Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachleistungsaushilfe für Familienangehörige nach Art. 17 VO 883/2004
Leitsatz (amtlich)
Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der Verordnung (EG) 883/2004 verweist lediglich hinsichtlich der Frage, ob eine Person als Familienmitglied zu qualifizieren ist, auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates. Ob eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates als Familienmitglied anerkannt ist, darüber hinaus auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung im Wohnmitgliedstaat erfüllt, ist im Rahmen des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der Verordnung (EG) 883/2004 unbeachtlich.
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 28. April 2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger und Berufungsbeklagte begehrt von der beklagten Krankenkasse und Berufungsklägerin Sachleistungsaushilfe zu Lasten des Polnischen Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) über den 26.04.2017 hinaus.
Der 2014 geborene Kläger, der die polnische und deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, lebt mit seinen Eltern in Deutschland. Seine (polnische) Mutter ist Mitinhaberin einer in Polen ansässigen Kapitalgesellschaft mit einem Gesellschaftsanteil von 50 Prozent. Sie ist beim NFZ krankenversichert und erhält von der Beklagten im Wege der Sachleistungsaushilfe Sachleistungen im Auftrag der polnischen Krankenversicherung über die Bescheinigung E 106. Der Kläger war ab seiner Geburt über seine Mutter beim NFZ familienversichert und wurde ebenfalls von der Beklagten im Auftrag der polnischen Krankenkasse betreut. Sein Vater ist in Deutschland privat krankenversichert.
Mit Schreiben vom 02.03.2017 hörte die Beklagte die Mutter des Klägers zur Beendigung der Familienversicherung ihres Sohnes "wegen fehlender Mitwirkung" an. Die Mutter des Klägers teilte hierzu mit, dass sie als Miteigentümerin eines in Polen ansässigen und tätigen Unternehmens beim NFZ pflichtversichert sei und in Polen uneingeschränkt Anspruch auf eine Familienversicherung ihres Sohnes habe. Nachdem Deutschland nur ihr Wohnort sei, seien nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 die Regelungen des § 10 SGB V nicht anwendbar. Sie bitte um Bestätigung der Weiterführung der Familienversicherung im Rahmen des EU-Abkommens. Die Beklagte erläuterte daraufhin, dass im Rahmen der Überprüfung der Betreuung des Klägers die deutschen Rechtsvorschriften anzuwenden seien - dies sei in Bezug auf die Familienversicherung des Klägers die Vorschrift des § 10 SGB V. Die Sachleistungsaushilfe und die Prüfung der Familienversicherung richteten sich nach dem Recht des Wohnstaates.
Nachdem die Beklagte darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass der Vater des Klägers im Jahr 2016 ein Einkommen in Höhe von 79.745,78 Euro gehabt hatte, stellte sie mit streitigem Bescheid vom 27.04.2017 fest, dass die Familienversicherung für den Kläger mit dem 26.04.2017 beendet sei. Ein Kind könne nicht kostenfrei familienversichert werden, wenn der mit den Kindern verwandte Ehegatte nicht Mitglied einer Krankenkasse sei, sein Gesamteinkommen im Monat regelmäßig über 1/12 der Jahresarbeitsentgeltgrenze liege und dieses regelmäßig das Gesamteinkommen des gesetzlich krankenversicherten Ehegatten übersteige.
Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2018 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kreis der anspruchsberechtigten Familienangehörigen sich nach dem Recht des Wohnstaates richte. Dies ergebe sich aus Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004. Folglich sei die deutsche Regelung über den Ausschluss der Familienversicherung gemäß § 10 Abs. 3 SGB V anzuwenden.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben. Sein Prozessbevollmächtigter hat geltend gemacht, dass § 10 Abs. 3 SGB V nicht anwendbar sei, weil insoweit die Regelungen der VO (EG) 883/2004 entgegenstünden. Die Frage, ob der Kläger über seine Mutter familienversichert sei, bestimme sich nach polnischen Rechtsvorschriften. Nach polnischen Recht seien die Kinder grundsätzlich im Rahmen der Familienversicherung über die Eltern mitversichert, unabhängig von deren Einkommen oder anderen Faktoren. Zudem wurde auf eine Stellungnahme des NFZ vom 30.09.2019 verwiesen.
Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf ein Merkblatt des GKV-Spitzenverbandes für Grenzgänger vorgetragen, dass sich der Kreis der anspruchsberechtigten Familienangehörigen und der Leistungsumfang gemäß den Regelungen der VO 883/2004 nach dem Recht des Wohnstaates richte. Somit habe der Träger des Wohnortstaates - im vorliegenden Fall Deutschland - zu prüfen, wer nach seinen Rechtsvorschriften familienversichert werden könne. Maßgeblich seien insoweit die deutschen krankenversicherungsrechtlichen Vorschriften.
Soweit die Auffassung vertreten werde, dass Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der VO 883/2004 nur den Begriff "Familienangehöriger" selbst nach dem R...