Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, ob im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen eine Verfügung, mit der die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung angeordnet wurde (§ 332 AO), Änderungen der Verhältnisse berücksichtigt werden können, die nach Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung eingetreten sind.
Normenkette
AO § 332; FGO §§ 40, 102
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - erließ am 11. Mai 1971 nach § 100 Abs. 1 AO gegen die Kläger und Revisionskläger (Kläger) vorläufige, inzwischen bestandskräftige Einkommensteuer-, Kirchensteuer- und Ergänzungsabgabebescheide für 1965 bis 1970 und Umsatzsteuerbescheide für 1966 bis 1970. Nach vorangegangener fruchtloser Pfändung ordnete das FA durch Verfügung vom 1. Oktober 1971 an, ein Vermögensverzeichnis vorzulegen, für etwaige Forderungen den Grund und die Beweismittel zu bezeichnen und eine eidesstattliche Versicherung abzugeben (§ 332 AO).
Die Beschwerde der Kläger gegen die Verfügung vom 1. Oktober 1971 wies die OFD mit Entscheidung vom 27. Oktober 1971 als unbegründet zurück. Sie führte aus, die Voraussetzungen des § 332 AO hätten vorgelegen. Insbesondere sei fruchtlos gepfändet worden. Auch habe das FA nicht ermessensfehlerhaft gehandelt.
Die dagegen erhobene Klage begründeten die Kläger im wesentlichen damit, die Durchführung des Offenbarungseidverfahrens gefährde ihre wirtschaftliche Existenz. Der Streit hinsichtlich der Vorlage des Vermögensverzeichnisses erledigte sich während des Klageverfahrens, nachdem die Kläger entsprechende Verzeichnisse vorgelegt hatten.
Die Klage wegen der Anordnung der eidesstattlichen Versicherung hatte keinen Erfolg. Das FG hielt die Anordnung, diese Versicherung abzugeben, nicht für ermessensfehlerhaft. Es führte aus, für die gerichtliche Prüfung komme es auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an (Urteil des BFH vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919). Da die Vollstreckung aus vorläufigen Steuerbescheiden betrieben werde, sei zu prüfen, ob ernstzunehmende Zweifel an der Steuerforderung bestünden (BFH-Beschluß vom 27. Juni 1956 II 284/55 U, BFHE 63, 81, BStBl III 1956, 228). Im Streitfall seien diese Voraussetzungen für sämtliche Steuerbescheide gegeben. Auch im übrigen sei die Anordnung der eidesstattlichen Versicherung gegenüber den Klägern als nicht ermessensfehlerhaft anzusehen. Die Kläger hätten in den vorgelegten Vermögensverzeichnissen Konten bei Schweizer Banken bewußt nicht angegeben. Unter diesen Umständen sei der Verdacht des FA nicht unbegründet, die Kläger könnten noch weitere Konten, insbesondere Nummernkonten oder Nummerndepots, haben.
Die Revision rügt Verletzung des § 332 Abs. 2 Satz 2 AO. Sie führt aus, das FG habe insbesondere zu Unrecht auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung der OFD abgestellt. Zwar entspreche das der Rechtsprechung des BFH. Dieser Grundsatz müsse aber dann eine Durchbrechung erfahren, wenn es der Sachverhalt erfordere. Ein solcher Sachverhalt liege vor. Angesichts ihrer Bereitschaft, die Steuerschuld nach besten Kräften zu tilgen und der tatsächlich auch geleisteten Zahlungen habe für das FA in jedem Stadium des Vollstreckungsverfahrens Anlaß bestanden zu prüfen, ob die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung weiterhin geboten sei. Die Anwendung des § 332 Abs. 2 Satz 2 AO sei nicht auf den Zeitpunkt der ersten Anordnung der Vollstreckungsmaßnahme beschränkt, sondern während der ganzen Dauer des Vollstreckungsverfahrens zulässig. Ein Vollstreckungsverfahren sei nicht mit seiner Anordnung abgeschlossen. Es sei vielmehr die Regel, daß es sich über einen mehr oder minder langen Zeitraum erstrecke. Weil sich während des Vollstreckungsverfahrens wesentliche Gesichtspunkte ergeben könnten, die eine andere Beurteilung als im Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme erforderten, habe die Verwaltung auch in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob eine früher angeordnete Maßnahme noch gerechtfertigt sei. Unterlasse sie diese Prüfung, so wende sie ihr Ermessen im Rahmen des § 332 Abs. 2 Satz 2 AO fehlerhaft an.
