Leitsatz (amtlich)
›1. Überschreitet ein Arzt die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts auf einer gut ausgebauten Straße um 36 km/h, um möglichst rasch seine Praxis zu erreichen, wo ihn ein nach einer Bandscheibenoperation unter akuten Rückenschmerzen und Kreislaufstörungen leidender Patient erwartet, so ist der Verkehrsverstoß nicht als Notstandshandlung gerechtfertigt.
2. In einem solchen Fall kann aber eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers zu verneinen und von der Anordnung eines Fahrverbots abzusehen sein.‹
Tatbestand
Der Betroffene ist Arzt für Allgemeinmedizin; er hat 20 Jahre lang Notarzteinsätze gefahren.
Am 10.11.1998 wurde er vor Praxisbeginn (9.00 Uhr) von seiner Helferin zuhause angerufen, der Patient H., den er im Rahmen der Nachbehandlung nach einer Bandscheibenoperation betreute, sei "mit akuten Rückenschmerzen und auch schon Kreislaufproblemen, nämlich Sehstörungen wegen der Schmerzen, in der Praxis eingetroffen". Der Betroffene fuhr deshalb (unrasiert) sofort los und wählte den Weg über die Kreisstraße SR 4 und nicht durch den Ortskern von B. Innerhalb der geschlossenen Ortschaft überschritt er bewußt die zulässige Höchstgeschwindigkeit und fuhr um 8.27 Uhr bei Kilometer 16,3 mit einer Geschwindigkeit von mindestens 86 km/h.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 36 km/h zur Geldbuße von 200 DM verurteilt; ferner hat es ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet.
Das Amtsgericht hat die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 16 OWiG) verneint, ist jedoch zugunsten des Betroffenen davon ausgegangen, daß er sich über den Rechtfertigungstatbestand geirrt habe; er sei offensichtlich der Auffassung gewesen, daß er "nach wie vor Notarztrechte hat", so daß eine fahrlässige Tatbestandsverwirklichung vorliege.
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er das Verfahren beanstandete und die Verletzung sachlichen Rechts rügte, hatte teilweise Erfolg.
Entscheidungsgründe
1. Eine den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG genügende Verfahrensrüge wurde nicht erhoben.
2. Die Nachprüfung des Schuldspruchs aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben. Das Amtsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 16 OWiG) verneint.
a) Die Verletzung von Verkehrsvorschriften, z.B. die Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit, kann durch Notstand gerechtfertigt sein, wenn nur so die erforderliche schnelle Hilfe für einen Schwerkranken geleistet werden kann (vgl. KG VRS 53, 60 m.w.N.). Dies wurde in der Rechtsprechung z. B. angenommen bei einem Taxifahrer, der seinem Fahrgast glaubt, daß er sofortiger ärztlicher Hilfe bedarf (vgl. BayObLG bei Rüth DAR 1973, 197/212; kritisch KK/Rengier OWiG § 16 Rn. 72), oder der eine schwangere Frau, bei der die Wehen einsetzen, ins Krankenhaus fährt (vgl. OLG Düsseldorf VRS 88, 454 = NZV 1996, 122), ferner bei der Fahrt in ein entfernt gelegenes Krankenhaus, um dort die Behandlung der Ehefrau wegen einer gefährlichen Überdehnung der Harnblase durch den Arzt des Vertrauens zu ermöglichen (vgl. OLG Schleswig VRS 30, 462), oder wenn der Arzt in eine Belegklinik zu einer Patientin gerufen wird, bei der nach einer Entbindung unerwartet schwere Blutungen einsetzen, die die Notwendigkeit einer unverzüglichen Notoperation als möglich erscheinen lassen (vgl. BayObLGSt 1990, 105), nicht aber dann, wenn der Arzt einen Patienten aufsucht, der einen Herzanfall erlitten und ihn telefonisch um seinen sofortigen Besuch gebeten hatte (vgl. KG aaO), oder wenn die Ehefrau wegen akuter Herzbeschwerden zum Arzt gefahren wird (vgl. OLG Düsseldorf VRS 92, 383 = NZV 1997, 186).
Bei der Prüfung der Frage, ob bei Abwägung der widerstreitenden Interessen die Einhaltung der Verkehrsvorschriften gegenüber der dringenden Behandlungsbedürftigkeit eines akut erkrankten Patienten zurückzustehen hat, kommt es auf die (konkreten) Umstände des Einzelfalles an (vgl. BayObLGSt aaO; OLG Düsseldorf VRS 30, 444/446; VRS 88, 454/455). Ob die gegenwärtige Gefahr eines Schadenseintritts besteht, ist nicht nach dem subjektiven Standpunkt des - möglicherweise irrenden - Täters (vgl. OLG Köln VRS 88, 370/372), sondern vom Standpunkt eines nachträglichen Beobachters, dem die im kritischen Augenblick wesentlichen Umstände bekannt sind, objektiv zu beurteilen (vgl. Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 34 Rn. 3).
b) Auf der Grundlage der vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen waren bei dem Patienten H. akute Rückenschmerzen und dadurch hervorgerufene Kreislaufprobleme (Sehstörungen) zu behandeln. Welche Behandlungsmaßnahmen der Betroffene in der Praxis ergriffen hat - was Rückschlüsse auf die Schwere der abzuwendenden Gefahr zuließe -, ist den maßgeblichen Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Hierzu hat sich der Betroffene auch nicht in der Rechtsbeschwerde ge...