komposition und Produktion von Filmmusik sowie Unterhaltung bei Betriebsfeiern, Hochzeiten etc. an. Der Beklagte erklärte in einem Beratungsgespräch vom 21.09.2016, die Selbstständigkeit werde nur noch als Nebenerwerb anerkannt, da die Chancen der Umsatz- und Gewinnsteigerung noch immer nicht erkennbar seien. Am 23.11.2016 erläuterte der Kläger sein weiteres geschäftliches Vorhaben und beantragte eine "berufliche Förderung". Hierzu übersandte er einen Businessplan, wonach er die Produktion und den Vertrieb von Musikproduktionslizenzen für Radio- und vor allem Fernsehsender (Production Music) beabsichtige. Im Weiteren führte er aus, er sei bei der Geschäftsausstattung bereits mit 50.000,00 € und im Hinblick auf eine Geschäftsimmobilie mit 125.000,00 € - hier müsse noch ein Kredit abbezahlt werden - in Vorleistung getreten. Auch habe er bereits eine Webseite gestaltet. Aufgrund des derzeitigen Jahreseinkommens erhalte er von den Banken kein Geld. Ferner legte er eine Umsatz- und Rentabilitätsvorschau vor, wonach er im Gründungsjahr einen Gewinn vor Steuern i.H.v. 8.505,00 € und in den Folgejahren i.H.v. 11.015,00 € bzw. 13.465,00 € erwarte. Finanzielle Unterstützung würde insbesondere für die Markteinführung sowie zur Anschaffung verschiedener Software und von Zubehör benötigt. Der Kapitalbedarf für das erste Jahr betrage 10.045,00 €.
Im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung teilte Dr. R. unter dem 12.01.2017 mit, der Kläger könne 20 Stunden wöchentlich neben seiner derzeitigen selbstständigen Tätigkeit - unter Berücksichtigung verschiedener Einschränkungen - weitere Tätigkeiten ausüben. In Betracht kämen z.B. Tätigkeiten am Telefon, Bürotätigkeiten oder Fahrdienste. Der Kläger erklärte sich hiermit nicht einverstanden, da nicht alle Befunde berücksichtigt worden seien. Ihm sei es nicht möglich, eine abhängige Beschäftigung aufzunehmen.
In einem weiteren Beratungsgespräch am 22.02.2017 verwies der Beklagte darauf, dass vorrangig alternative Finanzierungsmöglichkeiten auszuschöpfen seien und auch Beratungsangebote für Selbstständige der IHK Nürnberg genutzt werden könnten.
Mit Bescheid vom 07.03.2017 lehnte der Beklagte sodann den Antrag auf Förderung ab. Aufgrund bisheriger Erlöse und zukünftig zu erwartender Umsätze sei die gegenständliche Tätigkeit lediglich als Nebenerwerb einzuschätzen. Die vorgelegten Unterlagen zeigten nicht, dass mit der geplanten Tätigkeit die Hilfebedürftigkeit in absehbarer Zeit überwunden werden könne. Die im letzten Jahr erzielten Einnahmen seien konstant niedrig und...