Leitsatz (amtlich)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht deshalb gewährt werden, weil eine dritte Person, die - ohne zum Prozeßbevollmächtigten bestellt zu sein - unentgeltlich und aus Freundschaft für den Steuerpflichtigen die Fristüberwachung und die Erstellung einer unterschriftsreifen Klageschrift übernommen hat, unerwartet stirbt und die Klagefrist dadurch versäumt wird.
Normenkette
FGO § 56
Tatbestand
Der Revisionskläger (Steuerpflichtiger) war in den Streitjahren Gastwirt. Im Anschluß an eine Prüfung der Steuerfahndung erließ der Revisionsbeklagte (FA) berichtigende Bescheide über Umsatzsteuer und Gewerbesteuer 1952 bis 1959 und Einkommensteuer 1952 bis 1955. Die Einsprüche des Steuerpflichtigen blieben erfolglos. Die Einspruchsentscheidungen wurden dem Steuerpflichtigen am 27. Oktober 1970 durch Niederlegung bei der Post zugestellt.
Mit Schreiben vom 12. Februar 1971, eingegangen am 16. Februar 1971, erhob der Steuerpflichtige Klage und beantragte, ihm wegen unverschuldeter Versäumnis der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung wurde ausgeführt:
Der Steuerpflichtige habe die Einspruchsbescheide vom 23. Oktober 1970 einem Herrn J. übergeben mit der Bitte, die Fristen sorgfältig zu beachten und etwaige Schreibarbeiten zu erledigen. J., der im Januar 1971 verstorben sei, habe seit Jahren schriftliche Arbeiten, insbesondere den Schriftwechsel mit Behörden, für ihn zuverlässig ausgeführt. Er habe angenommen, daß J. die Rechtsbehelfe fristgerecht abfassen werde. Er habe ihn beauftragt, den Klageschriftsatz zu fertigen und ihm zur Unterschrift vorzulegen. Die Begründung der Klage habe ein Rechtsanwalt übernehmen sollen. Eine Vollmacht zur Vertretung bei Behörden und Gerichten habe J. nicht besessen. Regelmäßig habe J. ihm allwöchentlich Schriftstücke zur Unterschrift vorgelegt. J. habe auch Schriftstücke an ihn nachgesandt, wenn er sich auf Reisen befunden habe. Besondere Anmahnungen oder Kontrollen seien nicht erforderlich gewesen.
Tatschächlich sei J. bereits bei Übergabe der Einspruchsbescheide schwer leidend gewesen, ohne daß er - der Steuerpflichtige - das gewußt habe. Erst Ende November 1970 habe er erfahren, daß J. schwer erkrankt sei. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich nicht mehr daran erinnert, daß noch Rechtsbehelfe einzulegen gewesen seien. Erst anläßlich eines Vollstreckungsersuchens des beklagten FA beim FA B. sei ihm eröffnet worden, daß die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre rechtskräftig seien. Er habe sich daraufhin mit der Witwe des J. in Verbindung gesetzt und dort die Einspruchsbescheide vorgefunden.
Er selbst habe am 30. Januar 1969 bei einem schweren Autounfall einen Schädelbasisbruch erlitten und leide seither an Gedächtnisstörungen und an Konzentrationsmangel. Infolge seiner starken beruflichen Inanspruchnahme im November 1970 und seiner Gedächtnisschwäche sei ihm entfallen, daß Einspruchsentscheidungen vorlägen.
Der Steuerpflichtige bezeichnete zunächst in einer eidesstattlichen Versicherung J. als pensionierten Beamten. In einem späteren Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 22. März 1971 wurde ausgeführt, J. sei, bevor er sich zur Ruhe gesetzt habe, freiberuflicher Wirtschaftsberater gewesen.
Das FG verneinte die Zulässigkeit der Klage und gewährte keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige Verfahrensmängel und unrichtige Anwendung der Grundsätze über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist nicht begründet.
1. Der Steuerpflichtige erblickt eine Versagung des rechtlichen Gehörs darin, daß das FG ihn nicht auf die besondere (entscheidungserhebliche) Bedeutung des von J. tatsächlich früher ausgeübten Berufes hingewiesen habe. Für diesen Hinweis habe Veranlassung bestanden, weil - entgegen der ursprünglichen Darstellung des Steuerpflichtigen, J. sei pensionierter Beamter gewesen - im weiteren Verlauf des FG-Verfahrens angeführt worden sei, J. habe den Beruf eines selbständigen Wirtschaftsberaters ausgeübt.
Diese Rüge ist nicht begründet. Eine Versagung des rechtlichen Gehörs, die einen absoluten Revisionsgrund darstellt (§ 119 Nr. 3 FGO), liegt nicht vor. Der Steuerpflichtige hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 22. März 1971 vortragen lassen, J. sei, "bevor er sich zur Ruhe gesetzt habe", freiberuflicher Wirtschaftsberater gewesen. Welchen Beruf J. vor seiner Zurruhesetzung - also vor seiner Tätigkeit für den Steuerpflichtigen in der vorliegenden Sache - ausgeübt hatte, kann jedoch unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt von Bedeutung sein. Deshalb konnte das FG auch ohne Verletzung seiner Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) davon absehen, über die frühere Tätigkeit des J. weitere tatsächliche Ermittlungen anzustellen. Auch die insoweit erhobene Rüge des Steuerpflichtigen ist nicht begründet.
