Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollverzinsung: Nachträgliche Kaufpreiserhöhung für wesentliche Beteiligung, Abschöpfung des Liquiditätsvorteils - Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung: Rückwirkung bei nachträglicher Kaufpreiserhöhung, Veräußerung zum Jahreswechsel
Leitsatz (amtlich)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob bei einer nachträglichen Erhöhung des Kaufpreises für eine wesentliche Beteiligung der Unterschiedsbetrag zwischen der ursprünglichen und der rückwirkend entstehenden Steuerschuld auch rückwirkend nach § 233a AO 1977 zu verzinsen ist.
Orientierungssatz
1. Zinsen nach § 233a AO 1977 sind laufzeitabhängige Gegenleistungen für die mögliche Kapitalnutzung. Entscheidend ist, ob der Schuldner der Steuernachforderung Zinsvorteile oder Liquiditätsvorteile erlangt hat oder zumindest erlangen bzw. anderweitige Zinsbelastungen vermeiden konnte. Durch § 233a AO 1977 sollen Liquiditätsvorteile aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeschöpft werden (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Nachträgliche Änderungen des Kaufpreises für eine wesentliche Beteiligung wirken auf den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung zurück. Die in BFH-Entscheidungen (z.B. Urteil vom 21.12.1993 VIII R 69/88) für die Rückwirkung einer nachträglichen Herabsetzung des Kaufpreises angeführten Gründe sprechen auch für die Rückwirkung einer nachträglichen Erhöhung des Kaufpreises.
3. Im Streitfall konnte offenbleiben, welche einkommensteuerrechtlichen Folgen sich an die Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung mit Wirkung zum 31.12.1988 24 Uhr/1.1.1989 0 Uhr bei einer zeitnahen Vereinbarung geknüpft hätten. Da der Kaufvertrag erst im Dezember 1989 geschlossen worden war, wurde der Gewinn --durch Übertragung der wesentlichen Beteiligung-- erst im Jahr 1989 realisiert. Eine rückwirkende Vereinbarung des Inhalts, daß der Realisierungszeitpunkt in das Jahr 1988 fallen soll, ist schon nach allgemeinen Grundsätzen ausgeschlossen (vgl. Literatur).
Normenkette
AO 1977 § 233a; FGO § 69 Abs. 2-3; EStG 1987 § 17; GG Art. 3 Abs. 1; AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) hatte mit notariellem Kaufvertrag vom 29. Dezember 1989 seine wesentliche Beteiligung an einer GmbH mit Wirkung zum 31. Dezember 1988 24 Uhr/1. Januar 1989 0 Uhr veräußert. Der in diesem Vertrag bestimmte Kaufpreis sollte sich erhöhen, soweit die Jahresüberschüsse für die Jahre 1989 bis 1991 insgesamt 3 Mio DM übersteigen, und vermindern, soweit der Jahresüberschuß 1989 1 Mio DM unterschreitet. Ein evtl. Zusatzkaufpreis war innerhalb von vier Wochen nach Feststellung des Jahresabschlusses 1991 fällig.
Aufgrund dieser Vereinbarung zahlte der Käufer im Oktober 1992 an den Antragsteller einen zusätzlichen Kaufpreis in Höhe von 2 134 963,63 DM.
Daraufhin erhöhte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) den Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung um 597 692 DM und änderte den unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheid 1989 entsprechend. Damit verbunden setzte das FA für die Zeit vom 1. April 1991 bis zum Fälligkeitstag 13. Januar 1993 Zinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 62 748 DM fest. Der Einspruch, mit dem sich der Antragsteller sowohl gegen die Steuerfestsetzung als auch gegen die Festsetzung der Zinsen wendet, ist noch beim FA anhängig. Die beantragte Aussetzung der Vollziehung des Einkommensteuer- und Zinsbescheids lehnte das FA ab.
Das Finanzgericht (FG) gab dem bei ihm gestellten weiteren Antrag auf Aussetzung der Vollziehung dieser Bescheide teilweise statt. Es ist der Ansicht, daß ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zinsbescheids bestünden.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Sie war deshalb zurückzuweisen.
1. Nach § 69 Abs.3 Satz 1 i.V.m. Abs.2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll das FG die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts u.a. dann ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel sind anzunehmen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zutage treten, die eine Unentschiedenheit oder eine Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfrage bewirken; es ist nicht erforderlich, daß die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFH/NV 1990, 774, und vom 14. November 1989 VII B 124/89, BFH/NV 1990, 279 jeweils m.w.N.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 69 Anm.77 m.w.N.).
