Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschluss der Anerkennung einer Krebserkrankung durch Nitrosamine als Wie-Berufskrankheit

 

Leitsatz (amtlich)

Kann der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse eine BK Reife nicht feststellen, kommt die Anerkennung einer Wie BK jedenfalls vor diesem Zeitpunkt nicht in Betracht.

 

Orientierungssatz

1. Die Tatbestandsmerkmale einer Wie-Berufskrankheit müssen im Vollbeweis vorliegen. Die erforderliche volle Überzeugung ist dann gegeben, wenn eine Wahrscheinlichkeit besteht, die nach der Lebenserfahrung praktisch einer Gewissheit gleichkommt.

2. Die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit darf nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der Berufskrankheiten erfüllt sind, der Verordnungsgeber sie also als neue Listen-BK in die BKV einfügen dürfte, aber noch nicht tätig geworden ist; vgl. BSG, Urteile vom 20. Juli 2010 - B 2 U 19/09 R und vom 04. Juni 2020 - B 2 U 20/01 R.

3. Anlässlich der verschiedenen Neufassungen zur BKV und der Tatsache, dass der Sachverständigenbeirat im Jahr 2004 eine BK-Reife der Krebserkrankungen durch Nitrosamine noch nicht festgestellt hat, besteht bislang keine Möglichkeit, eine Krebserkrankung durch Nitrosamine als Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs. 2; SGB VII § 9 Abs. 2

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.07.2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren im Überprüfungsverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Anerkennung einer Krebserkrankung des verstorbenen M. A. (im Folgenden: V.) als Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) nach § 551 Abs. 2 RVO (Reichsversicherungsordnung) sowie Hinterbliebenenleistungen.

Der 1959 geborene V. war von 1974 bis 1979 und wieder ab 1985 bis 1993 als Dreher und Schleifer bei der Firma K. B. AG beschäftigt und in dieser Tätigkeit bei der Beklagten versichert. Mit Schreiben vom 05.12.1993 (Eingang bei der Beklagten am 08.12.1993) beantragte der Kläger die bei ihm ca. acht Wochen zuvor festgestellte schwere Krebserkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen. Im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Kreiskrankenhaus L-Stadt im Oktober und November 1993 war ein metastasierendes Adenokarzinom des Colon ascendens mit Sigmaummauerung, Lebermetastasen, Dünndarmmetastasen und Peritonealkarzinose diagnostiziert worden. Am 20.12.1993 verstarb V. an den Folgen der Krankheit. Die Klägerin zu 1. ist die Witwe des V., die Kläger zu 2. (geb. 1983) und 3. (geb. 1988) sind die Söhne des V.

Am 14.02.1994 und am 22.03.1994 erfolgten Stellungnahmen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD, jetzt: Präventionsdienst) nach durchgeführter Arbeitsplatzanalyse. Es wurde u.a. festgestellt, dass V. während seiner Beschäftigung als Dreher an der Rundschleifmaschine eingesetzt war, bei der im Zeitraum 01.02.1987 bis 31.12.1987 der Kühlschmierstoff Frigilux 23 zur Verwendung kam. Dieser enthielt als für die Bildung von Nitrosamin relevante Inhaltsstoffe circa 18 % Natriumnitrit sowie ca. 1 % Diethanolamin als Verunreinigung. Es wurden eine Gewebeuntersuchung durch Dr. E. veranlasst, ein wissenschaftlich begründetes Zusammenhangsgutachten von Prof. Dr. R. vom 23.01.1995, ein wissenschaftlich-toxikologisches Gutachten von Dr. S. vom 15.05.1996 und ein arbeitsmedizinisches Fachgutachten von Professor Dr. N. vom 30.01.1997. Ferner wurde eine gewerbeärztliche Stellungnahme eingeholt.

Mit Bescheid vom 25.03.1997 (Widerspruchsbescheid vom 23.07.1997) stellte die Beklagte gegenüber den Klägern fest, dass bei V. zu Lebzeiten ein Dickdarmkarzinom bestanden habe, allerdings ein Anspruch auf Entschädigung wegen dieser Erkrankung nicht bestehe. Diese sei weder eine Berufskrankheit noch wie eine Berufskrankheit zu entschädigen. Es bestünde weder ein Anspruch der Klägerin zu 1. als Sonderrechtsnachfolgerin des V. auf die Gewährung einer Rente als Lebzeitanspruch noch der Kläger auf Hinterbliebenenleistungen.

Hiergegen erhoben die Kläger am 05.08.1997 Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) (Verfahren S 5 U 259/97). In dem Verfahren wurde ein toxikologisches Gutachten des Professors Dr. Dr. B. vom 19.10.1999 eingeholt sowie eine Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zum Erkenntnisstand des Verordnungsgebers der Berufskrankheiten-Verordnung über einen Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und einer beruflichen Exposition gegenüber Nitrosaminen. Des Weiteren wurde auf Antrag der Kläger ein wissenschaftlich-toxikologisches Gutachten des Prof. Dr. E. vom 25.10.2001 eingeholt. Mit Urteil vom 27.06.2002 wies das SG die Klage ab, da die Vorraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung des V. als Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO nicht vorlägen. Es sei nicht mit der entsprechenden vollen Überzeugung nachzuweisen g...

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