Entscheidungsstichwort (Thema)
(Grenzgänger i.S. des DBA-Schweiz)
Leitsatz (amtlich)
Ein Arbeitnehmer ist auch dann Grenzgänger i.S. des Art.15 Abs.4 DBA-Schweiz (Fassung vor Inkrafttreten des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992, BGBl II 1993, 1886, BStBl I 1993, 927), wenn er zwar nicht an sämtlichen Arbeitstagen des Kalenderjahres, wohl aber regelmäßig arbeitstäglich vom Arbeitsort über die Grenze an den Wohnort zurückkehrt.
Orientierungssatz
Grenzgänger sind Personen, die zwar mit ihrer Tätigkeit in die Arbeitswelt des Tätigkeitsstaates integriert sind, aber in den Lebenskreis des Wohnsitzstaates wie dort tätige Arbeitnehmer eingegliedert bleiben. Zum Begriff des Grenzgängers i.S. des DBA-Schweiz gehört, daß der Arbeitnehmer in der Regel arbeitstäglich die Grenze in beiden Richtungen überquert; ist dies an 30 bis 45 Arbeitstagen in einem Kalenderjahr nicht der Fall, geht die Grenzgängereigenschaft jedenfalls noch nicht verloren. Diese Definition betrifft Veranlagungszeiträume vor der erstmaligen Anwendung des Änderungsprotokolls vom 12.12.1992.
Normenkette
DBA CHE 1971 Art. 15 Abs. 4
Tatbestand
I. 1. Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Eheleute und wohnten im Streitjahr 1991 in Konstanz. Seit dem 1. November 1991 war der Antragsteller bei einem Unternehmen in T, Kanton Schaffhausen, beschäftigt. Er fuhr arbeitstäglich von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte und zurück. Vom 4. bis 6. November 1991 befand er sich auf einer Dienstreise in Bern und am 19./20. Dezember 1991 auf einer Dienstreise in St. Gallen.
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) unterwarf die aus der Tätigkeit in der Schweiz erzielten Einkünfte der deutschen Einkommensteuer. Die Antragsteller legten gegen den entsprechenden Einkommensteuerbescheid 1991 vom 20. November 1992 Einspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.
2. Die Antragsteller stellten zunächst beim FA Antrag auf Aussetzung der Vollziehung. Das FA lehnte den Antrag am 7. Januar 1993 ab. Nach erfolglosem Beschwerdeverfahren beantragten die Antragsteller am 29. März 1993 beim Finanzgericht (FG) Aussetzung der Vollziehung. Das FG lehnte den Antrag mit dem angefochtenen Beschluß ebenfalls ab. An der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheides bestünden keine ernstlichen Zweifel, da der Begriff des "Grenzgängers" nur ein regelmäßiges oder ganz überwiegendes tägliches Pendeln zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erfordere.
3. Das FG ließ die Beschwerde gegen seinen Beschluß zu. Die Antragsteller tragen zur Begründung ihrer Beschwerde vor, der von der Steuerverwaltung angewandten 45-Tage-Regelung fehle eine Rechtsgrundlage.
Die Antragstelle beantragen,
den Beschluß des FG vom 19. August 1993 aufzuheben und
die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 1991 bis zur
rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache in Höhe
von 3 171 DM (Einkommensteuer), 114,90 DM (ev. Kirchen-
steuer) und 160,69 DM (Solidaritätszuschlag) auszusetzen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und war zurückzuweisen.
1. Nach § 69 Abs.3 Satz 1 i.V.m. Abs.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines Steuerbescheids aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Das FG war im Streitfall Gericht der Hauptsache, da es für die Entscheidung über die noch nicht erhobene Klage zuständig wäre (vgl. § 69 Abs.3 Satz 2 FGO).
2. Das FG hat den Aussetzungsantrag zu Recht abgelehnt. Die im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung gebotene summarische Prüfung ergibt keine ernstlichen Zweifel an der inländischen Steuerpflicht der Arbeitseinkünfte des Antragstellers.
a) Nach der im Streitjahr geltenden Fassung des Art.15 Abs.4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA-Schweiz) können die Einkünfte von "Grenzgängern" aus ihrer im Tätigkeitsstaat ausgeübten nichtselbständigen Arbeit nur im Staat der Ansässigkeit besteuert werden. Der Begriff des Grenzgängers ist im Abkommen nicht definiert. Nach Art.15 Abs.4 Satz 2 DBA-Schweiz sollte über die Einzelheiten der Anwendung dieser Bestimmung eine Verständigungsregelung getroffen werden. Eine derartige Vereinbarung ist im Verhandlungsprotokoll vom 18. Juni 1971 (BStBl I 1975, 504) enthalten. Danach werden als Grenzgänger die in einem Vertragsstaat in der Nähe der Grenze arbeitenden Personen angesehen, die sich morgens über die Grenze zu ihrer Arbeitsstätte begeben und am gleichen Tage an ihren Wohnsitz zurückkehren. Für leitende Angestellte enthält das Protokoll eine Sonderregelung, wonach sie auch dann als Grenzgänger anzusehen sind, wenn die Voraussetzungen arbeitstäglicher Rückkehr für nicht mehr als einem Drittel der Arbeitstage des Betriebs nicht erfüllt sind.
Seit Inkrafttreten des Verhandlungsprotokolls vom 21. Dezember 1992 ist der Begriff des Grenzgängers im neu eingefügten Art.15a Abs.2 DBA-Schweiz legal definiert. Nach dieser --im Streitfall noch nicht anwendbaren-- Vorschrift erfordert die Grenzgängereigenschaft nur eine "regelmäßige" Rückkehr an den Wohnsitz. Kehrt der Arbeitnehmer an bis zu 60 Arbeitstagen im Kalenderjahr aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurück, so bleibt seine Grenzgängereigenschaft erhalten.
b) Für Veranlagungszeiträume vor der erstmaligen Anwendung des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992 muß der Begriff des "Grenzgängers" mangels abkommenseigener Definition nach Sinn und Zweck der Vorschrift ausgelegt werden.
