Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Entscheidung, ob ein unanfechtbarer rechtswidriger belastender Verwaltungsakt zurückzunehmen ist, hat die Finanzbehörde eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Interesse der Allgemeinheit an der Rechtssicherheit und dem Eintritt von Rechtsfrieden.
2. Eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts darf nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil der Betroffene ein Rechtsmittel hätte einlegen können (entgegen Anwendungserlaß zur AO 1977, Nr.2 Satz 2 zu § 130 AO 1977).
3. Zur Bemessung von Verspätungszuschlägen zur Lohnsteuer.
Orientierungssatz
1. Die Verwaltung braucht aber in eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht einzutreten, wenn sich aus der Begründung des Rücknahmeantrages keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit ergeben. Bei der im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977 zu treffenden Ermessensentscheidung kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes und darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Steuerpflichtigen geltend gemacht wird (vgl. BFH-Urteil vom 3.8.1983 II R 144/80; Literatur).
2. Der Umstand, daß die Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe von Lohnsteueranmeldungen geschätzt werden müssen, ist bei der Bemessung der Verspätungszuschläge (hier: Höchstsatz von 10 v.H.) zu berücksichtigen (vgl. BFH-Rechtsprechung, auch zu den Kriterien für die Festsetzung von Verspätungszuschlägen).
3. NV: Hat der Kläger in seiner Klageschrift den Verwaltungsakt eindeutig bezeichnet und läßt das bisherige Klagevorbringen nicht erkennen, daß die Klage weitere Anfechtungsgegenstände haben könnte, so können nach Ablauf der Klagefrist weitere Verwaltungsakte nicht mehr zum Gegenstand der Anfechtung gemacht werden, weil für die Beteiligten jederzeit feststellbar sein muß, ob ein Verwaltungsakt noch anfechtbar ist. Dies gilt auch, wenn mehrere außergerichtliche Rechtsbehelfe gegen unterschiedliche Verwaltungsakte zu einer gemeinsamen Entscheidung verbunden worden sind (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
EStG § 41a; AO 1977 § 130 Abs. 1, § 152 Abs. 2; FGO §§ 43, 47 Abs. 1, § 65 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine KG, die Arbeitnehmer beschäftigt, ist ihrer Verpflichtung, die einbehaltene Lohnsteuer monatlich anzumelden und abzuführen, in den Jahren 1979 und 1980 nicht immer pünktlich nachgekommen. Weil sie die Lohnsteuer-Anmeldungen für April und Mai 1979 nicht abgegeben hatte, schätzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) mit Haftungsbescheid vom 5.Juli 1979 die Lohnsteuerschuld auf jeweils 5 000 DM und setzte zwei Verspätungszuschläge von je 250 DM fest. Als die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen am 10.Juli 1979 einreichte und die Verspätung mit Schwangerschaft und Kündigung der Buchhalterin entschuldigte, hob das FA die Festsetzung der Zuschläge gemäß § 131 der Abgabenordnung (AO 1977) wieder auf.
Am 25.September 1979 schätzte das FA die Lohnsteuerabzugsbeträge für die Monate Juni und Juli 1979 auf je 6 000 DM und setzte Verspätungszuschläge von je 300 DM fest. Später setzte das FA den Zuschlag auf 290 DM herab, weil die angemeldete Lohnsteuer um etwa 100 DM geringer war als die geschätzte.
Auch in den folgenden Monaten gab die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen nicht fristgemäß ab, so daß das FA die Lohnsteuer mit Haftungsbescheid schätzte und Verspätungszuschläge wie folgt festsetzte:
Am 2.November 1979 je 6 000 DM Lohnsteuer und je 600 DM Verspätungszuschläge für August und September 1979;
am 7.Dezember 1979 6 000 DM Lohnsteuer und 600 DM Verspätungszuschlag für Oktober 1979;
am 18.Januar 1980 7 000 DM Lohnsteuer und 700 DM Verspätungszuschlag für November 1979 und
am 31.Januar 1980 8 000 DM Lohnsteuer und 800 DM Verspätungszuschlag für Dezember 1979.
