Leitsatz (amtlich)
1. Bringt der allein personenberechtigte Vater, der wegen eines Tötungsdelikts in Untersuchungshaft genommen wird, sein minderjähriges Kind in der Familie seines Bruders unter und erteilt er diesem eine Vollmacht, für das Kind zu sorgen, so kann allein daraus noch nicht der Wille des Vaters entnommen werden, den (abgeleiteten) Wohnsitz des Kindes am (fortbestehenden) Wohnsitz des Vaters aufzuheben, wenn das Kind nur zwei Wochen in der Familie des Bruders verbleibt.
2. Auch für einen Minderjährigen kann ein Wohnsitz an mehreren Orten bestehen.
3. Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über das Ruhen der elterlichen Sorge bei doppeltem Wohnsitz eines minderjährigen Kindes.
Normenkette
BGB §§ 7-8, 11; FGG §§ 5, 36, 43
Verfahrensgang
AG Cham (Aktenzeichen 8 VII 33/96) |
AG Pirna (Aktenzeichen III AR 330/96) |
Tenor
Zuständig ist das Amtsgericht Cham.
Tatbestand
I.
Der Beteiligte zu 1, der seinen Wohnsitz im Bezirk des Amtsgerichts C. hat, ist der eheliche Vater des im Jahr 1993 geborenen Kindes. Er befindet sich derzeit in Untersuchungshaft, weil er seine von ihm getrennt lebende Ehefrau, die Mutter des Kindes, so schwer verletzt haben soll, daß sie verstorben ist. Am 30.3.1996 wurde das Kind zu den Eltern des Vaters gebracht und anschließend in der Familie eines Bruders des Vaters in P. untergebracht. Am 2.4.1996 unterzeichnete der Vater eine Erklärung, in der er diesem Bruder das „momentane Sorgerecht” für das Kind übertrug und ihn ermächtigte, das Kind in Pflege zu nehmen. Da sich bei der Betreuung des Kindes Schwierigkeiten ergaben, wurde es am 16.4.1996 durch das für P. zuständige Jugendamt in Obhut genommen und vorläufig in einem Kinderheim in P. untergebracht.
Mit Schreiben vom 22.4.1996 an das Amtsgericht C. hat das Kreisjugendamt beantragt, eine Entscheidung über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes (Ruhen der elterlichen Sorge) herbeizuführen. Mit Verfügung vom 25.4.1996 hat sich das angegangene Gericht für unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht P. abgegeben. Dieses hat die Übernahme abgelehnt. Das Amtsgericht C. hat die Akten daraufhin dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
Entscheidungsgründe
II.
1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen, da der Bundesgerichtshof gemeinschaftliches oberes Gericht für die am Streit beteiligten Gerichte ist und das zuerst mit der Sache befaßte Gericht in Bayern liegt (§ 5 Abs. 1 Satz 1, § 199 Abs. 1 und 2 Satz 1 FGG, Art. 11 Abs. 3 Nr. 1 AGGVG; vgl. BayObLGZ 1989, 39/40).
2. Die Voraussetzungen für die Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 5 FGG sind gegeben. Jedes der beiden Amtsgerichte, von denen eines das zuständige Gericht ist, erachtet nicht sich, sondern das andere Gericht für örtlich zuständig (vgl. BayObLGZ 1984, 289/290). Es genügt, daß sich die Rechtspfleger der beteiligten Gerichte nicht über die örtliche Zuständigkeit haben einigen können (vgl. BayObLGZ 1992, 123/125). Denn die Sachen, für die die örtliche Zuständigkeit geklärt werden soll, fallen in die Zuständigkeit des Rechtspflegers. Dies gilt sowohl für die Entscheidung über das Ruhen der elterlichen Sorge gemäß § 1674 BGB (§ 3 Nr. 2 Buchst. a, § 14 Abs. 1 RPflG; vgl. Palandt/Diederichsen BGB 55. Aufl. § 1674 Rn. 5) wie auch für die sonstigen Maßnahmen, die neben oder unmittelbar im Anschluß an diese Entscheidung in Betracht kommen (zur Bestellung eines Ergänzungspflegers, § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB, vgl. Palandt/Diederichsen § 1909 Rn. 11; für die Anordnung einer Vormundschaft sowie die Auswahl und Bestellung des Vormunds, §§ 1774, 1789 BGB, vgl. Palandt/Diederichsen § 1774 Rn. 3, § 1779 Rn. 6, § 1789 Rn. 1).
3. Als örtlich zuständiges Gericht wird das Amtsgericht C. bestimmt.
a) Im Zeitpunkt der Befassung des Amtsgerichts C. mit den genannten Verrichtungen hatte das Kind einen Wohnsitz im Bezirk des Amtsgerichts C., so daß dieses örtlich zuständig ist (vgl. für die Entscheidung über das Ruhen der elterlichen Sorge § 43 Abs. 1 i.V.m. § 36 Abs. 1 Satz 1 FGG; für die Entscheidung über eine evtl. Ergänzungspflegschaft § 37 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 Satz 1 FGG).
aa) Ein minderjähriges Kind teilt den Wohnsitz der Eltern, denen die Personensorge zusteht (sogenannter abgeleiteter Wohnsitz gemäß § 11 Satz 1 BGB). Bei getrennt lebenden Eltern bedeutet dies, daß das Kind einen Doppelwohnsitz hat (BGHZ 48, 228; BayObLGZ 1973, 331). Durch den Tod eines Elternteils ändert sich hieran nichts. Das Kind behält auch den von dem verstorbenen Elternteil abgeleiteten Wohnsitz bei, bis dieser rechtswirksam gemäß § 11 Satz 3, § 7 Abs. 3, § 8 Abs. 1 BGB aufgehoben wird (BayObLG a.a.O.). Nach diesen Grundsätzen teilte das Kind im Zeitpunkt der Inhaftierung seines Vaters und des Todes seiner Mutter deren jeweiligen Wohnsitz, die beide im Bezirk des Amtsgerichts C. gelegen sind.
bb) Den Akten ist nicht zu entnehmen, daß der Vater den von seinem eigenen Wohnsit...