Leitsatz (amtlich)
1. Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht - vor der Rückrechnung - zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann.
2. Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen.
Normenkette
StGB § 316
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Entscheidung vom 27.02.2023; Aktenzeichen 10 NBs 708 Js 107732/22) |
Tenor
- Dem Angeklagten wird nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 27. Februar 2023 auf seinen Antrag und auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
- Der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30. Mai 2023, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil als unzulässig verworfen wurde, ist gegenstandslos.
- Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth mit den Feststellungen aufgehoben.
- Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht ist - in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Urteil - in der Berufungsinstanz zu dem Ergebnis gekommen, dass sich der Angeklagte einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr strafbar gemacht hätte. Es hat die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 16. November 2022 mit der Maßgabe einer Verkürzung der Sperrfrist als unbegründet verworfen. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist - nach Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist - zulässig und begründet.
I.
Dem Angeklagten ist auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung seiner fristgerecht eingelegten Revision zu gewähren. Er hat binnen der in § 45 Abs. 1 StPO genannten Frist dargetan und glaubhaft gemacht, dass ihn an der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist kein Verschulden trifft. Damit ist der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30. Mai 2023, mit dem die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen wurde, gegenstandslos.
II.
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) kann nicht bestehen bleiben. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei zur Tatzeit infolge vorangegangenen Alkoholgenusses, welcher zu einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,8 Promille geführt hätte, absolut fahruntüchtig gewesen, ist mit den Feststellungen im Urteil nicht in Einklang zu bringen. Die unzureichenden Angaben in den Urteilsgründen lassen entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft auch keine Korrekturberechnung zu.
1. Die Strafkammer ist von einer Tatzeit gegen 22.55 Uhr, zwei Blutentnahmen am Folgetag um 1.58 Uhr und 2.28 Uhr und von Blutalkoholkonzentrationswerten von 2,03 Promille (erste Probe) und 1,94 Promille (zweite Probe) ausgegangen. Sie hat zugunsten des Angeklagten unterstellt, er hätte nach der gegen 22.55 Uhr beendeten Fahrt "möglicherweise noch zwei Flaschen Bier" getrunken. Ohne weitere Feststellungen zum Gebinde, zum Alkoholgehalt, zum Trinkbeginn, zum Trinkende, zum Beginn und zum Ende des Nachtrunks sowie zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten hat die Strafkammer das Resümee gezogen, dieser Nachtrunk habe zu einer Erhöhung der Blutalkoholkonzentration von 0,65 Promille führen können. Da zwischen der Fahrt und der ersten Blutentnahme jedoch ein Zeitraum von drei Stunden liegen würde und der Angeklagte halbstündlich "0,9" Promille (gemeint ist wohl 0,09 Promille) abgebaut habe, ergäbe sich eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille.
2. Diese Ausführungen sind, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist, nicht frei von Rechtsfehlern.
a) Anders als bei der Frage der Schuldfähigkeit ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit zugunsten des Täters die zur Tatzeit geringstmögliche Blutalkoholkonzentration zu berechnen (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 316 Rn. 16).
aa) Eine Rück- oder Hochrechnung vom Blutproben-Mittelwert auf die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit grundsätzlich möglich, jedoch unter Berücksichtigung rechtsmedizinischer Erkenntnisse nur für die Zeit der im Anschluss an den Zeitpunkt der vollständigen Resorption beginnenden Abbauphase (st. Rspr., vgl. bereits BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 - 4 StR 130/73 -, BGHSt 25, 246-252; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 - 2St RR 212/94 -, juris Rn. 17). Will der Tatrichter rückrechnen, muss das Ende der Resorptionszeit (und somit das Trinke...