Am 19.März 1980 reichte die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen für Juli bis Dezember 1979 ein, die Lohnsteuer-Anmeldungen Januar und Februar 1980 wurden zu Beginn der am 24.März 1980 durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung dem Prüfer übergeben. Die Lohnsteuer für diese Monate forderte das FA durch den aufgrund der Prüfung ergangenen Haftungs- und Nachforderungsbescheid vom 19.Juni 1980 an. Zugleich wurden auch für die Monate Januar und Februar 1980 Verspätungszuschläge in Höhe von zusammen 700 DM festgesetzt. Dies entsprach etwa 5 v.H. der jeweils festgesetzten Lohnsteuer.
Gegen die Festsetzung der Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer Juni bis September 1979 legte die Klägerin keine Beschwerde ein, beantragte jedoch nach Eintritt der Bestandskraft, diese Verwaltungsakte zurückzunehmen. Das FA lehnte dies mit Schreiben vom 12.Dezember 1979 und vom 14.Dezember 1979 ab. Es verwies darauf, gemäß § 41a des Einkommensteuergesetzes (EStG) habe der Arbeitgeber die Lohnsteuer-Anmeldungen unabhängig von der Abführung der Lohnsteuer einzureichen. Innerbetriebliche personelle Schwierigkeiten entbänden den Arbeitgeber nicht von der Verpflichtung zur Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen zu den gesetzlichen Fälligkeitsterminen.
Gegen diese Ablehnungsbescheide und die Festsetzungen von Verspätungszuschlägen für Oktober und Dezember 1979 sowie für Januar und Februar 1980 legte die Klägerin Beschwerde ein.
In der Beschwerdebegründung führte sie aus, die Säumnis sei entschuldbar, weil die Finanzbuchhalterin bereits seit über einem Jahr ausgefallen sei und weil sie, die Klägerin, über ein Umsatzsteuerguthaben von mehr als 100 000 DM verfüge. Darüber hinaus wäre der Ansatz von Verspätungszuschlägen für eine Verspätung von wenigen Monaten bei der Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen entschuldbar, da die Verwaltung in einem Zeitraum von über drei Jahren über ihre Umsatzsteuereinsprüche nicht entschieden habe. Außerdem sei im Lohnsteuerhaftungsbescheid für Oktober 1979 vom 7.Dezember 1979 sogar nach Ablauf von weniger als einem Monat ein zu hoher Zuschlag von 10 v.H. angesetzt worden.
Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden als unbegründet zurück.
++/ Dagegen erhob die Klägerin persönlich Klage und bezeichnete als deren Gegenstand "Verspätungszuschlagssache betr. Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen für die Monate Juni bis Oktober 1979 Beschwerdebescheid vom 21.10.1980". In der am 9.März 1981 beim Finanzgericht (FG) eingegangenen Klagebegründung erklärte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, die Klage erstrecke sich auch auf die Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer Dezember 1979 bis Februar 1980. Im übrigen wiederholte er das bisherige Vorbringen der Klägerin. /++
Die Klage hatte Erfolg. Das FG hob sämtliche Verfügungen der Verwaltungsbehörden auf und verpflichtete das FA, über den Antrag auf Rücknahme der Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer Juni bis September 1979 erneut zu entscheiden.
++/ Das FG hielt die Klage hinsichtlich der Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer Dezember 1979 bis Februar 1980 für zulässig. Da die Klageschrift keinen bestimmten Antrag enthalte, könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Klage auf die übrigen Verspätungszuschläge beschränkt werden sollte. /++
Soweit sich die Beschwerde gegen die Ablehnung der Rücknahme von Verspätungszuschlägen zur Lohnsteuer Juni bis September 1979 richte, könne der Ansicht der OFD nicht gefolgt werden, daß das FA wegen der Bestandskraft der Bescheide nicht in eine Überprüfung der Festsetzungen einzutreten brauchte. Denn § 130 Abs.1 AO 1977 sehe die Möglichkeit der Rücknahme auch bei unanfechtbaren Verwaltungsakten ausdrücklich vor. Da die erhöhte Bestandskraft grundsätzlich nur für Steuerbescheide vorgesehen sei, sei es nicht gerechtfertigt, bei anderen Bescheiden eine Änderung wegen des Ablaufs der Rechtsbehelfsfrist zu versagen. Deshalb dürfe die Überprüfung eines unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts auch nicht wegen der Gefahr der Aushöhlung der Vorschrift über Rechtsbehelfsfristen verweigert werden. Die Überprüfung könne allenfalls dann abgelehnt werden, wenn ein Rechtsbehelfsverfahren stattgefunden und sich die Behörde mit den Einwendungen des Steuerpflichtigen ausführlich auseinandergesetzt habe. Gerade weil die Klägerin keine Beschwerde eingelegt habe, hätte das FA im Streitfall die Rechtmäßigkeit der Festsetzungen überprüfen müssen.