Grenzgänger sind Personen, die zwar mit ihrer Tätigkeit in die Arbeitswelt des Tätigkeitsstaates integriert sind, aber in den Lebenskreis des Wohnsitzstaates wie dort tätige Arbeitnehmer eingegliedert bleiben (vgl. Korn/Debatin, Doppelbesteuerung, DBA-Schweiz, S.614). Ein Pendeln an jedem vertraglich vereinbarten Arbeitstag kann schon deshalb nicht Voraussetzung der Grenzgängereigenschaft sein, weil dann Erkrankungen des Arbeitnehmers ohne weiteres zum Verlust der Grenzgängereigenschaft führen würden. Durch Krankheitstage wird jedoch die Eingliederung des Arbeitnehmers in die Arbeitsorganisation des Tätigkeitsstaates und in die Lebenswelt des Wohnsitzstaates nicht beeinträchtigt. Gleiches gilt, wenn der Arbeitnehmer beispielsweise von seinem Arbeitgeber zu einer Fortbildungsveranstaltung entsandt wird und er sich dadurch während der Dauer der Veranstaltung nicht täglich zur Arbeitsstätte begeben kann. Auch in diesem Fall ändert sich nichts an der jeweiligen Eingliederung beiderseits der Grenze. Zum Begriff des Grenzgängers gehört lediglich, daß der Arbeitnehmer in der Regel arbeitstäglich die Grenze in beiden Richtungen überquert (ebenso Flick/Wassermeyer/Wingert/Kempermann, DBA Deutschland-Schweiz, Art.15 Rz.70 ff.; Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen, 2.Aufl., Art.15 Rz.86; Zabel, Deutsches Steuerrecht --DStR- 1989, 476). Auch das Schweizerische Bundesgericht legt die Vorschrift in diesem Sinne aus, wenn es fordert, daß der Grenzgänger grundsätzlich ("en principe") zweimal täglich die Grenze überschreiten müsse (Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 19. Juni 1984, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht --ASA-- Bd.55, 1986/87 S. 585).
Auch wenn der Begriff des Grenzgängers bei sinnvoller Auslegung nicht ausnahmslos tägliche Grenzüberschreitung in beiden Richtungen erfordert, bedarf er doch der Abgrenzung gegenüber Arbeitnehmern, die nur gelegentlich grenzüberschreitend von der Wohnung zu einer ausländischen Arbeitsstätte pendeln. Es ist nicht zu verkennen, daß die grundsätzlich tägliche Rückkehr ein dem Begriff des "Grenzgängers" immanentes Merkmal ist. Wenn sich der Arbeitnehmer, wie in dem vom Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 1. März 1963 VI 119/61 U (BFHE 76, 580, BStBl III 1963, 212) entschiedenen Fall, an mehr als 130 Tagen außerhalb der Grenzzone auf Reisen befindet, erfüllt er nicht mehr die Begriffsmerkmale eines Grenzgängers.
Im Streitfall bedarf es keiner Entscheidung, wieviele tägliche Grenzüberschreitungen mindestens im Kalenderjahr erforderlich sind, um dem Arbeitnehmer die Eigenschaft als Grenzgänger zu erhalten. Jedenfalls überschreiten die beiden Dienstreisen des Antragstellers mit einer Gesamtdauer von fünf Tagen in den Monaten November und Dezember 1991 nicht die unschädliche Abwesenheitsdauer. Auf ein Kalenderjahr umgerechnet ergeben die beiden Dienstreisen eine Gesamtzeit von ca. 30 Tagen, an denen der Antragsteller das Grunderfordernis einer täglich zweimaligen Grenzüberschreitung nicht erfüllte. Diese Abweichung vom Grunderfordernis täglicher Rückkehr beeinträchtigt jedenfalls seine Grenzgängereigenschaft nicht. Auch die nach den Feststellungen des FG von den Steuerverwaltungen beider Vertragsstaaten angewendete 45-Tage-Regelung (ohne Berücksichtigung von Krankheits- und Urlaubstagen) dürfte sich noch im Rahmen einer zulässigen Auslegung des gesetzlichen Begriffs halten.
3. Mit dieser Auffassung weicht der Senat weder vom Verhandlungsprotokoll vom 18. Juni 1971 noch vom BFH-Urteil in BFHE 76, 580, BStBl III 1963, 212 ab. Wenn im Protokoll und im BFH-Urteil in BFHE 76, 580, BStBl III 1963, 212 gefordert wird, daß Grenzgänger sich morgens über die Grenze zu ihrer Arbeitsstätte begeben und am gleichen Tage an ihren Wohnsitz zurückkehren müssen, so ist damit die Grundvoraussetzung des Grenzgängerbegriffs zutreffend umschrieben. Aus der Definition ist aber nicht zu entnehmen, daß diese Voraussetzung an sämtlichen möglichen Arbeitstagen erfüllt sein muß.
Fundstellen
Haufe-Index 65388 |
BFH/NV 1994, 62 |
BStBl II 1994, 696 |
BFHE 174, 338 |
BFHE 1995, 338 |
BB 1994, 1491 |
BB 1994, 1491 (L) |
DB 1994, 1759 (L) |
DStZ 1994, 749-750 (KT) |
HFR 1994, 583-584 (KT) |
StE 1994, 434 (K) |