2. Der Steuerpflichtige ist der Ansicht, die Einspruchsentscheidungen seien unter Verletzung des rechtlichen Gehörs zustande gekommen, weil das FA zunächst die Aussetzung des Verfahrens angeordnet, dann aber - ohne diese Anordnung aufzuheben - die Einspruchsentscheidungen erlassen habe. Die Einspruchsentscheidungen seien daher nichtig und hätten auch außerhalb der Klagefrist angefochten werden können.
Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Verfahrensmängel, wie die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs durch die Verwaltungsbehörden, führen nicht zur Nichtigkeit eines Verwaltungsakts, sondern allenfalls zur Anfechtbarkeit innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen (Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 91 der Reichsabgabenordnung Anm. 31).
3. Das FG hat dem Steuerpflichtigen auch zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Wiedereinsetzung kann nur gewährt werden, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO), was schon bei einem leichten Verschulden ausgeschlossen ist.
a) Der Steuerpflichtige kann sich durch die Berufung auf den unerwarteten Tod des J. nicht entlasten.
Hat der Steuerpflichtige einen Prozeßbevollmächtigten bestellt und treten im Kreise des Bevollmächtigten unerwartete Umstände auf, die die Versäumnis der Klagefrist als entschuldbar erscheinen lassen, so wird in aller Regel Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein. Bevollmächtigter in diesem Sinne ist jedoch nur, wem die Prozeßpartei das Recht verliehen hat, in ihrem Namen unmittelbar beim Gericht Klage zu erheben (§ 62 FGO). Nur derjenige, dem diese Befugnis übertragen wurde, ist in der Lage, selbst alles Erforderliche zu tun, um die Klagefrist zu wahren.
Im Streitfall hat das FG - insoweit übereinstimmend mit dem Vortrag des Steuerpflichtigen - festgestellt, daß J. keine Vollmacht hatte, vor Gericht im Namen des Steuerpflichtigen aufzutreten. Wie der Steuerpflichtige selbst in seiner eidesstattlichen Versicherung ausführte, war J. nur damit beauftragt, die Frist zu überwachen und die Klageschrift für ihn - den Steuerpflichtigen - unterschrifts- und absendereif zu fertigen. Durch einen in dieser Weise begrenzten Auftrag war der Steuerpflichtige nicht der Verantwortung enthoben, die Klage selbst - etwa durch Notierung des Fristablaufs - zu überwachen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob gleiche Grundsätze auch dann gelten, wenn die Prozeßpartei einen Rechtsanwalt oder einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe oder einen in seinem Betrieb Angestellten im Rahmen eines bestehenden Dienstvertrages beauftragt, ihr die Fristüberwachung und die Fertigung der Klageschrift abzunehmen. Jedenfalls dann, wenn - wie im Streitfall - eine Privatperson die übertragenen Aufgaben "unentgeltlich aus Freundschaft" (eidesstattliche Versicherung des Steuerpflichtigen) wahrnimmt, bleibt die Verantwortung für die Fristwahrung bei der Prozeßpartei selbst. Das gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige keinen Anlaß hatte, an der Zuverlässigkeit der beauftragten Person zu zweifeln.
b) Der Steuerpflichtige kann sich auch nicht zu seiner Entlastung auf die Folgewirkungen seines im Jahre 1969 erlittenen Autounfalls berufen.
Krankheit schließt Verschulden bei einer Fristversäumnis nur dann aus, wenn der Steuerpflichtige dadurch verhindert gewesen ist, selbst die versäumte Prozeßhandlung wahrzunehmen oder einen Bevollmächtigten zu bestellen (Beschluß des BFH I B 50/70 vom 10. März 1971, BFH 101, 466, BStBl II 1971, 401). Auch Arbeitsüberlastung ist grundsätzlich kein Wiedereinsetzungsgrund (BFH-Beschluß II R 8/68 vom 20. Juni 1968, BFH 93, 30, BStBl II 1968, 659). Weder der Gesundheitszustand des Steuerpflichtigen noch seine Arbeitsüberlastung haben ihn daran gehindert, mindestens einen Bevollmächtigten für die Klageerhebung zu bestellen. Gerade wenn der Steuerpflichtige unter starkem Arbeitsdruck gestanden und an Gedächtnisstörungen gelitten hat, hätte zur Bestellung eines Bevollmächtigten in besonderem Maße Veranlassung bestanden. Der Steuerpflichtige hat auch nicht glaubhaft gemacht, daß er infolge seiner Krankheit nicht in der Lage war, die Notwendigkeit der Bestellung eines Vertreters im Sinne des § 62 FGO zu erkennen. Ebenso wie sich der Steuerpflichtige ratsuchend an einen Rechtsanwalt gewandt hat, nachdem er die Fristversäumnis erkannt hatte, hätte er sich schon vor Ablauf der Frist erkundigen können, welche Maßnahmen zur Fristwahrung erforderlich seien. Das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte neurologisch-psychiatrische Fachgutachten vermag diese Beurteilung nicht zu erschüttern.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 413154 |
BStBl II 1972, 430 |
BFHE 1972, 510 |