Die Verspätungszuschläge für Lohnsteuer ab Oktober 1979 seien grundsätzlich gerechtfertigt, da die Erklärungen schuldhaft verspätet abgegeben worden seien. Hinsichtlich der Höhe der Verspätungszuschläge sei ein Ermessensfehler nicht auszuschließen. Nach § 152 Abs.2 Satz 2 AO 1977 seien bei der Bemessung der Verspätungszuschläge u.a. auch die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile zu berücksichtigen. Da das FA die Lohnsteuer stets einen Monat nach Fälligkeit in annähernd zutreffender Höhe durch Haftungsbescheid festgesetzt habe, sei die verspätete Abgabe für den evtl. der Klägerin entstandenen Vorteil nicht ursächlich geworden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dürfe das FA nur in außergewöhnlichen Fällen beim Zusammentreffen mehrerer erschwerender Umstände Verspätungszuschläge bis zur Obergrenze festsetzen. Die Beschwerdeentscheidung lasse nicht erkennen, daß diese Voraussetzungen vorgelegen hätten.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 130 Abs.1 und § 152 Abs.2 Satz 2 AO 1977.
Es beantragt, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
I. ++/ Hinsichtlich der Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer für die Monate Dezember 1979 bis Februar 1980 ist die Revision begründet, weil die Klage entgegen der Auffassung des FG insoweit erst nach Ablauf der Klagefrist erhoben worden ist.
In ihrer Klageschrift vom 8.November 1980 hat die Klägerin sich persönlich gegen die ihrem Prozeßbevollmächtigten am 5.November 1980 zugestellte Beschwerdeentscheidung der OFD vom 21.Oktober 1980 gewendet und hierbei ausdrücklich nur die Verspätungszuschläge für die Monate Juni bis Oktober 1979 als Gegenstand der Klage bezeichnet. Erst nach Ablauf der Klagefrist von einem Monat (§ 47 Abs.1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), in der am 9.März 1981 beim FG eingegangenen Klagebegründung, machte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin geltend, die Klage erstrecke sich auch auf die Verspätungszuschläge Dezember 1979 bis Februar 1980, über die die OFD in ihrer Beschwerdeentscheidung ebenfalls befunden hatte. Das FG hat die Klage auch hinsichtlich dieser Verspätungszuschläge als zulässig angesehen. Dem kann nicht gefolgt werden.
Das FG ist der Ansicht, die Klage habe sich auf insgesamt acht wegen verspäteter Abgabe von Lohnsteuer-Anmeldungen festgesetzter Verspätungszuschläge und somit acht Klagebegehren erstreckt, die in einer Klage zusammengefaßt seien (§ 43 FGO). Bei verbundenen Klagebegehren müssen die Sachurteilsvoraussetzungen für jedes von ihnen vorliegen (BFH-Urteil vom 29.Oktober 1981 I R 89/80, BFHE 134, 245, BStBl II 1982, 150). Das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen ist von Amts wegen in jeder Verfahrenslage zu prüfen. Dies hat der BFH ausdrücklich für die hier zu beurteilende Einhaltung der Klagefrist entschieden (Urteil vom 24.September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268).
Bis zum Ablauf der Klagefrist müssen zumindest diejenigen in § 65 Abs.1 FGO genannten Merkmale vorliegen, von denen es abhängt, ob ein Schriftstück überhaupt als Klageschrift anzusehen ist. Hierzu gehört nicht notwendig die Angabe des Verwaltungsaktes. Hat ein Kläger jedoch den Verwaltungsakt eindeutig bezeichnet und läßt das bisherige Klagevorbringen nicht erkennen, daß die Klage weitere Anfechtungsgegenstände haben könnte, so können weitere Verwaltungsakte nicht mehr zum Gegenstand der Anfechtung gemacht werden, weil für die am Steuerrechtsverhältnis Beteiligten jederzeit feststellbar sein muß, ob ein Verwaltungsakt noch anfechtbar ist (vgl. BFH-Urteil vom 1.April 1981 II R 38/79, BFHE 133, 151, BStBl II 1981, 532). Dies gilt auch, wenn mehrere außergerichtliche Rechtsbehelfe gegen unterschiedliche Verwaltungsakte zu einer gemeinsamen Entscheidung verbunden worden sind.