2. Danach bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheides 1989.
a) Das FA hat den Gewinn aus der Veräußerung der wesentlichen Beteiligung zutreffend bei der Einkommensteuerveranlagung 1989 erfaßt.
Der Senat kann im Streitfall offenlassen, welche einkommensteuerrechtlichen Folgen sich an die Veräußerung der Beteiligung im Schnittpunkt der Jahre 1988/89 bei einer zeitnahen Vereinbarung geknüpft hätten. Der Kaufvertrag ist erst am 29. Dezember 1989 geschlossen worden. Der Gewinn wurde damit --durch Übertragung der wesentlichen Beteiligung-- erst im Streitjahr realisiert. Eine rückwirkende Vereinbarung des Inhalts, daß der Realisierungszeitpunkt in den Veranlagungszeitraum 1988 fallen soll, ist schon nach allgemeinen Grundsätzen ausgeschlossen (vgl. u.a. Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 13.Aufl., § 2 Anm.13 b m.w.N.).
b) Das FA hat auch den Zusatzkaufpreis zutreffend bei der Einkommensteuerveranlagung 1989 erfaßt.
Nachträgliche Änderungen des Kaufpreises für eine wesentliche Beteiligung wirken auf den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung zurück (Urteil des erkennenden Senats vom 21. Dezember 1993 VIII R 69/88, BFHE 174, 324, BStBl II 1994, 648 und --zum Veräußerungsgewinn i.S. von § 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG)-- Beschluß des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897). Das gilt für die nachträgliche Uneinbringlichkeit (vgl. dazu BFH in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897) oder die nachträgliche Minderung eines Kaufpreises (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Juni 1988 IV R 84/86, BFHE 154, 85, BStBl II 1989, 41) ebenso wie für die Stornierung des Kaufpreises nach Aufhebung des Kaufvertrags (BFH-Urteil in BFHE 174, 324, BStBl II 1994, 648).
Die in diesen Entscheidungen für die Rückwirkung einer nachträglichen Herabsetzung des Kaufpreises angeführten Gründe sprechen auch für die Rückwirkung einer nachträglichen Erhöhung des Kaufpreises. Das ist auch schon bisher für den Fall angenommen worden, daß die Vertragsparteien im Zeitpunkt der (Betriebs-)Übertragung noch keine abschließende Einigung über die Höhe des Kaufpreises erzielt haben (BFH-Urteile vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786, und vom 17. Januar 1989 VIII R 370/83, BFHE 156, 103, BStBl II 1989, 563 unter 3.c der Gründe m.w.N.; Schmidt, a.a.O., § 16 Anm.58 c m.w.N.). Dem ist der hier vorliegende Fall gleichzustellen, daß die endgültige Höhe des Kaufpreises (teilweise) von der künftigen Gewinnentwicklung des Unternehmens abhängen soll (zu den verschiedenen, von der Rechtsprechung bisher unterschiedlich beurteilten Fallgruppen vgl. Reiß in Kirchhof/ Söhn, Einkommensteuergesetz, § 16 Rdnr.E 87 ff. m.w.N.).
3. Dagegen bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des mit der Steuerfestsetzung verbundenen Zinsbescheides.
a) Nach § 233a Abs.1 Satz 1 AO 1977 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 103, BStBl I 1988, 224) sind Nachzahlungszinsen auf Steuern ab dem Veranlagungszeitraum 1989 zu erheben, wenn die Festsetzung einer Steuer (hier: der Einkommensteuer 1989) zu einer Steuernachforderung führt. Es ist dabei ohne Bedeutung, ob die Steuer in einem Erstbescheid oder in einem Änderungs- oder Berichtigungsbescheid festgesetzt wird (vgl. z.B. FG Bremen, Urteil vom 16. Februar 1993 2 92 150 K 2, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1993, 361 --rechtskräftig--; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl., § 233a AO 1977 Tz.18).
