Leitsatz (amtlich)
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung i. S. des § 114 FGO ist in der Regel gegen die Behörde zu richten, von der die Maßnahmen oder Unterlassungen zu erwarten sind, die für begrenzte Zeit verhindert werden sollen.
Normenkette
FGO §§ 114, 63 Abs. 1
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), eine GmbH, schuldet aus den rechtskräftigen Körperschaftsteuer- und Lohnsteuerhaftungsbescheiden vom 3. Oktober 1972 bzw. 25. Januar 1973 Steuerbeträge von insgesamt 105 001,83 DM sowie Säumniszuschläge von 11 094 DM.
Anträge auf Erlaß der Steuerbeträge sowie auf Stundung bis zur Entscheidung über den Erlaßantrag wurden von dem FA G abgelehnt. Die Beschwerden wurden von der OFD als unbegründet zurückgewiesen. Gegen die Beschwerdeentscheidungen hat die Antragstellerin Klagen erhoben, über die das FG bisher nicht entschieden hat.
Die Antragstellerin hat beim FG beantragt, dem nach Verlegung des Sitzes der GmbH jetzt örtlich zuständigen Antragsgegner und Beschwerdegegner, dem FA S, durch einstweilige Anordnung die Vornahme von Vollstrekkungsmaßnahmen bis zur Entscheidung über die Verfahren wegen Erlaß und Stundung zu untersagen.
Das FG hat den Antrag als unbegründet abgewiesen. Es führte u. a. aus: Das FA sei sowohl für die Stundung als auch für den Erlaß der richtige Antragsgegner und Beklagte. Zwar könne das FA den Erlaß nicht selbst aussprechen, da diese Befugnis der OFD zustehe. Es sei jedoch für die Ablehnung des Erlasses zuständig. Eine entsprechende Verfügung des FA sei ergangen und mit der Klage angegriffen. Klage und Aussetzungsantrag müßten sich deshalb gegen das FA richten.
Mit der Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, begehrt die Antragstellerin weiterhin, die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Es trägt vor: Es sei zweifelhaft, ob das FA der richtige Antragsgegner sei. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung sei der der richtige Antragsgegner, gegen den sich das zu sichernde Recht richte. Das sei im Streitfall die OFD.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das FG hat zu Recht das FA S als richtigen Antragsgegner angesehen, da dieses von der Antragstellerin die Zahlung der Steuerschulden fordert und Vollstreckungsmaßnahmen beabsichtigt.
Die einstweilige Anordnung nach § 114 FGO ist ein selbständiges Verfahren neben einem finanzgerichtlichen Klageverfahren und hat das Ziel, dem Antragsteller, der in einem gegenwärtigen oder künftigen Finanzrechtsstreit der Kläger ist oder sein wird, bis zur Entscheidung in der Hauptsache unter bestimmten Voraussetzungen vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 114 FGO Anm. 2, 17 - 19). Diesen Zusammenhang mit dem Hauptverfahren bringt das Gesetz dadurch zum Ausdruck, daß eine Anordnung "auch schon vor Klageerhebung" getroffen werden kann (Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift) und daß für den Erlaß der Anordnung ausschließlich "das Gericht der Hauptsache" zuständig ist (Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift).
§ 114 FGO besagt ausdrücklich nichts darüber, gegen wen der Antrag auf einstweilige Anordnung zu richten ist. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist jedoch zu entnehmen, daß der richtige Antragsgegner regelmäßig nur die Finanzbehörde sein kann, die vor Abschluß des Verfahrens in der Hauptsache eine Veränderung des bestehenden Zustandes (Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift) herbeiführen oder Folgerungen aus einem streitigen Rechtsverhältnis (Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift) ziehen will, da solche Maßnahmen die behaupteten Rechte des Antragstellers gefährden können. Die Zuständigkeit dieser Behörde ergibt sich auch aus der entsprechenden Anwendung des § 63 Abs. 1 FGO, da sie die Behörde ist, die durch erlassene oder befürchtete "ursprüngliche" Verwaltungsakte oder durch unterlassene, befürchtete oder abgelehnte andere Leistungen erstmals Rechtspositionen des Antragstellers i. S. des § 114 Abs. 1 FGO während des Hauptverfahrens geschmälert hat oder schmälern könnte.