Im Streitfall hatte die Klägerin hinsichtlich der Verspätungszuschläge Juni bis September 1979 jeweils eine Verpflichtungsklage und für den Monat Oktober 1979 Anfechtungsklage erhoben. Wegen dieser eindeutigen Beschränkung der Klage ist eine Auslegung in dem Sinne nicht möglich, die Klage erstrecke sich auch auf die Verspätungszuschläge Dezember 1979 bis Februar 1980. Denn die Erforschung des wirklichen Willens darf nicht zu der Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte finden lassen. Die Klage hätte daher vom FG insoweit als unzulässig verworfen werden müssen, so daß die Revision schon aus diesem Grunde insoweit Erfolg hat.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht, weil seit dem Ende der versäumten Frist mehr als ein Jahr vergangen ist (§ 56 Abs.3 FGO). /++
II. Entgegen der Auffassung des FG war die Ablehnung der Rücknahme der Verspätungszuschläge zur Lohnsteuer für die Monate Juni bis September 1979 durch die Verwaltung nicht ermessensfehlerhaft.
1. § 130 Abs.1 AO 1977 eröffnet den Finanzbehörden die Möglichkeit, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte jederzeit zurückzunehmen. Diese Vorschrift begründet auch einen Anspruch der Betroffenen auf fehlerfreie Ausübung eines Ermessens, ob der rechtswidrige Verwaltungsakt ganz oder teilweise zurückgenommen werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 3.August 1983 II R 144/80, BFHE 139, 128, BStBl II 1984, 321 --zu § 130 Abs.2 Nr.3 AO 1977--; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 130 AO 1977 Tz.9). Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 130 Abs.1 AO 1977 ist die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts grundsätzlich noch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit möglich. Davon ist auch das FG ausgegangen.
2. Umstritten ist, welche Bedeutung die Unanfechtbarkeit bei einem Antrag des Steuerpflichtigen auf Rücknahme eines Verwaltungsakts hat. Kühn/Kutter/Hofmann (Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl., § 130 AO 1977 Bem.2) sehen unter Hinweis auf das zu § 94 Abs.1 Nr.1 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangene BFH-Urteil vom 7.Dezember 1960 VII 104/60 U (BFHE 72, 225, BStBl III 1961, 84) die Ablehnung einer Rücknahme nicht als ermessensfehlerhaft an, wenn der Betroffene die Gründe für die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts rechtzeitig vor Eintritt der Bestandskraft erfahren hat und kein unter die §§ 172 ff. AO 1977 fallender Änderungsgrund vorliegt. Frotscher in Schwarz (Abgabenordnung, § 130 Anm.10) und Förster in Koch (Abgabenordnung, § 130 Rz.20) halten nach Eintritt der Unanfechtbarkeit die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts für ermessensfehlerfrei, sofern die Sach- und Rechtslage unverändert ist. Tipke/Kruse (a.a.O.) sind demgegenüber der Auffassung, es sei nicht gerechtfertigt, die Rücknahme in jedem Falle unter Hinweis auf die Bestandskraft des Verwaltungsakts abzulehnen. Nach ihrer Kommentierung zu § 172 Tz.4, auf die unter § 130 Tz.9 verwiesen wird, ist eine Ausübung des Ermessens rechtswidrig, wenn eine Rücknahme von Verwaltungsakten bei Unanfechtbarkeit im Regelfall nur vorgenommen wird, wenn dieses sich zugunsten der Verwaltung auswirkt.
Die Finanzverwaltung hat die Ermessensausübung bei festgestellter Rechtswidrigkeit nicht durch Verwaltungsanweisungen geregelt und in dem für den Streitfall angewendeten Einführungserlaß zur AO 1977, Nr.2 Satz 3 zu § 130 AO 1977 nur angeordnet, daß die Rücknahme des Verwaltungsakts erst als letzte Aufhebungsmöglichkeit zu prüfen ist. Hingegen ist die Finanzverwaltung bei nicht festgestellter Rechtswidrigkeit der Auffassung, daß keine Verpflichtung bestehe, in die Überprüfung des Verwaltungsakts einzutreten (Anwendungserlaß zur AO 1977, Nr.2 Satz 2 zu § 130 AO 1977, BStBl I 1987, 664). Dem folgt Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Anm.4 zu § 130 AO 1977). Dagegen hält Wilcke (Harzburger Protokoll 1984, 385, 429) bei einem Antrag auf Rücknahme eines unanfechtbaren, rechtswidrigen Verwaltungsakts eine materiell-rechtliche Prüfung stets für erforderlich, wenn noch kein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren stattgefunden hat.
