Entscheidungsstichwort (Thema)
Betagte Forderungen in der Gesamtvollstreckung: Vorsteuerrückforderung, Schließung der planwidrigen Gesetzeslücke in § 17 Abs.3 Nr.3 GesO durch entsprechende Anwendung der §§ 61, 65 KO - Unabhängigkeit einer umsatzsteuerrechtlichen Lieferung vom Zivilrecht
Leitsatz (amtlich)
1. § 17 Abs.3 Nr.3 GesO gilt für betagte Forderungen entsprechend.
2. Ein Vorsteuerrückzahlungsanspruch entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Uneinbringlichkeit eingetreten ist (Anschluß an BFH-Urteil vom 12. Juni 1975 V R 42/74, BFHE 116, 201, BStBl II 1975, 755).
Orientierungssatz
1. Die Vorschriften der GesO stellen eine rahmenartige Regelung des Insolvenzverfahrens dar, die noch im einzelnen ausgefüllt werden muß. Aufgrund des Vorliegens einer "planwidrigen Lücke" in der GesO sind die §§ 61 Abs. 1 Nr. 2, § 65 Abs. 1 KO für die Anwendung des § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO entsprechend heranzuziehen (Ausführungen zur Gleichbehandlung von fälligen und betagten Forderungen, da es nicht auf die Fälligkeit, sondern die Entstehung der Forderungen ankommt; im Streitfall: Vorsteuerrückforderungsansprüche des FA als betagte Forderung).
2. Die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts ist für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung der in § 3 Abs. 1 UStG 1991 geregelten Voraussetzungen einer Lieferung grundsätzlich ohne Bedeutung. Ist eine Sache geliefert und ist eine Rechnung ausgestellt worden, kann die in der Rechnung ausgewiesene Vorsteuer vom Leistungsempfänger geltend gemacht werden, ohne daß es einer weiteren Prüfung bedarf, ob das Geschäft einer zivilrechtlichen Anfechtung standhält.
Normenkette
GesO § 17 Abs. 3 Nr. 3; InsO § 41; KO § 61 Abs. 1 Nr. 2, § 65 Abs. 1; UStG 1991 § 13 Abs. 1 Nr. 5, § 15 Abs. 1, § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Über das Vermögen der W-GmbH (GmbH) wurde mit Beschluß vom 7. Oktober 1992 die Sequestration angeordnet. Am 13. November 1992 wurde das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet. Bei einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung wurde festgestellt, daß die GmbH in ihrer Umsatzsteuer-Voranmeldung für den Monat September 1991 die in der Rechnung vom 30. September 1991 ausgewiesene Vorsteuer in Höhe von 783 314,09 DM geltend gemacht hatte. Die Rechnung, der ein Grundstücks- und Anlagenkaufvertrag vom 31. Mai 1991 zugrunde liegt, wurde nicht beglichen. Weiter wurde festgestellt, daß die GmbH in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Monate Januar bis Juli 1992 die ihr von Lieferanten in Rechnung gestellte Umsatzsteuer in Höhe von 204 598,75 DM als Vorsteuer abgezogen hatte, obwohl die Rechnungen bis zur Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens nicht bezahlt worden waren.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) meldete u.a. eine Umsatzsteuer-Forderung für den Zeitraum 1. Januar bis 13. November 1992 mit dem Vorrecht aus § 17 Abs. 3 Nr. 3 der Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) an. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), der Gesamtvollstreckungsverwalter der GmbH, bestritt ein Vorrecht der bezeichneten Vorsteuerbeträge in Höhe von insgesamt 987 912,84 DM, da diese Vorsteuerbeträge nicht bereits im letzten Jahr vor Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens fällig geworden seien. Das FA erließ einen Feststellungsbescheid, der eine Umsatzsteuer-Forderung für 1992 in Höhe von 1 175 319,38 DM mit Vorrang nach § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO auswies. Der vom Kläger nicht als bevorrechtigt angesehene Betrag ist in dieser Summe enthalten. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt; das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 711 veröffentlicht. Es ist wie folgt begründet: Gehe man davon aus, daß die rechtlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs nicht vorgelegen hätten, weil eine Auflassungsvormerkung noch nicht eingetragen gewesen sei, so habe das FA einen Rückforderungsanspruch nach § 37 der Abgabenordnung (AO 1977), der durch Verwaltungsakt hätte geltend gemacht werden müssen, was nicht geschehen sei. Gehe man indes wie die Beteiligten davon aus, daß die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorgelegen hätten, hätte das FA die Steuer --abweichend von den fehlerhaften Steueranmeldungen-- gemäß § 18 Abs. 4 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1991) festsetzen müssen. Das gelte sowohl für die Vorsteuer aus dem Grundstückskauf wie aus den anderen Lieferantenrechnungen. Erst diese Festsetzung habe die Fälligkeit des Unterschiedsbetrags zur Folge.
