Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Anerkennung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit
Leitsatz (amtlich)
Zur Anerkennung einer BK 2108 bei Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen bei gleichzeitigem Fehlen eines Zusatzkriteriums im Sinne der Konstellation B2 der sog. Konsensempfehlungen (hier insbesondere fehlende besonders intensive Belastungen bei einem Betonbauer).
Orientierungssatz
1. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 10 6 Nh bei Männern herabzusetzen (BSG, 30. Oktober 2007, B 2 U 4/06 R).
2. Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle insbesondere der unteren Lendenwirbelsäule sind von multifaktorieller Ätiologie. Allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne des MDD kann die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhanges nicht begründen.
3. Die sog. Konsensempfehlungen stellen den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von Lendenwirbelsäulenerkrankungen durch körperliche berufliche Belastungen dar.
4. Bei der Konstellation "B 2" muss mindestens eines der folgenden Kriterien zusätzlich erfüllt sein, um einen Zusammenhang hinreichend wahrscheinlich zu machen: Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - bei monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 "black disc" im Magnetresonanztomogramm in mindestens 2 angrenzenden Segmenten oder besonders intensive Belastung (Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren) oder besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen (Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4 1/2 kN; Männer ab 6 kN)).
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 29.07.2010 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 18.03.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.11.2008 abgewiesen. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit sowie die Gewährung von Leistungen.
Der 1967 geborene Kläger absolvierte von Oktober 1984 bis Mai 1986 eine Ausbildung zum Betonbauer und arbeitete anschließend in diesem Beruf bis 31.05.2006 mit einer Unterbrechung durch den Wehrdienst (Juni 1989 bis August 1990).
Am 14.09.1999 wurde beim Kläger durch eine CT ein Bandscheibenprolaps L5/S1 festgestellt, der im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Klinikum A-Stadt vom 05.10.1999 bis 14.10.1999 operativ mittels mikroneurochirurgischer Sequesterentfernung und Bandscheibenfachausräumung im Segment L5/S1 und erweiterter intralaminärer Fensterung versorgt wurde. Am 04.09.2000 erfolgte eine Re-Nukleotomie L5/S1 mit Nervenwurzeldekompression S1. Im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Klinikum A-Stadt vom 10.06.2003 bis 19.06.2003 erfolgte sodann eine operative Revision mittels Re-Nukleotomie und Radikulodekompression bzw. Radikulyse mit erweiterter interlaminärer Fensterung am 13.06.2003.
Aufgrund einer Anzeige der AOK vom 08.08.2003 über den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 bis 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) leitete die Beklagte ein Feststellungsverfahren zur Prüfung der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV (BK 2108) ein und holte eine Stellungnahme des Chirurgen Dr. E. vom 21.01.2008 ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass ein wesentlicher Ursachenzusammenhang der Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers mit der beruflichen Hebe- und Tragebelastung nicht wahrscheinlich sei. Dies bestätigte der staatliche Gewerbearzt Dr. H..
Mit Bescheid vom 18.03.2008 (Widerspruchsbescheid vom 25.11.2008) lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung von Leistungen mit der Begründung ab, dass eine BK 2108 beim Kläger nicht vorliege.
Am 11.12.2008 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben. Das SG hat den Kläger am 13.08.2009 durch den Orthopäden Dr. W. gerichtsärztlich untersuchen lassen. In seinem Gutachten vom 20.08.2009 ist Dr. W. zu dem Ergebnis gekommen, dass eine bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers wesentlich durch die berufliche Hebe- und Tragebelastung verursacht worden und mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 50 v. H. zu bewerten sei.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 02.10.2009 unter Vorlage einer Stellungnahme des Chirurgen Dr. M. vom 28.09.2009 die Auffassu...