3. a) Da der Gesetzgeber in § 130 Abs.1 AO 1977 die Rücknahme des Verwaltungsakts ungeachtet des Ablaufs der Rechtsbehelfsfrist in das Ermessen der Finanzbehörden gestellt hat, wird nach Auffassung des erkennenden Senats deutlich, daß nicht jeder als rechtswidrig erkannte belastende Verwaltungsakt zurückzunehmen ist. Es entspricht aber auch nicht dem Zweck der Ermächtigung zur Ermessensausübung, wenn dieses Ermessen grundsätzlich nicht zugunsten der Steuerpflichtigen ausgeübt wird. Bei der Entscheidung, ob einem Begehren auf Rücknahme eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entsprechen ist, hat die Verwaltung vielmehr im konkreten Fall abzuwägen, ob dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gerechtigkeit im Einzelfall oder dem Interesse der Allgemeinheit am Eintritt von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist. Dabei kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes und darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Steuerpflichtigen geltend gemacht wird. Eine Rücknahme kann insbesondere in Betracht kommen, wenn eine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist. Die Änderungsmöglichkeit nach § 130 Abs.1 AO 1977 darf aber nicht dazu führen, daß Vorschriften über Rechtsbehelfsfristen in diesem Teilbereich unterlaufen werden (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O.; Spanner, a.a.O., Anm.9, und Frotscher, a.a.O., Anm.10). Aus diesem Grund braucht die Verwaltung nicht in eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes einzutreten, wenn sich aus der Begründung des Rücknahmeantrages keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit ergeben. Dies entspricht der wohl herrschenden Meinung zum Rücknahmeverfahren gemäß § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes --VwVfG-- (vgl. Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 4.Aufl., 1986, § 48 Anm.22, m.w.N.; Schwabe, Juristenzeitung --JZ-- 1985, 545; anderer Auffassung Korber, Die Öffentliche Verwaltung --DÖV-- 1985, 309).
b) Der erkennende Senat kann der im Einführungserlaß zur AO 1977, Nr.2 Satz 2 zu § 130 AO 1977 (gleichlautend mit dem Anwendungserlaß zur AO 1977 vom 24.September 1987, BStBl I 1987, 664) zum Ausdruck gebrachten Auffassung der Finanzverwaltung, bei bestandskräftigen belastenden Verwaltungsakten, bei denen das Versäumnis der Rechtsbehelfsfrist nicht entschuldbar erscheine, bestehe keine Verpflichtung, in eine Überprüfung des Verwaltungsakts einzutreten, in dieser Allgemeinheit nicht beitreten. Würde man dem folgen, wäre der Regelungsinhalt von § 130 Abs.1 AO 1977 zu stark eingeschränkt; denn die Verwaltung brauchte im Falle der Unanfechtbarkeit auch bei noch so gravierenden Gründen keine erneute Sachprüfung vorzunehmen oder dies nur dann, wenn Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohnehin vorlägen. Im Ergebnis wäre die Entscheidung, ob eine Sachprüfung erfolgen soll, und demzufolge auch die anschließende Rücknahme des Verwaltungsakts allein in das Belieben der Verwaltung gestellt und jeder gerichtlichen Nachprüfung entzogen. Das kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben.
Die Verwaltung hat allerdings keine Veranlassung, auf die bloße Behauptung der Rechtswidrigkeit hin in eine Sachprüfung einzutreten. Dafür muß der Antragsteller die Gründe, aus denen sich schlüssig die Rechtswidrigkeit des belastenden Verwaltungsakts ergibt, näher bezeichnen.
c) Die Auffassung des FG (vgl. auch Wilcke, a.a.O.), bei unanfechtbaren Verwaltungsakten müsse zumindest bei unterbliebenem Rechtsbehelfsverfahren stets eine Sachprüfung durchgeführt werden, berücksichtigt nicht, daß die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten grundsätzlich den dafür vorgesehenen Rechtsbehelfsverfahren vorbehalten ist. Aus § 130 Abs.1 AO 1977 kann nicht geschlossen werden, daß der Gesetzgeber generell bestimmte Verwaltungsakte auch noch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist einem Streit über die Rechtmäßigkeit aussetzen will.