Aufgrund des eindeutigen Wortlauts sei nicht zu prüfen, ob es sich bei den uneinbringlichen Forderungen der GmbH um betagte Forderungen i.S. von § 65 Abs. 1 der Konkursordnung (KO) gehandelt haben könnte; § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO stelle ausdrücklich allein auf die fälligen Forderungen ab; betagte Forderungen würden diesen nicht gleichgestellt. Eine analoge Anwendung des § 65 Abs. 1 KO komme angesichts des eindeutigen Wortlauts der GesO nicht in Betracht; Anhaltspunkte für eine Regelungslücke seien nicht erkennbar. Auch dürfe der Fiskus nicht einseitig zu Lasten der Masse begünstigt werden.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe bei seiner Entscheidung die analoge Anwendung des § 65 Abs. 1 KO rechtsfehlerhaft unterlassen. Bei der GesO handele es sich um eine fragmentarische Regelung, die der Ergänzung durch Auslegung und Analogie bedürfe. § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO diene dem besonderen fiskalischen Interesse an einer umfassenden Sicherung. Die Vorschrift entspreche § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO. Eine entsprechende Anwendung des § 65 Abs. 1 KO sei daher geboten.
Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage. Der Vorsteuerrückforderungsanspruch ist nach § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO bevorrechtigt.
1. Nach § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO gehören Steueransprüche zu den bevorrechtigten Forderungen. Eine Regelung hinsichtlich der sog. betagten Forderungen, wie sie in den §§ 61 und 65 KO enthalten ist, fehlt. Entgegen der Auffassung des FG sind die §§ 61 Abs. 1 Nr. 2, 65 Abs. 1 KO auf § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO entsprechend anzuwenden, so daß auch betagte Forderungen als bevorrechtigt einzuordnen sind.
a) Die Vorschriften der GesO stellen eine rahmenartige Regelung des Insolvenzverfahrens dar, die noch im einzelnen ausgefüllt werden muß; der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß die "Lückenfüllung" dem richterlichen Entscheidungsprozeß überlassen sei (vgl. Lübchen/Landfermann, Das neue Insolvenzrecht der DDR, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --ZIP-- 1990, 829, 830; Smid in Smid, Gesamtvollstreckungsordnung, 3. Aufl., 1996/97, Einleitung, Rz. 42 ff.; Binz in Hess, Kommentar zur Konkursordnung, 5. Aufl., 1995, Anhang VII Rz. 16 ff.). Dementsprechend ist eine Reihe von Autoren im Schrifttum der Auffassung, daß die Regelungen der KO stets zur Ausfüllung von Lücken der GesO heranzuziehen sei (Smid, a.a.O., Einleitung, Rz. 46, m.w.N.; Lübchen/Landfermann, a.a.O.; Binz, a.a.O., Rz. 20 f.).