Dies ergibt sich u.a. auch aus der in § 233a Abs.5 AO 1977 getroffenen Regelung, wonach bisherige Zinsfestsetzungen zu ändern sind, wenn die Steuerfestsetzung aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO 1977 berichtigt wird. Geht man vom Wortlaut dieser Vorschrift aus, ist es ohne Bedeutung, aus welchen Gründen es zu einer Änderung oder Berichtigung der Steuerfestsetzung kommt. Dementsprechend nimmt die Finanzverwaltung (in Tz.4 des Schreibens des Bundesministers der Finanzen --BMF-- vom 8. Juli 1993 IV A 5 - S 0460 a - 24/93, BStBl I 1993, 527 und Tz.26 des BMF-Schreibens vom 3. August 1994 IV A 4 - S 0062 - 12/94, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 1994, 1153; ebenso z.B. Krabbe in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 4.Aufl., § 233a Rdnr.25, und Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 233a Anm.27) an, daß der Zinslauf u.a. auch dann 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, beginnt, wenn die Änderung auf § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 beruht. Diese Vorschrift ist regelmäßig als Rechtsgrundlage für die Änderung von Steuerbescheiden heranzuziehen, wenn sich ein Veräußerungsgewinn durch ein späteres Ereignis nachträglich ändert (BFH in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897). Für die hier vorliegende Festsetzung der Einkommensteuer unter Vorbehalt der Nachprüfung müßte demnach Entsprechendes gelten.
b) Es spricht jedoch viel dafür, daß bei einer Änderung der Steuerfestsetzung wegen nachträglicher Erhöhung des Veräußerungspreises der Unterschiedsbetrag gegenüber der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht der Verzinsung unterliegt.
aa) Der Gesetzgeber wollte zwar die Erhebung von Zinsen grundsätzlich nach dem Sollprinzip ausgestalten; das bedeutet, daß ihr ein Vergleich des "Vorsolls" mit dem "endgültigen Soll" zugrunde zu legen ist (BTDrucks 8/1410 Tz.7.2; Tipke/Kruse, a.a.O., § 233a AO 1977 Tz.10 m.w.N.). Er wollte jedoch ersichtlich nicht, daß dieser Vergleich ohne Berücksichtigung des mit der Verzinsung beabsichtigten Zwecks durchgeführt wird. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Dem Zinsanspruch muß eine Kapitalforderung zugrunde liegen. Das Tatbestandsmerkmal "Steuernachforderung" i.S. von § 233a AO 1977 ist deshalb im Sinne von "Steuerschuld" zu verstehen (zur Auslegungsbedürftigkeit dieses Tatbestandsmerkmals s. BFH-Beschluß vom 1. Dezember 1993 I R 56/93, BFH/NV 1994, 445).
Der Steuernachforderung muß aber auch eine "verzinsliche" Steuerschuld zugrunde liegen. Zinsen nach § 233a AO 1977 sind weder Sanktion noch Druckmittel oder Strafe, sondern laufzeitabhängige Gegenleistungen für die mögliche Kapitalnutzung. Entscheidend ist deshalb, ob der Schuldner der Steuernachforderung Zins- oder Liquiditätsvorteile erlangt hat (BTDrucks 11/2157 S.194 und 8/1410 Tz.4; BFH-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81; Tipke/Kruse, a.a.O., § 233a AO 1977 Tz.3) oder doch zumindest erlangen konnte bzw. anderweitige Zinsbelastungen vermeiden konnte. Die Liquiditätsvorteile sollten durch § 233a AO 1977 aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeschöpft werden (BFH in BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81 m.w.N.).
bb) Die Verzinsung einer Steuerschuld, deren Tatbestandsmerkmale erst mehr als 15 Monate nach ihrer rückwirkenden Entstehung erfüllt werden, wäre von diesem Zweck nicht mehr erfaßt. Die Steuer hätte innerhalb der Karenzzeit nicht mehr festgesetzt werden können; es kann deshalb nicht zu Liquiditätsnachteilen zu Lasten des Steuergläubigers kommen. Ebensowenig hat der Steuerpflichtige in diesem Fall Liquiditätsvorteile durch einen Steuerkredit infolge einer verspäteten Steuerfestsetzung erlangt; die geänderte Einkommensteuer wurde mit Bescheid vom 10. Dezember 1992 bereits kurze Zeit nach Eintritt der Voraussetzungen für die Kaufpreiserhöhung festgesetzt.
Fundstellen
Haufe-Index 64954 |
BFHE 175, 516 |
BFHE 1995, 516 |
BB 1995, 345 |
BB 1995, 345-346 (LT1) |
DB 1995, 79-80 (LT) |
DStR 1995, 97-98 (KT) |
DStZ 1995, 254 (KT) |
HFR 1995, 128-129 (KT) |
StE 1995, 9 (K) |