4. Die Anwendung der oben dargestellten Grundsätze auf den Streitfall ergibt, daß die Ablehnung der Rücknahme durch die Verwaltungsbehörden ermessensfehlerfrei war.
Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, daß eine Überprüfung der Verspätungszuschläge nicht vorgenommen worden sei. Denn in dem Ablehnungsbescheid vom 12.Dezember 1979 hat das FA der Klägerin u.a. mitgeteilt, daß der Ausfall von Personal kein Grund sei, die Lohnsteuer-Anmeldungen nicht abzugeben. Dieser Bescheid läßt erkennen, daß das FA die rechtliche Möglichkeit der Aufhebung der Verspätungszuschläge untersucht hat, aber nicht bereit war, im konkreten Fall davon Gebrauch zu machen. Dies gilt auch für die Entscheidung der OFD. Denn unbeschadet einer Berufung auf den Einführungserlaß zur AO 1977 unter Nr.2 Satz 2 zu § 130 AO 1977, der der erkennende Senat nicht folgt, lassen die weiteren Gründe der Beschwerdeentscheidung erkennen, daß die OFD die Rechtmäßigkeit aller Verspätungszuschläge überprüft hat. Die OFD sah die Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen zu Recht als verspätet an und hielt die festgesetzten Zuschläge offensichtlich auch der Höhe nach für zutreffend. Dies ist nicht zu beanstanden.
Wie bereits ausgeführt, kann --von dem hier nicht in Betracht kommenden Fall einer Änderung der Sach- und Rechtslage abgesehen-- dann ein Anspruch der Betroffenen auf Rücknahme des belastenden Verwaltungsaktes bestehen, wenn die Offensichtlichkeit und Schwere des Rechtsverstoßes dies rechtfertigt. Ein solcher Sachverhalt ist hier nach den das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des FG nicht gegeben. Unstreitig hatte die Klägerin seit April 1979 die Lohnsteuer-Anmeldungen verspätet eingereicht. Streitig ist nach dem Vorbringen der Klägerin nur die Entschuldbarkeit der Verspätung und die Höhe der festgesetzten Zuschläge. Dem von der Klägerin angeführten Ausfall der Bürokraft trug das FA Rechnung, indem es die Verspätungszuschläge für die Monate April und Mai 1979 aufhob; ob darüber hinaus eine Aufhebung für weitere Monate geboten war, bedarf im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung im Rücknahmeverfahren keiner abschließenden Entscheidung, weil es sich jedenfalls nicht um einen offensichtlichen schweren Rechtsverstoß handelte. Dies gilt auch für die Höhe der festgesetzten Verspätungszuschläge. Denn immerhin hatte die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen für Juli bis September 1979 weder zum Zeitpunkt der Festsetzung der Verspätungszuschläge noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Rücknahmeantrag abgegeben. Der letztere Umstand muß zwar für die Frage der Beurteilung der Rechtmäßigkeit außer Betracht bleiben; bei der Entscheidung, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen werden soll, ist die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt aber mit zu berücksichtigen.
Das Urteil des FG ist danach insoweit aufzuheben.
Entgegen der Auffassung des FG ist auch die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Lohnsteuer für den Monat Oktober 1979 ermessensfehlerfrei.
1. Zutreffend geht das FG davon aus, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Festsetzungen vorlagen. Gemäß § 41a Abs.1 Satz 1 Nr.1 EStG hat der Arbeitgeber spätestens am 10.Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums eine Lohnsteuer-Anmeldung abzugeben. Im Streitfall war der maßgebliche Anmeldungszeitraum der Kalendermonat (§ 41a Abs.2 EStG). Für Oktober 1979 war danach die Lohnsteuer-Anmeldung spätestens am 10.November 1979 abzugeben. Tatsächlich wurde die Anmeldung erst im März 1980, also verspätet, übergeben. Die Verspätung erscheint auch nicht wegen des Ausfalls der Buchhalterin entschuldbar, weil sich die Klägerin darauf längst hätte einstellen müssen, wie das FG mit Recht ausführt.
