Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachteilsausgleich. Merkzeichen RF. Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen. Inkontinenz. Schmerzsyndrom
Leitsatz (amtlich)
1. Für den Anspruch auf Merkzeichen RF genügt es nicht, dass Behinderte nur an einzelnen öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen können. Sie müssen vielmehr wegen ihrer Leiden allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sein, was einer Bindung an das Haus/an die Wohnung gleich steht.
2. Es kommt nicht darauf an, ob sich Behinderte beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen gut und schmerzfrei fühlen.
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 4; RGebStV § 6 Abs. 1 Nrn. 7-8
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf den Nachteilsausgleich/ das Merkzeichen RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX).
Die 1962 geborene Klägerin leidet an einer angeborenen (und operierten) Fehlbildung des Rückenmarks und der Wirbelsäule (Meningomyelozele), außerdem an chronischen Leiden im Bereich des Bauches. Bis zum Alter von 14 Jahren saß sie im Rollstuhl, lernte dann aber Laufen, erst mit Krücken und dann auch ohne Krücken. In den letzten Jahren hat sich die Geh- und Standfähigkeit wieder verschlechtert. Es besteht eine operativ hergestellte künstliche Harnableitung über ein Conduit (Ileum-Conduit). Zwischenzeitlich war ein Kunstafter gelegt worden, der später zurückverlegt worden ist. Seit Mitte/ Ende der 1990er Jahre leidet sie an imperativem Stuhlabgang und Diarrhoen, seit Anfang der 2000er Jahre an einem zunehmenden Schmerzsyndrom.
Der Beklagte stellte nach versorgungsärztlicher Untersuchung der Klägerin mit Bescheid vom 21.08.1992 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B (Begleitperson bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel), G (erhebliche Gehbehinderung) sowie aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) fest und bezeichnete folgende Gesundheitsstörungen:
1. Meningomyelozele mit Bewegungseinschränkung beider Hüft-, Knie- und Sprunggelenke, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Gang- und Standunsicherheit (Einzel-GdB 80).
2. Künstliche Ableitung in den Darm nach außen (Einzel-GdB 50).
3. Wiederholte Nierenbeckenentzündung (Einzel-GdB 20).
4. Verwachsungsbeschwerden im Bauchbereich (Einzel-GdB 20).
Den erstmals am 28.08.2002 gestellten Antrag auf Merkzeichen RF begründete die Klägerin mit ihren finanziellen Verhältnissen. Sie sei im März 2002 geschieden worden und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Im Formblattantrag machte sie eine chronische Schmerzsymptomatik und imperative Diarrhöen geltend. Eine Teilnahme am öffentlichen Leben sei wegen plötzlich eintretender Durchfälle nicht möglich. Im vorgelegten "Befundbericht zum Antrag auf Rente" des Allgemeinmediziners C. vom 09.10.2002 ist u.a. erwähnt, dass es zu imperativen Diarrhöen, teilweise 10 bis 15 mal am Tag, komme und außerdem Leerungsprobleme und kolikartige Schmerzsymptomatiken im gesamten Bauch bei Bridenproblemen (Verwachsungen) bestünden. Der Beklagte lehnte den Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens RF mit Bescheid vom 23.01.2003 ab, weil nach Art und Ausmaß der Behinderung die geforderten gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Am 17.01.2007 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Merkzeichen RF und machte geltend, dass sich ihr allgemeiner Gesundheitszustand in den vergangenen drei bis vier Jahren verschlechtert habe. Es bestünden ganz erhöhte Schmerzsymptomatiken trotz ebenfalls erhöhter Morphintherapie, krampfartige, taube und stechende Missempfindungen beim Stützenlaufen und noch stärkere Diarrhöen. Ihr Wohlfühlfeld sei nur noch auf ihre Wohnung bezogen oder begrenzt auf Besuche bei der Freundin oder Familie. Der dem Antrag beigefügte Entlassungsbericht des Klinikums A. vom 17.02.2005 über eine zweiwöchige stationäre Behandlung der Klägerin im Klinikum A. - Neurologische Klinik und klinische Neurophysiologie - im Januar 2005 ist unvollständig; wesentliche Teile sind wegkopiert. Der Hausarzt C. berichtete nach Aufforderung im Befundbericht vom 02.04.2007, dass sich die Gesamtsituation deutlich verschlechtert habe. Die Patientin könne nicht mehr ohne Hilfsmittel laufen, Autofahren sei zeitweise nicht möglich. Die Patientin brauche zunehmend mehr Schmerzmittel. Psychosomatisch sei sie deutlich angeschlagen, da die beiden Kinder zunehmende Schulprobleme hätten und ihr gesundheitlicher Gesamtzustand auch deutlich schlechter werde.
Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 25.05.2007 ab. Die Zuerkennung des Merkzeichens RF setze voraus, dass auch mit Hilfe von Begleitpersonen und technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht möglich sei. ...