Leitsatz (amtlich)
Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 FGO in Verbindung mit § 940 ZPO ist, daß ein schlüssig vorgetragener Rechtsanspruch des Antragstellers durch eine möglicherweise bevorstehende Maßnahme des Antragsgegners gefährdet erscheint. Dagegen ist im Verfahren über die einstweilige Anordnung nicht zu prüfen, ob der vom Antragsteller behauptete Rechtsanspruch tatsächlich besteht; die Klärung dieser Frage bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Normenkette
FGO § 114; ZPO § 940; AO § 22
Tatbestand
Der Beschwerdegegner (das FA) hatte gegen den Beschwerdeführer (Steuerpflichtiger) auf Grund einer Steuerfahndungsprüfung Einkommensteuer-, Gewerbesteuerund Körperschaftsteuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 1958 bis 1961 erlassen. Durch Haftungsbescheid vom 8. Januar 1969 forderte er von Fräulein F., einer Angestellten des Steuerpflichtigen, die dessen Bücher geführt hatte, 37 154,75 DM. Bei diesem Betrag handelte es sich um die auf den Betrieb des Steuerpflichtigen entfallende Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer ab 1963. Fräulein F. legte gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein.
Zwischen dem Steuerpflichtigen und dem FA besteht Streit darüber, ob und inwieweit das FA berechtigt ist, Fräulein F. Einsicht in die Steuerakten des Steuerpflichtigen zu gewähren, damit diese in die Lage versetzt wird, ihre Rechte gegenüber dem FA in Ansehung des Haftungsbescheids sachgerecht wahrzunehmen.
Nachdem der Steuerpflichtige ihre Bitte, das FA von der Verpflichtung zur Wahrung des Steuergeheimnisses zu entbinden, abgelehnt hatte, wandte sich Fräulein F. unmittelbar an das FA. Dieses teilte ihrem Prozeßbevollmächtigten unter dem 26. April 1969 schriftlich mit, er könne die Berechnungsbogen der Steuerakten des Steuerpflichtigen für die Veranlagungszeiträume 1963 bis 1966 sowie den Prüfungsbericht vom 7. Mai 1968 einsehen. Hiergegen wandte sich der Steuerpflichtige mit einem beim FG gestellten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, dem FA zu untersagen, seine Steuerakte oder teilweise Auszüge daraus sowie den Bericht der Steuerfahndungsstelle dem Fräulein F. bzw. deren Bevollmächtigten zur Einsichtnahme vorzulegen oder sonstwie zugänglich zu machen.
Das FG, dessen Beschluß in EFG 1969, 562 veröffentlicht ist, wies diesen Antrag ab. Es begründete seine Entscheidung damit, daß keine der in § 114 Abs. 1 FGO genannten Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung vorlägen. Insbesondere gewähre § 22 AO dem Steuerpflichtigen kein Recht, der Einsichtnahme in seine Steuerakten durch Fräulein F. entgegenzutreten, denn es erfolge insoweit keine unbefugte Offenbarung steuerlicher Verhältnisse. Haften bedeute Einstehen für fremde Schuld. Der Haftungsschuldner könne daher nur in dem Umfange in Anspruch genommen werden, in welchem das Bestehen der Steuerschuld ihm gegenüber verbindlich festgestellt werde. Das wiederum setze voraus, daß der Haftungsschuldner alle Einwendungen erheben könne, die gegen das Bestehen der eigentlichen Steuerschuld vorzubringen seien. Das aber erfordere regelmäßig die Einsichtnahme in die Steuerakten des Steuerpflichtigen. Aus der Haftungsregelung der AO sei deshalb zu entnehmen, daß die Offenbarung steuerlicher Verhältnisse gegenüber den als Haftungsschuldnern in Anspruch Genommenen insoweit nicht unbefugt ist, als es zur Wahrnehmung der Rechte dieser Haftungsschuldner erforderlich erscheint.