Der Antragsgegner wird regelmäßig auch Beklagter im Hauptprozeß sein. Wie der Streitfall zeigt, muß dies jedoch nicht immer so sein. Will insbesondere ein nicht im Hauptverfahren beklagtes FA während des Hauptverfahrens Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Kläger ergreifen, so würde einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen eine im Hauptverfahren beklagte Behörde das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Ein solcher, gegen das nicht vollstreckende FA gerichteter Antrag würde u. U. ins Leere gehen, da gerichtliche Anordnungen nach § 114 FGO das vollstreckende FA in entsprechender Anwendung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO dann nicht binden, wenn beide Behörden nicht derselben öffentlichrechtlichen Körperschaft angehören (vgl. zur materiellen Rechtskraft von Beschlüssen nach § 114 FGO Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 114 FGO Anm. 16 Abs. 3; siehe im übrigen auch Beschluß des BFH vom 14. September 1967 V S 9/67, BFHE 89, 332, BStBl III 1967, 615).
Diese Grundsätze gelten auch, wenn in der Hauptsache streitig ist, ob unanfechtbar festgesetzte Steuern zu erlassen sind. In solchen Fällen kann durch eine einstweilige Anordnung nach § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO der Finanzbehörde die Einziehung der Steuerbeträge bis zum Abschluß des Erlaßverfahrens untersagt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 14. Juli 1971 II B 2/71, BFHE 102, 238, BStBl II 1971, 633, und vom 22. September 1971 I B 26/71, BFHE 103, 390, BStBl II 1972, 83). Wenn der Erlaßantrag bei dem für den Steuerpflichtigen örtlich zuständigen FA gestellt und von diesem im Rahmen der ihm nach § 131 Abs. 3 Satz 1 AO allgemein erteilten Zuständigkeit (vgl. Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 1969, BStBl I 1969, 103, Teil B unter 4.) durch förmlichen Bescheid abgelehnt wurde, muß sich die Klage in der Hauptsache gegen dieses FA richten, auch wenn es den beantragten Erlaß nicht selbst hätte aussprechen können, sondern dafür wegen der Höhe der zu erlassenden Beträge die OFD oder das Finanzministerium zuständig wäre (vgl. BFH-Urteile vom 27. Oktober 1966 V 86/65, BFHE 87, 206, BStBl III 1967, 98, und vom 12. Dezember 1969 III R 1/66, BFHE 98, 383, BStBl II 1970, 445). Wesentlich ist, daß durch den Bescheid des FA der behauptete Erlaßanspruch verneint worden ist und diese Entscheidung ohne Einleitung eines Rechtsbehelfsverfahrens bestandskräftig werden würde. Wurde gegen den Bescheid Beschwerde eingelegt oder Klage erhoben, so kommt in bezug auf dieses bereits eingeleitete oder künftige Prozeßverhältnis die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch einstweilige Anordnung in Betracht. Antragsgegner im Anordnungsverfahren ist in der Regel das im Hauptverfahren beklagte FA, da es aufgrund seiner örtlichen Zuständigkeit die ausstehenden Steuerbeträge einzuziehen hat.
