Leitsatz (amtlich)

1. Die Familienangehörigen eines Ausländers, der Arbeitnehmer, Selbständiger oder aufgrund des § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU freizügigkeitsberechtigt ist, sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsausschluss für die ersten drei Monate ausgenommen. Der Leistungsausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ist nämlich offensichtlich falsch formuliert und europarechtskonform wie folgt auszulegen:

Ausgenommen sind

1. Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt noch deren Familienangehörige sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,?

2. Nach dem so verstandenen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unterliegen im Erst-recht-Schluss die Familienangehörigen von deutschen Staatsangehörigen nicht dem Leistungsausschluss für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Durch diesen Erst-recht-Schluss zugunsten der Betroffenen wird beim Familiennachzug der ausländischen Angehörigen eines deutschen Staatsangehörigen ein Konflikt mit den grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 6 Abs. 1 und 4 GG sowie mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vermieden.

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 22.03.2011 insoweit aufgehoben, als der Beklagte verurteilt worden ist, der Klägerin für die Zeit vom 01.01.2009 bis 13.03.2009 Arbeitslosengeld II zu gewähren. Für diesen Zeitraum wird die Klage abgewiesen.

II. Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 22.03.2011 zurückgewiesen.

III. Der Beklagte hat der Klägerin ein Sechstel der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

IV. Für den Beklagten wird die Revision zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um den Anspruch einer ausländischen Frau auf Arbeitslosengeld II für die ersten drei Monate nach ihrem Zuzug aus dem Ausland zu ihrem deutschen Ehemann und ihrem deutschen Kind.

Die im Jahre 1983 geborene Klägerin (Kl.) und Berufungsbeklagte, eine kasachische Staatsangehörige, reiste Mitte Dezember 2008 in die Bundesrepublik Deutschland ein, während ihr im Jahre 1982 geborener Ehemann und die im Jahre 2006 geborene gemeinsame Tochter, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit haben, sich bereits seit Ende Juli 2008 in Deutschland aufhielten.

Mit Bescheid vom 25.08.2008 bewilligte der Beklagte (Bekl.) und Berufungskläger dem Ehemann und der Tochter der Kl. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 31.07. bis zum 31.12.2008. Dabei betrug die Höhe der für den Monat Dezember 2008 bewilligten Leistungen 978,37 €.

Am 28.11.2008 beantragte der Ehemann der Kl. die Weiterbewilligung von Leistungen ab dem 01.01.2009. In dem Antrag gab er als Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft seine Tochter sowie die Kl. an. Der Name der Kl. war mit dem Zusatz "ab 25.12.2008" versehen. Unter Nr. 3 des Fragebogens bezeichnete sich der Ehemann als alleinerziehend bis zum 25.12.2008.

Zu einem in den Akten des Bekl. nicht dokumentierten Zeitpunkt ging die von der Kl. mit Datum vom 16.12.2008 unterschriebene "Anlage WEP" beim Bekl. ein. Dieser Anlage lag eine Meldebescheinigung der Stadt A-Stadt vom 15.12.2008 bei, wonach sich die Kl. am 15.12.2008 unter der Adresse ihres Ehemannes und ihrer Tochter in A-Stadt angemeldet und als Einzugsdatum den 14.12.2008 angegeben hatte. Weiter ein für die Kl. ausgestelltes Visum für einen Aufenthalt in Deutschland im Zeitraum vom 10.12.2008 bis zum 09.03.2009 bei mit folgender Anmerkung: "Familienzusammenführung, Erwerbstätigkeit nicht gestattet, Aufenthaltsanzeige nach Einreise". Am 20.01.2009 wurde der Kl. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) wegen Familiennachzugs eines ausländischen Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge erteilt und gleichzeitig die Ausübung der Erwerbstätigkeit gestattet.

Mit Änderungsbescheid vom 18.12.2008 bewilligte der Bekl. dem Ehemann und der Tochter der Kl. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.12. bis zum 24.12.2008 in Höhe von 736,50 € und für die Zeit vom 25.12. bis zum 31.12.2008 in Höhe von 169,42 €. Der an den Ehemann gerichtete Bescheid wurde durch den Eingangssatz eingeleitet: "für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen werden Leistungen für die Zeit vom 01.12.2008 bis 31.12.2008 in folgender Höhe bewilligt:..." Weiter hieß es in dem Bescheid, folgende Änderungen seien eingetreten: "1. ... Ihre Ehefrau ... ist am 14.12.2008 nach Deutschland eingereist und bei Ihnen eingezogen. Ihre Ehefrau hat die kasachische Staatsbürgerschaft. Gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II haben Ausländer und deren Familienangehörige innerhalb von drei Monaten nach...

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