b) Der Senat braucht über den generellen Umfang der Heranziehung der KO nicht zu entscheiden. In diesem Verfahren ist allein die Frage zu beantworten, ob § 61 Abs. 1 Nr. 2, § 65 Abs. 1 KO für die Anwendung des § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO von Bedeutung sind. Diese Frage ist zu bejahen (so auch Smid, a.a.O., § 11 Rz. 26). Der Senat hält das Fehlen einer § 61 Abs. 1 Nr. 2, § 65 Abs. 1 KO entsprechenden Regelung in der GesO für eine "planwidrige" Lücke. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Auffassung, daß der Gesetzgeber der GesO bewußt auf die Einbeziehung betagter Forderungen verzichten wollte (zum Begriff der betagten Forderung vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. Juli 1987 V R 80/82, BFHE 150, 211, BStBl II 1987, 691 unter 2. b; Frotscher, Steuern im Konkurs, 4. Aufl., 1997, S. 61; Kuhn/Uhlenbruck, Konkursordnung, 11. Aufl., 1994, § 65 Rz. 6; vgl. auch § 41 der Insolvenzordnung --InsO--, der anstelle des Begriffs der betagten Forderung den der "nicht fällige(n) Forderung" verwendet). Der Schutzzweck dieser Vorschrift (wie auch der des § 41 InsO) dient der Gleichbehandlung der Gläubiger und ersetzt den Prioritätsgrundsatz durch das Prinzip "par condicio creditorum". Die §§ 65 Abs. 1 KO, 41 InsO sind Ausdruck eines allgemeinen insolvenzrechtlichen Grundprinzips. Zwischen fälligen und betagten Forderungen bestehen keine Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung beider Gruppen im Hinblick auf ihre insolvenzrechtliche Erfassung rechtfertigen könnten. Das Hinausschieben der Fälligkeit ist von untergeordneter Bedeutung; von Bedeutung ist hingegen, daß sowohl die fällige wie auch die betagte Forderung bereits entstanden sind.
Die Lücke ist in der Weise zu schließen, daß die §§ 61 Abs. 1 Nr. 2, 65 Abs. 1 KO entsprechend anzuwenden sind, so daß auch Steuern und Abgaben, die im letzten Jahr vor der Eröffnung der Gesamtvollstreckung entstanden sind, gemäß § 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO bevorrechtigt sind.
2. Bei den Vorsteuerrückforderungsansprüchen des FA handelt es sich um betagte (nicht fällige) Forderungen, die im Jahr vor der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens entstanden sind.
Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG 1991 hat bei Änderung der Bemessungsgrundlage der Unternehmer, an den der Umsatz ausgeführt worden ist, den dafür vorgesehenen Vorsteuerabzug entsprechend zu berichtigen. Diese Regelung gilt gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG 1991 sinngemäß, wenn das vereinbarte Entgelt uneinbringlich geworden ist. Im Streitfall ist die Uneinbringlichkeit Anfang Oktober 1992 eingetreten; am 1. Oktober 1992 wurden die Zahlungen eingestellt, am 7. Oktober 1992 wurde die Sequestration angeordnet. Mit dem Ablauf des Voranmeldungszeitraums Oktober 1992 ist ein selbständiger Anspruch auf Rückzahlung der Vorsteuer entstanden (BFH-Urteil vom 12. Juni 1975 V R 42/74, BFHE 116, 201, BStBl II 1975, 755; vgl. auch BFH in BFHE 150, 211, BStBl II 1987, 691, für einen Fall, in dem der Anspruch auf Vorsteuerrückforderung erst nach Konkurseröffnung entstanden ist). Dieser Zeitpunkt liegt im letzten Jahr vor der Eröffnung der Gesamtvollstreckung (§ 17 Abs. 3 Nr. 3 GesO), so daß der Auffassung des FA, daß die geltend gemachten Steuerforderungen bevorrechtigt sind, zu folgen ist.
3. Der Senat ist nicht der vom FG erwogenen Auffassung, daß der Vorsteuerrückforderungsanspruch bereits von Anfang an bestanden habe, da die rechtlichen Voraussetzungen für einen Vorsteueranspruch von Anfang an nicht vorgelegen hätten. Die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts ist für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung der in § 3 Abs. 1 UStG 1991 geregelten Voraussetzungen einer Lieferung grundsätzlich ohne Bedeutung. Ist eine Sache geliefert und ist eine Rechnung ausgestellt worden, kann die in der Rechnung ausgewiesene Vorsteuer vom Leistungsempfänger geltend gemacht werden, ohne daß es einer weiteren Prüfung bedarf, ob das Geschäft einer zivilrechtlichen Anfechtung standhält.
Fundstellen
Haufe-Index 66265 |
BFH/NV 1998, 373 |
BFH/NV 1998, 373-374 (Leitsatz und Gründe) |
BStBl II 1998, 69 |
BFHE 184, 208 |
BFHE 1998, 208 |
BB 1998, 87 |
BB 1998, 87-88 (Leitsatz und Gründe) |
DB 1998, 172 |
DB 1998, 172 (Leitsatz) |
DStRE 1998, 28 |
DStRE 1998, 28-29 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1998, 591 |
DStZ 1998, 591-592 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 222 |
StE 1998, 24 |