Im Streitfall hat nach Ablehnung des Erlaßantrags durch das FA G die Antragstellerin den Sitz ihres Unternehmens in den Bereich des FA S verlegt. Der dadurch bedingte Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der FÄ (§§ 73 bis 75 AO) hat auf das Klageverfahren keinen Einfluß. In diesem Verfahren bleibt das FA G, das den angefochtenen Bescheid erlassen hat, der Beklagte (§ 63 Abs. 1 FGO; vgl. BFH-Urteil vom 18. März 1971 V R 101/67, BFHE 102, 23, BStBl II 1971, 518). Für das Anordnungsverfahren, das nach Übergang der örtlichen Zuständigkeit wegen der von dem FA S eingeleiteten Einziehung der Steuern in Gang gesetzt wurde, ist jedoch zu beachten, daß das FA S nach § 75 AO den Steuerfall von dem im Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit gegebenen Stand an weiterbearbeiten muß und insbesondere die Beitreibung der ausstehenden Steuern durchzuführen hat, während dem FA G diese Verwaltungsbefugnisse in bezug auf die Antragstellerin nicht mehr zustehen (vgl. v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 75 AO Anm. 2). Deshalb würde eine gerichtliche Anordnung, die dem im Klageverfahren beteiligten FA G die Einziehung der Steuern untersagt, ins Leere gehen. Ein solcher Antrag müßte mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen werden. Da der Wechsel der Zuständigkeit nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes führen darf, hat die Antragstellerin ihren Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO zu Recht gegen das FA S gerichtet. Dieses FA ist auch in der Lage, den Standpunkt der Finanzverwaltung im summarischen Anordnungsverfahren sachgerecht darzulegen, obwohl es im Hauptverfahren nicht beteiligt ist, da das FA G zu einer entsprechenden Amtshilfe gegenüber dem FA S verpflichtet ist.
Der Beschluß des I. Senats des BFH vom 10. Oktober 1973 I B 56/73 (BFHE 110, 392, BStBl II 1974, 34) steht der Auffassung des Senats nicht entgegen. Der I. Senat hat zwar ausgesprochen, daß eine einstweilige Anordnung gegenüber der Finanzbehörde beantragt werden müsse, die den Erlaß aussprechen solle. Der Entscheidung lag jedoch ein wesentlich anderer Sachverhalt als im Streitfall zugrunde. Dort war im Verfahren der Hauptsache die für die Gewährung des Erlasses zuständige OFD die Beklagte, da der Kläger bei ihr den Erlaß beantragt und sie den Antrag abgelehnt hatte. Wie der I. Senat im Beschluß I B 56/73 hervorhob, mußte in diesem Fall beantragt werden, der OFD aufzuerlegen, kraft ihres dienstlichen Weisungsrechts das ihr untergeordnete FA zu der begehrten Unterlassung der Beitreibung anzuhalten. Bei diesem Sachverhalt bestand kein zwingender Anlaß, das im Hauptverfahren nicht beteiligte FA in das Anordnungsverfahren einzubeziehen.
Der Senat weicht auch nicht von den Entscheidungen des III. Senats des BFH vom 16. Februar 1968 III B 7/67 (BFHE 92, 28, BStBl II 1968, 443) und vom 13. September 1968 III B 84/67 (BFHE 93, 508, BStBl II 1969, 38) ab, in denen ausgesprochen wurde, daß die Verfahrensbeteiligung im Nebenverfahren (Anordnungsverfahren nach § 114 FGO und Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO) sich nach der Beteiligung im Hauptsacheverfahren richtet, da es sich hier ebenfalls um erheblich andere Sachverhalte handelt. In der Sache III B 7/67 hatte der Antragsteller gegen das für ihn zuständige FA Klage erhoben und einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt. Nach Rechtshängigkeit ging die örtliche Zuständigkeit durch Verwaltungsanordnung auf ein anderes FA über. Der III. Senat gelangte zu dem Ergebnis, daß die Passivlegitimation des zuvor zuständigen FA weder für das Klage- noch für das Aussetzungsverfahren durch die Zuständigkeitsänderung berührt werde. Im Streitfall ist jedoch, wie dargelegt, der Antrag auf einstweilige Anordnung erst nach Änderung der Zuständigkeit gestellt worden. Im Verfahren III B 84/67 wurde ein FA M, das nach Übergang der Zuständigkeit vom FA N auf das FA M in ein Klageverfahren als Beklagter durch Klageänderung eingetreten war, als der richtige Antragsgegner für einen nach Wechsel der Zuständigkeit gestellten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung angesehen. Das FA M wäre auch nach der obigen Ansicht des beschließenden Senats der richtige Antragsgegner gewesen.
Fundstellen
Haufe-Index 72033 |
BStBl II 1977, 161 |
BFHE 1977, 452 |