Leitsatz
1. Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290/EG des Rates vom 30.3.2004 zur Ermächtigung Deutschlands zur Anwendung einer von Artikel 21 der 6. EG-RL zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern abweichenden Regelung ist dahin auszulegen, dass der Begriff der "Bauleistungen" in dieser Bestimmung neben den als Dienstleistungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der 6. EG-RL vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2004/7/EG des Rates vom 20.1.2004 geänderten Fassung eingestuften Umsätzen auch die Umsätze umfasst, die in der Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie bestehen.
2. Die Entscheidung 2004/290 ist dahin auszulegen, dass die Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist, die ihr mit dieser Entscheidung erteilte Ermächtigung nur teilweise für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben. Bei der Bildung dieser Untergruppen hat dieser Mitgliedstaat den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit, zu beachten. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu überprüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, und gegebenenfalls die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die nachteiligen Folgen einer gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder der Rechtssicherheit verstoßenden Anwendung der in Rede stehenden Vorschriften auszugleichen.
Normenkette
6. EG-RL Art. 5 Abs. 5, Art. 27 Abs. 1, Art. 2 Nr. 1 Entscheidung 2004/290/EG, § 13b, § 3 Abs. 4 UStG
Sachverhalt
Eine Wohn- und Gewerbebau GmbH erhielt für erhaltene Bauleistungen eine Rechnung, in der auf ihre Steuerschuld hingewiesen worden war. Sie machte erfolglos geltend, § 13b UStG – insbesonders die 10 %-Regelung der Finanzverwaltung – sei mit der Ermächtigung nicht vereinbar.
Entscheidung
Die wesentlichen Grundsätze ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen: Ob die 10 %-Regelung der Verwaltung Bestand hat, ist zweifelhaft; ob sich dies im Streitfall zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkt, ist auch fraglich.
Hinweis
Die Entscheidung ergeht zur EuGH-Vorlage des BFH vom 30.6.2011, V R 37/10 (BFH/NV 2011, 1633) zur Vereinbarkeit von § 13b UStG mit der Entscheidung des Rates 2004/290/EG vom 30.3.2004.
1. Nach Art. 2 Nr. 1 der Entscheidung 2004/290 kann der Empfänger der Gegenstände oder Dienstleistungen als Mehrwertsteuerschuldner bestimmt werden "in folgenden Fällen": "bei der Erbringung von Bauleistungen an einen Steuerpflichtigen". Der in der 6. EG-RL in Art. 5 Abs. 5 verwendete Begriff "Bauleistungen" ("Als Lieferungen … können die Mitgliedstaaten die Erbringung bestimmter Bauleistungen betrachten") sei nicht definiert und umfasse auch Lieferungen.
2. Nicht überraschend ist, dass ein Mitgliedstaat von einer Ermächtigung zu einer Abweichung von der allgemein geltenden Regelung – hier "für Bauleistungen" – bei Beachtung des Neutralitätsgrundsatzes diese auch nur auf konkrete und spezifische Bereiche beschränken darf, wenn diese den Rahmen der Ermächtigung nicht überschreiten. Insoweit gelten dieselben Grundsätze wie für die – für die Mitgliedstaaten fakultativen – Ausnahmen von einer Richtlinienbestimmung (z.B. in Bezug auf die fakultative Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes). Zulässig war daher die Umsetzung der Ermächtigung nur beschränkt auf solche Leistungsempfänger, die selbst Unternehmer "im Bausektor i.S.d. 6. EG-RL" sind.
3. Die Finanzverwaltung geht davon aus, der Leistungsempfänger sei bei Vorliegen einer Bauleistung nur dann Steuerschuldner, wenn er nicht nur selbst Bauleistungen erbringt, sondern zumindest 10 % seines "Weltumsatzes" im Vorjahr aus derartigen Bauleistungen besteht (Abschn. 13b.1 UStAE). Hierzu ist zu beachten, dass das Gebot der Rechtssicherheit "in besonderem Maße gilt, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann; denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen".
4. Hierzu führt der EuGH aus, aus der Anwendung dieser – grundsätzlich den Leistungsempfänger nicht finanziell belastenden Regelung (hier: Einbehaltung und Abführung der vom Leistenden geschuldeten Steuer im Zusammenhang mit einer entsprechenden Rechnung) – durch die nationalen Behörden könne sich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ergeben, wenn es diese Anwendung den betreffenden Steuerpflichtigen, zumindest vorübergehend, nicht erlaubt, den Umfang ihrer Verpflichtungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer genau zu erkennen.
5. Ob es sich im vorliegenden Fall so verhält, hat das nationale Gericht zu prüfen "und ggf. die Maßnah...