Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeldanspruch bei letzter Beschäftigung in der BRD und Wohnsitz im EU-Ausland (Niederlande). Zuständiges Arbeitsamt. Wahlrecht. Abgrenzung echte – unechte Grenzgänger
Leitsatz (redaktionell)
1. § 129 Abs. 2 S. 1 AFG bestimmt eine Zuständigkeit des Arbeitsamts des ersten gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nur für Arbeitslose, die aus dem Ausland zuziehen, nicht aber für Arbeitslose, die weiterhin im Ausland wohnen oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt beibehalten.
2. Ein von diesem Wohnsitzprinzip i.S.v. § 30 Abs. 2 SGB I abweichendes Wahlrecht besteht nach Art. 71 Abs. 1b) ii) EWG-VO 1408/71 nur für den unechten Grenzgänger, es sei denn, dass der Arbeitslose zum früheren Beschäftigungsstaat persönliche und berufliche Bindungen solcher Art aufrecht erhält, dass er dort die besten Aussichten auf Wiedereingliederung hat.
3. Ein Arbeitsloser, der in den Niederlanden wohnt, aber zuletzt in Deutschland beschäftigt war und i.d.R. täglich pendelte, hat als echter Grenzgänger daher keinen Leistungsanspruch nach dem AFG, wenn seine Vermittlungschancen in der Bundesrepublik Deutschland nicht besser sind als in den Niederlanden.
Normenkette
AFG § 100 Abs. 1, § 129; EWG-VO Art. 1408/71 Abs. 1a
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.11.1993 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg).
Die 1940 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und seit 1976 in den Niederlanden, V., R.straat, wohnhaft. Seit 22.08.1977 ist sie als Musiklehrerin im Kreis K. beschäftigt. Mit Rentenbescheid vom 06.12.1993 wurde der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit mit einem Rentenbeginn am 07.02.1991 und einem Wegfall am 31.07.1996 zuerkannt. Die Klage auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente für den Zeitraum vom 07.02.1991 bis 31.07.1996 wies das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 15.01.1997 ab. Die hiergegen am 25.03.1998 eingelegte Berufung nahm die Klägerin am 03.02.2000 zurück.
Mit Schriftsatz vom 02.11.1992 beantragte die Klägerin die Gewährung von Leistungen durch die Beklagte. Eine persönliche Vorsprache sei ihr wegen ihrer Erkrankung seit 08.08.1990 nicht möglich. Sie habe ihre Tätigkeit ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt. Mit Bescheid vom 10.12.1992 lehnte die Beklagte den Antrag auf Bewilligung von Alg ab. Die Klägerin habe sich nicht persönlich arbeitslos gemäß § 105 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gemeldet. Den hiergegen von der Klägerin am 13.01.1993 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.01.1993 zurück. Die dagegen von der Klägerin am 15.02.1993 zum Sozialgericht Duisburg erhobene Klage wurde durch Beschluss vom 16.03.1993 an das Sozialgericht Nürnberg (SG) verwiesen. Die Klägerin hat geltend gemacht, dass sie als Grenzgängerin nach EG-Recht einen Anspruch auf Leistungen habe. Auch habe sie sich am 21.12.1992 persönlich bei der Beklagten arbeitslos gemeldet.
Mit Urteil vom 24.11.1993 hat das SG die Klage abgewiesen. Unstreitig habe sich die Klägerin nicht gemäß § 105 AFG persönlich beim zuständigen Arbeitsamt gemeldet. Der Umstand, dass die Klägerin wegen einer Arbeitsunfähigkeit sich nicht habe persönlich melden können, vermöge nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung zu führen. Vielmehr habe aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit ohnehin kein Anspruch auf Alg bestanden, da sie keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt habe ausüben können und dürfen und daher nicht für die Arbeitsvermittlung verfügbar gewesen sei.
Hiergegen richtet sich die beim Bayer. Landessozialgericht am 27.12.1993 eingegangene Berufung der Klägerin.
Die sachliche Zuständigkeit der Beklagten sei nach § 129 AFG begründet. Den Grundsätzen des Art 71 Abs 1 Buchst a EWG-VO 1408/71 folgend, wonach Grenzgänger im Falle von "Vollarbeitslosigkeit" Leistungen des Wohnortstaates erhielten, bedeute demnach zunächst eine originäre Zuständigkeit des holländischen, nicht des deutschen Arbeitsamtes. Von diesen Grundsätzen habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 12.06.1986 (EuGH, Entscheidung 1986, S 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr 8) eine Ausnahme dann zugelassen, wenn und soweit der Versicherte im Beschäftigungsstaat - hier in Deutschland - bessere Vermittlungschancen habe. Sie sei seit August 1977 bis zu ihrer Erkrankung im August 1990 als Musiklehrerin im Fach Violine an der Musikschule K. tätig gewesen. Sie sei examinierte Violinlehrerin mit einer abgeschlossenen Ausbildung (Konservatorium und Hochschule der Künste in B.), die sie zum Unterricht in Deutschland, nicht aber in den Niederlanden berechtige. Für eine Tätigkeit an einer Musikschule in den Niederlanden sei eine sog. "Onderwijsakte Muziek" erforderlich. Diese Qualifikation habe sie zu keinem Zeitpunkt erworben, so dass sie auch keinerlei Anstellungschancen auf dem holländischen Arbeitsmarkt besitze. Sie behe...