Leitsatz (amtlich)
1. § 114 Abs. 2 S. 3 StVollzG steht der Rechtsbeschwerde nicht entgegen, wenn die Strafvollstreckungskammer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung umgedeutet und ausdrücklich eine Entscheidung über einen "Antrag nach § 109 Abs. 1 StVollzG", also eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat.
2. Verbescheidet die Strafvollstreckungskammer nicht den Antrag des Strafgefangenen auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung, sondern lehnt stattdessen einen vom Strafgefangenen nicht gestellten Antrag in der Hauptsache ab, stellt dies wegen der Unterschiedlichkeit der Streitgegenstände einen Verstoß gegen den Verfügungsgrundsatz dar.
3. Das Recht des Strafgefangenen auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht eine für ein Hauptsacheverfahren unangemessen kurze Stellungnahmefrist setzt, ein Fristverlängerungsgesuch nicht beachtet, eine von der Verfahrensbevollmächtigten verlässlich unter Mitteilung der Hinderungsgründe angekündigte Stellungnahme ohne sachlich veranlassten Grund nicht abwartet und einen noch rechtzeitig vor Erlass eines Beschlusses bei Gericht eingegangenen Sachvortrag des Antragstellers in den Gründen der Entscheidung nicht mehr berücksichtigt.
4. Begehrt ein suchtkranker Strafgefangener eine Behandlung in Form der Substitution, muss diese medizinisch angezeigt sein. Es bedarf von Seiten der Anstalt einer individuellen Abwägung dahingehend, welche Therapie im konkreten Fall am besten geeignet ist.
5. Begehrt der Gefangene eine dauerhafte Substitution, darf die Anstalt neben medizinischen und betäubungsmittelrechtlichen Aspekten auch vollzugliche Ziele in die Entscheidung mit einbeziehen.
6. Soll eine bei der Inhaftierung bereits laufende Substitutionsbehandlung beendet werden, hat die Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen, dass ein Behandlungsabbruch in der Regel mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial für die Gesundheit des Patienten verbunden ist.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; StVollzG §§ 114, 109, 115 Abs. 1; BayStVollzG Art. 60, 58
Verfahrensgang
AG Nördlingen (Entscheidung vom 17.10.2023; Aktenzeichen 1b NÖ StVK 189/23 Vollz) |
AG Nördlingen (Entscheidung vom 24.11.2023; Aktenzeichen NÖ StVK 189/23 Vollz) |
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen werden die Beschlüsse der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Nördlingen vom 17. Oktober 2023 und vom 24. November 2023 aufgehoben.
2. Die Sache wird zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.
3. Der Antrag auf Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten im Wege der Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.
4. Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 1000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Nördlingen vom 17. Oktober 2023. Mit Schreiben seiner Verfahrensbevollmächtigten, einer Hochschullehrerin für Recht an der Fachhochschule D., vom 12. September 2023 hat der Strafgefangene bei der Strafvollstreckungskammer unter Hinweis auf die Eilbedürftigkeit den "Antrag nach § 114 Abs. 2 S. 2 StVollzG" gestellt, die Justizvollzugsanstalt Kaisheim (JVA) zu verpflichten, den Antragsteller umgehend mit einer adäquaten Dosis Polamidon oder Buprenorphin zu substituieren in Entsprechung der Dosis, die er außerhalb des Vollzugs erhalten habe. Der Antragsteller, der betäubungsmittelabhängig sei und an diversen Erkrankungen leide, sei vor der Inhaftierung annähernd 17 Jahre lang mit den benannten Medikamenten substituiert worden. Nunmehr sei vom medizinischen Dienst der JVA gegen den Willen des Strafgefangenen entschieden worden, die Substitutionsbehandlung auszuschleichen. Dies habe gravierende gesundheitliche Folgen für den Antragsteller. Nachdem die Verfahrensbevollmächtigte bei der JVA - bislang - erfolglos den Antrag gestellt hätte, die Substitutionsbehandlung umgehend wieder aufzunehmen, sei Eilrechtsschutz geboten.
Die Strafvollstreckungskammer hat das Verfahren als Antrag nach § 114 StVollzG geführt, der Justizvollzugsanstalt zum Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eine Stellungnahmefrist von 5 Tagen gewährt, der Verfahrensbevollmächtigten eine Stellungnahmefrist von drei Tagen zugestanden, und auf den Antrag der Bevollmächtigten auf Fristverlängerung bis zum 13. Oktober 2023 eine Wiedervorlage des Verfahrens zum 16. Oktober 2023 verfügt. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2023 hat die Strafvollstreckungskammer den "Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 12.09.2023" kostenpflichtig zurückgewiesen. Der Eilantrag nach § 114 Abs. 2 S. 2 StVollzG sei als Antrag nach § 109 Abs. 1 StVollzG "auszulegen". Die Erwägungen der Justizvollzugsanstalt für den Abbruch der Maßnahme halte das Gericht für zutreffend, ...