Mit der Beschwerde gegen diesen Beschluß des FG macht der Steuerpflichtige geltend, seine vom FA behauptete Steuerschuld sei noch nicht rechtswirksam festgestellt worden. Das Gestatten der Einsichtnahme in die Steuerakten zum jetzigen Zeitpunkt stelle einen unzulässigen Eingriff in ein laufendes Verfahren dar; auch sei zu berücksichtigen, daß sich aus der Steuerakte auch Angaben entnehmen ließen, die mit einer eventuellen Haftungsschuld des Fräulein F. überhaupt nichts zu tun hätten. Durch die Einsichtnahme in die Steuerakten würde Fräulein F. einen Gesamteinblick in die finanziellen und steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen erhalten, was zweifellos nicht zulässig sei und eine Verletzung des Steuergeheimnisses bedeuten würde.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Es hebt hervor, daß die Inanspruchnahme eines Haftenden nicht erst nach rechtskräftiger Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen in Betracht komme. Im vorliegenden Fall sei die umgehende Inanspruchnahme der Haftungsschuldnerin sogar geboten gewesen; denn der Steuerpflichtige habe dem FG gegenüber am 23. Januar 1969 selbst erklärt, daß er keine pfändbaren Gegenstände besitze, fast seine gesamten Geschäftseinnahmen an seine Lieferanten weiterzuzahlen und im Jahre 1968 den Offenbarungseid geleistet habe.
Im übrigen brauche der Steuerpflichtige auch nicht zu befürchten, daß Fräulein F. durch die Einsichtnahme in die Steuerakten Dinge erfahre, die sie nichts angingen; denn ihr werde nur insoweit Einsichtnahme gewährt werden, als es zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich sei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die gemäß § 128 Abs. 1 FGO zulässige Beschwerde ist begründet.
Das FA ist bis zur Entscheidung in einem gegebenenfalls noch anhängig zu machenden Hauptsacheverfahren nicht befugt, Fräulein F. in die Steuerakten des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise Einsicht zu gewähren.
Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 FGO in Verbindung mit § 940 ZPO ist lediglich, daß ein schlüssig vorgetragener Rechtsanspruch des Antragstellers durch eine möglicherweise bevorstehende Maßnahme des Antragsgegners gefährdet erscheint (vgl. Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, § 940, Anm. 2; Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 114, Anm. 26, 29). Im Verfahren über die einstweilige Anordnung ist dagegen nicht zu prüfen, ob der vom Antragsteller behauptete Rechtsanspruch tatsächlich besteht. Die Klärung dieser Frage bleibt vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Im vorliegenden Falle hat der Steuerpflichtige vorgetragen, er habe einen durch § 22 AO geschützten Rechtsanspruch darauf, daß anderen Personen die Einsichtnahme in seine Steuerakten zu versagen sei. Diese Rechtsbehauptung ist hinreichend schlüssig; sie läßt den geltend gemachten Anspruch als möglich erscheinen. Im Verfahren nach § 114 FGO kann nicht darüber hinaus abschließend geprüft werden, ob und inwieweit dieser grundsätzlich bestehende Anspruch durch andere gesetzliche Vorschriften, insbesondere die §§ 107 a, 109 AO eingeschränkt wird, oder ob § 22 AO etwa deshalb im vorliegenden Falle nicht eingreifen kann, weil Fräulein F. die steuerlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen bereits in vollem Umfange kennt. Diese Fragen können vielmehr erst in einer vom Steuerpflichtigen gegebenenfalls noch zu erhebenden, auf Unterlassung gerichteten Klage gegen das FA geprüft werden; denn das Verfahren nach § 114 FGO dient nur dazu, dem Steuerpflichtigen bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren gegenüber irreparablen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden Schutz zu gewähren.
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung erscheint im vorliegenden Falle geboten; denn der vom Steuerpflichtigen behauptete Anspruch wird durch die Absicht des FA, dem Fräulein F. - wenn auch nur in beschränktem Umfange - Einsichtnahme in die Steuerakten zu gewähren, gefährdet. Würde das FA diese Absicht verwirklichen, so würde das vom Steuerpflichtigen behauptete, der Einsichtnahme entgegenstehende Recht in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden.
Das Verbot, dem Fräulein F. Akteneinsicht zu gewähren, kann indes nicht zeitlich unbefristet wirken. Vielmehr muß das FG auf einen gegebenenfalls noch zu stellenden Antrag des FA hin gemäß § 926 ZPO, § 114 Abs. 4 FGO anordnen, daß der Steuerpflichtige binnen einer bestimmten Frist Hauptsacheklage zu erheben habe. Kommt der Steuerpflichtige dieser Anordnung nicht nach, so hat das FG auf Antrag des FA die einstweilige Anordnung aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 68708 |
BStBl II 1970, 83 |
BFHE 1970, 285 |