Entscheidungsstichwort (Thema)
Fahrverbot. Fahrverbotsprivilegierung. Geschwindigkeitsüberschreitung. Arzt. Notarzt. Einsatzbereitschaft. Notaufnahme. Krankenhaus. Klinik. Rufbereitschaft. Wochenende. Urlaub. Vollstreckungserleichterung. Pflichtenverstoß. grob. Regelfall. Sachrüge. Ausnahme. Übermaßverbot. Berufsausübung. Mobilität. Wohnung. Arbeitsplatz. Arbeitsplatznähe. Bewertungsspielraum. Ermessen. Abwägung. Vorbewertung. Sanktionspraxis. Tatgericht. Rechtsbeschwerdegericht. Gleichbehandlung. existenziell
Leitsatz (amtlich)
1. Allein die mit nächtlicher Rufbereitschaft an Wochenenden und im Urlaub verbundene leitende ärztliche Funktion in der zentralen Notaufnahme eines Klinikums mit Schwerpunktversorgung rechtfertigt ein Absehen von einem bußgeldrechtlichen Regelfahrverbot oder sonstige Fahrverbotsprivilegierungen als im "überwiegenden öffentlichen Interesse" liegend auch dann nicht, wenn der oder die Betroffene daneben im Notarztdienst engagiert und zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft und zur beruflichen Pflichtenerfüllung auf eine private Kraftfahrzeugnutzung angewiesen ist.
2. Wird ein Absehen von einem an sich verwirkten Fahrverbot mit der Angewiesenheit auf die Kraftfahrzeugnutzung zur Erreichung des Arbeitsplatzes begründet, müssen sich die Urteilsgründe auch dazu verhalten, warum der oder die Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, vorübergehend eine angemessene Unterkunft in Arbeitsplatznähe anzumieten (Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 18.03.2009 - 3 Ss OWi 196/09 = DAR 2009, 401 = VerkMitt 2009, Nr 63 = OLGSt StVG § 25 Nr 46 ).
Normenkette
StVG § 25 Abs. 1 S. 1, Abs. 2a S. 1; StVO § 3 Abs. 3 Nr. 2; BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, Abs. 4; BKat Anhang Tabelle 1c Nr. 11.3.6; OWiG § 46 Abs. 1, § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 1, § 34a
Tenor
I.
Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts vom 1. Oktober 2020 dahin abgeändert, dass die Geldbuße auf 320 Euro festgesetzt und dem Betroffenen für die Dauer eines Monats verboten wird, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen.
Das Fahrverbot wird erst wirksam, wenn der Führerschein in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten seit Rechtskraft dieses Beschlusses.
II.
Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens einschließlich seiner notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
Mit Urteil vom 01.10.2020 hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen, einen als stellvertretender Leiter der zentralen Notaufnahme eines Klinikums tätigen Arzt, wegen einer am 02.03.2020 als Führer eines Pkw fahrlässig begangenen Überschreitung der innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 33 km/h eine gegenüber lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat in der zur Tatzeit gültigen - für innerörtliche Verstöße durch die am 28.04.2020 in Kraft getretene Neufassung vom 20.04.2020 (BGBl. 2020 I, 814) nicht geänderten - Fassung eine über § 4 Abs. 4 BKatV verdreifachte Geldbuße von 480 Euro festgesetzt. Von der Anordnung eines im Bußgeldbescheid vom 18.03.2020 neben einer dort festgesetzten Geldbuße in Höhe vom 320 Euro vorgesehenen einmonatigen Fahrverbots hat es abgesehen. Mit ihrer gegen dieses Urteil zu Ungunsten des Betroffenen eingelegten und von der Generalstaatsanwaltschaft vertretenen, ausweislich der Rechtsmittelrechtfertigung vom 04.11.2020 auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde beanstandet die Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge, dass das Amtsgericht von der Anordnung eines Fahrverbots wegen eines groben Pflichtenverstoßes abgesehen hat. Die Stellungnahme des Verteidigers des Betroffenen vom 12.01.2021 zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 11.12.2020 lag dem Senat vor.
II.
Das gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige, wegen der wirksamen Beschränkung der Rechtsbeschwerde allein noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Rechtsmittel führt auf die Sachrüge hin zu den aus Ziffer I. des Beschlusstenors ersichtlichen Abänderungen des angefochtenen Urteils erster Instanz, weil die Begründung, mit der das Amtsgericht von der Anordnung eines Fahrverbots abgesehen hat, einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält.
1. Zwar hat das Amtsgericht nicht verkannt, dass wegen der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 33 km/h gemäß §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.] StVG, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat an sich die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in der Regel in Betracht kam. Jedoch zeigen die Feststellungen und Erwägungen des Amtsgerichts weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht Besonderheiten derart auf, die ausnahmsweise das Absehen von einem Fahrverbot rechtfertigen könnten.
a) Aus § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV folgt nicht, dass in den dort genannten Fällen ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhäng...