Leitsatz (amtlich)
Wer häufig längere Geschäfts- oder Dienstreisen unternimmt, so daß bei ihm die Abwesenheit von der Wohnung zur Regel wird, muß es sich als Verschulden i. S. des § 56 FGO anrechnen lassen, wenn er keine Vorkehrungen dafür trifft, daß er von fristauslösenden Zustellungen rechtzeitig Kenntnis erhält; die erforderliche Kenntnis von solchen Zustellungen kann er sich dadurch verschaffen, daß er beim Postamt beantragt, ihm die während seiner Abwesenheit durch Niederlegung zugestellten Schriftstücke als gewöhnliche Sendungen zuzusenden (Ausführungsbestimmungen zu § 39 der Postordnung).
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Im März 1979 beantragte der Kläger und Revisionskläger (Kläger), die Einkommensteuer 1975 aus wirtschaftlichen Gründen zu erlassen. Mit Verwaltungsakt vom 18. April 1979 lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den beantragten Steuererlaß ab. Eine weitere Eingabe des Klägers vom 18. Mai 1979 wertete das FA als Beschwerde; es teilte dies dem Kläger am 19. Oktober 1979 mit und legte die Beschwerde der Oberfinanzdirektion (OFD) zur Entscheidung vor. Die OFD forderte den Kläger mit Schreiben vom 13. November 1979 auf, bis 3. Dezember 1979 eine Reihe von Unterlagen für die Bearbeitung der Beschwerde vorzulegen. Mit Schreiben vom 6. Dezember 1979 erinnerte die OFD an die Erledigung und setzte eine Frist bis 3. Januar 1980. Als der Kläger keine Antwort gab, wies die OFD mit Entscheidung vom 22. Januar 1980 die Beschwerde gegen die Ablehnung des Erlaßantrags als unbegründet zurück. Die Beschwerdeentscheidung wurde am 29. Januar 1980 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt, weil der Postbedienstete den Kläger in seiner Wohnung nicht antraf und eine Ersatzzustellung nicht ausführbar war.
Der Kläger ließ durch einen Prozeßbevollmächtigten am 11. März 1980 - verspätet - gegen den Verwaltungsakt und die Beschwerdeentscheidung Klage erheben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Er machte geltend, er habe 1979 und 1980 ausgedehnte Dienstreisen unternehmen müssen. Im Jahr 1979 habe er sich zwischen zwei Dienstreisen von jeweils vier bis fünf Wochen Dauer nur einen Tag bis zu 27 Tagen, insgesamt nicht viel mehr als 80 Tage, in seiner Wohnung aufgehalten. Als die Beschwerdeentscheidung am 29. Januar 1980 durch Niederlegung zugestellt worden sei, habe er sich auf einer am 13. Januar 1980 angetretenen Dienstreise durch West- und Süddeutschland befunden, von der er erst am 27. Februar 1980 gegen Abend in seine Wohnung zurückgekehrt sei. Das Zustellungspostamt in A habe vereinbarungsgemäß für die jeweilige Dauer von längeren Dienstreisen die Postsachen bis zur Abholung durch ihn nach seiner Rückkehr aufbewahrt. Auf diese Weise habe er bisher seine wenigen Fristangelegenheiten stets rechtzeitig erledigen können. Es sei ihm nicht möglich gewesen, Angehörige oder andere Vertrauenspersonen während der Dienstreisen um die Inempfangnahme von zugestellten Schriftstücken und deren Weitergabe an ihn zu bitten. Unter diesen Umständen sei es als unverschuldet anzusehen, daß er von der niedergelegten Beschwerdeentscheidung vor seiner Rückkehr von der Dienstreise keine Kenntnis erlangt habe. Am Tage nach seiner Rückkehr habe er seinen Arbeitgeber in B aufsuchen und für ihn Reiseberichte erstellen müssen. Aus diesem Grunde und weil er infolge schmerzhafter Erkrankung nicht voll arbeitsfähig gewesen sei, habe er erst am darauffolgenden Tag, am 29. Februar 1980, die aufbewahrte Post und die Beschwerdeentscheidung auf dem Postamt in A abgeholt. Bis zum Ablauf der Klagefrist seien nur noch 12 bis 14 Stunden verblieben. In dieser kurzen Zeit sei es nicht möglich gewesen, die Klage beim Finanzgericht (FG) in Hannover zu erheben.
Das FG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Es hat die Überschreitung der Klagefrist als verschuldet angesehen, weil der Kläger nach seiner Rückkehr von der Dienstreise am 27. Februar 1980 nicht bereits am 28. Februar 1980 die niedergelegte Beschwerdeentscheidung abgeholt und sogleich Klage erhoben hat. Der Kläger sei zwar krank gewesen; er habe aber gearbeitet. Dann müsse es ihm auch möglich gewesen sein, die Post auf dem Postamt abzuholen und die Klage zuerheben. Der Kläger könne nicht mit Erfolg geltend machen, er habe erst Reiseberichte für seinen Arbeitgeber erstellen müssen. Dies möge menschlich verständlich sein, doch müsse dem Kläger gleichwohl der Vorwurf leichter Fahrlässigkeit bei der Überschreitung der Klagefrist gemacht werden. Dies schließe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus.
Mit der - vom Bundesfinanzhof (BFH) auf Beschwerde zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das FG überspanne die Sorgfaltsanforderungen und verletze dadurch § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs. 1 FGO) durch die Zustellung der Beschwerdeentscheidung am 29. Januar 1980 in Lauf gesetzt und am 29. Februar 1980, einem Freitag, abgelaufen ist. Die am 11. März 1980 erhobene Klage war deshalb verspätet.
Dem FG ist auch darin zu folgen, daß dem Kläger wegen der Versäumung der Klagefrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann. Eine Wiedereinsetzung findet nur statt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Eine Fristversäumnis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (BFH-Urteil vom 14. April 1976 IV R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624).
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß in den Fällen des ersten Zugangs zum Gericht das Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtsschutzgarantien dient. Deshalb dürfen in diesem Zusammenhang bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften keine überhöhten Anforderungen daran gestellt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung die Wiedereinsetzung zu erhalten (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -, z. B. Beschluß vom 2. Juli 1974 2 BvR 32/74, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 281 mit weiteren Nachweisen).
Die Frage, ob ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden darin zu sehen ist, daß der Kläger die auf der Postanstalt in A niedergelegte Beschwerdeentscheidung nicht bereits am 28. Februar 1980, sondern erst am folgenden Tag abgeholt hat und sodann mehrere Tage bis zur Erhebung der Klage verstreichen ließ, läßt der Senat dahinstehen.
Denn jedenfalls ist dem Kläger als Verschulden anzurechnen, daß er erst gegen Ende der Klagefrist Kenntnis von der Beschwerdeentscheidung erlangt und aus diesem Grunde die Klagefrist nicht eingehalten hat.
Das BVerfG und die obersten Gerichtshöfe des Bundes vertreten in ihrer Rechtsprechung die Auffassung, daß es einem Gebot der prozessualen Sorgfaltspflicht entsprechen kann, bei längerer Abwesenheit Vorkehrungen zu treffen, daß man von Zustellungen, die Fristen in Lauf setzen, Kenntnis erhält und die Fristen wahrt. Das trifft insbesondere für Personen zu, die sich oft oder länger auf Geschäfts- oder Dienstreisen befinden und bei denen die Abwesenheit von der Wohnung zur Regel wird (BVerfG-Beschluß vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332, 336f.; BFH-Urteil vom 17. November 1970 II R 121/70, BFHE 100, 490, BStBl II 1971, 143). Diesen Personen ist es zuzumuten, sich bei der Reisevorbereitung auch darauf einzustellen, daß sie von fristauslösenden Zustellungen während ihrer Abwesenheit von der Wohnung Kenntnis erhalten und das zur Fristwahrung Erforderliche veranlassen, ohne daß es darauf ankäme, ob sie im Einzelfall mit solchen Zustellungen rechnen mußten. Abgesehen hiervon können, wenn während einer mehrwöchigen Abwesenheit von der Wohnung im Einzelfall mit einer fristauslösenden Zustellung konkret zu rechnen ist, zumutbare Vorkehrungen erwartet werden, damit prozessuale Fristen, deren Ablauf in der Zwischenzeit zu befürchten ist, eingehalten werden können (Beschlüsse des Bundesgerichtshofes - BGH - vom 1. Dezember 1978 I ZB 9/78, Versicherungsrecht 1979 S. 231 - VersR 1979, 231 -; vom 7. März 1979 IV ZB 162/78, VersR 1979, 573; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 25. April 1975 VI C 231.73, Monatsschrift für Deutsches Recht 1975 S. 868 - MDR 1975, 868 -, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 287).
