Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Beitragsrecht. Beitragszuschlagsverfahren gem § 162 SGB 7. pauschalisierte Beitragserhebung. weiter Gestaltungsspielraum des Unfallversicherungsträgers. Beitragssatzung: Kombination der vom Gesetzgeber für die Höhe der Beitragszuschläge als maßgeblich bestimmten Merkmale. gerichtliche Überprüfung. kein Verstoß gegen Grundrechte, Rückwirkungsverbot und Verhältnismäßigkeitsprinzip. Unternehmen zur entgeltlichen Arbeitnehmerüberlassung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Unfallversicherungsträger hat bei Ausgestaltung des Beitragsausgleichsverfahrens einen weiten Gestaltungsspielraum. Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung, ob Satzungsregelungen mit der Ermächtigungsnorm und sonstigem höherrangigen Recht übereinstimmen, ist vom Gericht nicht zu entscheiden, ob der Satzungsgeber die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Regelung getroffen hat.

2. Der Satzungsgeber kann die in § 162 Abs 1 S 4 SGB 7 genannten Merkmale (Zahl, Schwere oder Aufwendungen) alternativ oder in Kombination miteinander verwenden und legt in der Satzung den maßgeblichen Beobachtungszeitraum fest.

3. Das Beitragsausgleichsverfahren soll positive Anreize für verstärke Unfallverhütung der Unternehmer setzen, mit teilweise erheblichem Kostenaufwand betriebene Prävention honorieren und größere Beitragsgerechtigkeit im Rahmen des Umlageverfahrens ermöglichen. Im Interesse der Verwaltungspraktikabilität im Rahmen der Massenverwaltung, der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit darf der Satzungsgeber an typisierende, leicht und einfach zu bestimmende Merkmale anknüpfen. Zeitnahe Auswirkungen des Beitragsausgleichsverfahrens auf die Beiträge erhöhen den Präventionsanreiz.

4. Eine typisierende Dreiteilung der berücksichtigten Fallgruppen nach ihrem Schweregrad mit Unterscheidung von neuen Arbeitsunfällen, neuen Unfallrenten und Todesfällen im Beitragsjahr ist rechtlich ebenso wenig zu beanstanden wie die Einführung einer Mindestkostengrenze als weiteres typisierendes Merkmal zur Konkretisierung des Schweregrades der Fallgruppen, die keine Todesfälle betreffen. Die Mindestkostengrenze dient der Minimierung der mit pauschalierenden Regelungen unvermeidbar einhergehenden Härten und Ungerechtigkeiten.

5. Gewisse unvermeidbare Härten, die aus notwendigen Pauschalierungen oder der Begrenzung des Beobachtungszeitraums resultieren, sind mit Blick auf den weiten Gestaltungsspielraum des Satzungsgebers hinzunehmen, sofern der Gestaltungsspielraum sachgerecht genutzt wurde und die gefundene Lösung nicht willkürlich erscheint.

6. Durchgreifende rechtliche Bedenken gegen § 29 der Satzung der Verwaltungsberufsgenossenschaft für das Jahr 2012 in der Fassung vom 04.07.2013 für das Beitragsjahr 2012 bestehen nicht; insbesondere verstößt die Regelung nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot, die Grundsätze der Beitragsgerechtigkeit oder gegen das Gleichbehandlungsgebot (abweichend von LSG Stuttgart vom 26.1.2018 - L 8 U 1680/17).

 

Orientierungssatz

Selbst wenn ein Beitragszuschlag erheblich höher ist als die gezahlten Entschädigungsleistungen für die bei der Zuschlagsberechnung zu berücksichtigenden Versicherungsfälle, ist dies nach der Rechtsprechung des BSG kein Verstoß gegen das Übermaßverbot bzw gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl BSG vom 16.11.2005 - B 2 U 15/04 R).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 23.06.2020; Aktenzeichen B 2 U 10/18 R)

 

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 07.04.2015 wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

III. Die Revision wird zugelassen.

IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 43.352,76 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beitragszuschlag für das Beitragsjahr 2012 in Höhe von 43.352,76 Euro rechtmäßig erhoben worden ist.

Die Klägerin ist ein Mitgliedsunternehmen der Beklagten, tätig im Bereich Arbeitnehmerüberlassung und Personalvermittlung. Auf den Veranlagungsbescheid vom 03.11.2010 wird verwiesen.

Mit Beitragsbescheid vom 22.04.2013 forderte die Beklagte von der Klägerin einen Beitrag für 2012 in Höhe von 986.318,89 €. Davon betrug der Beitragsanteil ohne Anteil an der Rentenaltlast und ohne die Anteile am berufsgenossenschaftlichem Ausgleichsverfahren 867.055,26 €.

Mit Schreiben vom 17.07.2013 übersandte die Beklagte der Klägerin eine Liste von Arbeitsunfällen, die zu einem Beitragszuschlag führen könnten und gab Gelegenheit zur Stellungnahme bis 05.08.2013. Die Liste enthielt für den Versicherten S.F. 51 Belastungspunkte wegen Unfalls vom 08.02.2012 und wegen Rente sowie einen weiteren Belastungspunkt für den Versicherten A.E. wegen Unfalls am 17.07.2012. Hingewiesen wurde auf § 162 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i.V.m. § 29 der Satzung der VBG. Für das Beitragszuschlagsverfahren 2012 seien die im Beitragsjahr bekannt gewordenen Arbeitsunfälle mit Kosten von mehr als 10.000 € heranzuziehen. Darüber hinaus würden festgest...

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