2. Das FG hält die Festsetzung der Verspätungszuschläge in erster Linie deshalb für zu hoch, weil die aus der verspäteten Abgabe gezogenen Vorteile wegen der bereits einen Monat nach Fälligkeit erfolgten Festsetzung der Lohnsteuer durch Haftungsbescheid gering gewesen seien und die Beschwerdeentscheidung nicht erkennen lasse, daß ein außergewöhnlicher Fall im Sinne der Rechtsprechung des BFH vorgelegen habe. Dem kann nicht gefolgt werden.
Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 29.März 1979 V R 69/77, BFHE 128, 17, BStBl II 1979, 641, und vom 30.April 1987 IV R 42/85, BFHE 149, 429, BStBl II 1987, 543) ist bei der Bemessung des Verspätungszuschlags von seinem in § 152 Abs.2 Satz 2 AO 1977 genannten Zweck auszugehen, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten. Demgemäß muß der Verspätungszuschlag so bemessen sein, daß er ein wirksames Druckmittel ist. Außerdem sind gemäß § 152 Abs.2 Satz 2 AO 1977 die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Diese Kriterien stehen grundsätzlich gleichwertig nebeneinander. Das FG stellt hingegen ausdrücklich nur auf den durch die verspätete Abgabe gezogenen Vorteil ab.
Das FG durfte die Dauer der Fristüberschreitung und das Verschulden der Klägerin nicht außer acht lassen. Diese Merkmale hatte die OFD besonders hervorgehoben; sie waren maßgeblich für die erhebliche Höhe der Verspätungszuschläge. Diese Gewichtung erscheint nicht ermessensfehlerhaft, da die Klägerin fortwährend keine Lohnsteuer-Anmeldungen abgegeben hatte und der Verpflichtung zur Abgabe der Anmeldungen für den Monat Oktober 1979 erst im März 1980, also vier Monate nach Fälligkeit nachgekommen war. Nicht zugunsten der Klägerin fällt ins Gewicht, daß die Lohnsteuerabzugsbeträge ca. einen Monat nach Fälligkeit durch Haftungsbescheid in geschätzter Höhe festgesetzt worden waren. Die Erwägung des FG, dieser Sachverhalt müsse so beurteilt werden, als habe die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen bereits abgegeben, ist nicht frei von Rechtsfehlern, weil sie mit dem Gesetzeswortlaut nicht übereinstimmt, der nur die Fristüberschreitung bei der Abgabe erwähnt. Vielfach ist die Finanzverwaltung gezwungen, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, weil keine Steuererklärungen abgegeben werden. In diesen Fällen besteht die Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärungen fort; eine Schätzung ist grundsätzlich nicht maßgeblich für die Höhe der Verspätungszuschläge und die Dauer der Fristüberschreitung. Es ist vielmehr der Ansicht des FA zu folgen, wonach der Umstand, daß die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden mußten, bei der Bemessung der Verspätungszuschläge zuungunsten der Klägerin zu berücksichtigen sind.
Insgesamt erscheint es nicht ermessensfehlerhaft, daß im Streitfall der Verspätungszuschlag mit dem Höchstsatz von 10 v.H. bemessen wurde; denn es handelt sich wegen der Häufigkeit der verspäteten Abgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen und der Dauer der Verspätung von mehreren Monaten um einen außergewöhnlichen Fall, bei dem mehrere erschwerende Umstände zusammentreffen (BFHE 128, 17, BStBl II 1979, 641, und BFHE 149, 429, BStBl II 1987, 543). Da diese zwei Kriterien besonders ins Gewicht fallen, kommt es nicht entscheidend darauf an, daß der von der Klägerin gezogene Vorteil nicht besonders hoch ist.
Ermessensentscheidungen der Finanzbehörde sind von den Gerichten nur daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO). Das ist hier nicht der Fall.
Das Urteil des FG ist somit in vollem Umfang aufzuheben. Die Sache ist spruchreif, die Klage ist abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 62672 |
BFH/NV 1989, 37 |
BStBl II 1989, 749 |
BFHE 157, 1 |
BFHE 1990, 1 |
BB 1989, 1750-1750 (L1-3) |
DB 1989, 2006-2008 (LT) |
HFR 1989, 587 (LT) |