Bei dem Kläger ist infolge der beruflichen Reisetätigkeit die Anwesenheit in der Wohnung zur Ausnahme geworden. Im Jahre 1979 hielt er sich, wie er selbst mitgeteilt hat, insgesamt an nicht viel mehr als 80 Tagen zu Hause auf. Die einzelnen Reisen erstreckten sich zumeist über mehrere Wochen. Auch die Reise, während der die Beschwerdeentscheidung zugestellt wurde, dauerte mehr als sechs Wochen. Unter diesen Umständen reichte es nicht aus, daß der Kläger die während seiner Abwesenheit eingehende Post einschließlich etwaiger amtlicher Zustellungen bei dem Postamt verwahren ließ, um die Schriftstücke nach seiner Rückkehr abzuholen. Er hätte vielmehr Vorsorge treffen müssen, daß er von etwaigen amtlichen Zustellungen während seiner Abwesenheit Kenntnis erlangte.
Im Januar 1980 mußte der Kläger außerdem mit der Zustellung einer Beschwerdeentscheidung der OFD rechnen. Ihm war im Oktober 1979 mitgeteilt worden, daß seine Eingabe vom Mai 1979 als Beschwerde angesehen und bearbeitet werde. Im November und Dezember 1979 war ihm von der OFD jeweils unter Fristsetzung aufgegeben worden, bestimmte Fragen zu beantworten und bestimmte Nachweise zu führen. Der Kläger mußte unter diesen Umständen die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die OFD über seine Beschwerde entscheiden und diese zurückweisen würde, wenn er den Auflagen nicht nachkam und die ihm gesetzten Fristen verstreichen ließ. Deshalb war im Januar 1980 mit der Zustellung einer Beschwerdeentscheidung konkret zu rechnen. Auch aus diesem Grunde mußte der Kläger dafür sorgen, daß er von der Beschwerdeentscheidung rechtzeitig Kenntnis erhielt.
Der Kläger kann nicht geltend machen, es sei ihm nicht möglich gewesen, Vorsorge zu treffen, weil er an seinem Wohnort niemanden habe beauftragen können, für ihn die während seiner Abwesenheit ausgeführten Zustellungen in Empfang zu nehmen und ihn davon zu unterrichten. Auf die Inanspruchnahme derartiger Hilfeleistung war der Kläger nicht angewiesen. Er hätte vielmehr beim Postamt beantragen können, daß ihm die durch Niederlegung zugestellten Schriftstücke als gewöhnliche Sendung gegen Nachgebühr an eine andere Anschrift zugesandt werden (Ausführungsbestimmungen zu § 39 der Postordnung; Florian/Weigert, Kommentar zur Postordnung, 2. Aufl., 1979, § 39 Anm. 15f.; Kohlrust/Eimert, Deutsches Steuerrecht 1968 S. 456 - DStR 1968, 456 -). Er hätte sich also rechtzeitig Kenntnis über die durch Niederlegung zugestellte Beschwerdeentscheidung dadurch verschaffen können, daß er beim Postamt einen solchen Zusendungsantrag stellte. Dagegen läßt sich nicht einwenden, daß dies zu umständlich gewesen wäre, weil sich der Kläger während der Dienstreise an ständig wechselnden Orten aufgehalten hat. Es hätte ausgereicht, wäre aber auch zur Erfüllung der prozessualen Sorgfaltspflicht geboten gewesen, wenn sich der Kläger in gewissen Abständen die durch Niederlegung zugestellten Schriftstücke an sein Hotel oder postlagernd an den jeweiligen Zielort seiner Dienstreise (vgl. Urteil des FG Hamburg vom 7. November 1959 II 228/58, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe B - Eildienst -, 1960 S. 250) hätte zusenden lassen.
Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch. Dies bedarf nach Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 (BGBl I, 1861) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 4. August 1980 (BGBl I, 1147) keiner Begründung.
Fundstellen
BStBl II 1982, 166 |
BFHE 1981, 388 |