Auf diesem Mangel beruhe das angefochtene Urteil. Das FG habe ihnen versagt, die Tatsache hinreichend zur Geltung zu bringen, daß sie die rückständigen Umsatzsteuern im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bereits zur Hälfte getilgt hätten. Die Zahlungswilligkeit eines Schuldners sei aber im Vollstreckungsrecht ein Grund, von einschneidenden Maßnahmen abzusehen, insbesondere dann, wenn diese Maßnahmen geeignet seien, die wirtschaftliche Existenz des Schuldners zu vernichten. Wegen seiner unrichtigen Rechtsauffassung habe das FG Ermittlungen über die persönliche Schutzbedürftigkeit der Kläger für den Zeitraum seit Erlaß der angefochtenen Verfügung des FA unterlassen. Mit diesem Hinweis werde auch mangelhafte Sachaufklärung gerügt. So sei die Prüfung unterblieben, ob ihre Angaben oder diejenigen des FA über den Umfang der bisherigen Tilgungen zutreffend seien. Statt dessen sei der von der Verwaltung angegebene Betrag der rückständigen Umsatzsteuer unterstellt worden. Daraus seien für sie negative Schlüsse gezogen worden. Auch sei die Darstellung des FA ungeprüft übernommen worden, die Ratenzahlungen rührten zu einem wesentlichen Teil aus Pfändungen des FA her. In Wahrheit machten die aus Pfändungen erhaltenen Beträge nur einen geringen Bruchteil aus. Auch sei nicht berücksichtigt worden, daß sie, die Kläger, gleichzeitig rückständige Zollabgaben getilgt hätten. Zu Unrecht sei nicht berücksichtigt worden, daß sie Regreßansprüche in größtem Umfang gleichzeitig hätten befriedigen müssen, andererseits aber durch die Beschlagnahme seitens der Staatsanwaltschaft einen erheblichen Teil ihres Warenbestandes verloren hätten.
Das FA macht geltend, daß maßgeblicher Zeitpunkt, in dem die Verhältnisse für die Beurteilung einer Ermessensentscheidung einer Verwaltungsbehörde zugrunde zu legen seien, nur der Zeitpunkt sein könne, in dem die Behörde entscheide. Die Prüfung, ob die Ablehnung, Anordnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig sei, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei, könne nur auf die zu dem Zeitpunkt der Ermessensentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage bezogen sein. Diese Auffassung sei sogar zwingend, da nach § 102 FGO das FG nur die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungsaktes des FA zu prüfen habe. Bei Zugrundelegung einer gegebenenfalls neuen Entwicklung des Falles würde das entscheidende Gericht jedoch zwangsläufig eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens des FA setzen, womit es die vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis überschreiten würde.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Die angefochtene Verfügung, mit der das FA die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung nach § 332 AO anordnete, ist rechtmäßig. Zu diesem Ergebnis ist das FG zu Recht gelangt. Die Vorentscheidung hat die Erwägungen, auf welche die OFD in ihrer Beschwerdeentscheidung die angefochtene Verfügung gestützt hat, im wesentlichen vollständig und richtig gewürdigt. Diese Erwägungen rechtfertigen die Klageabweisung. Daß das FG darüber hinaus eigene Erwägungen zur Stützung der angefochtenen Verfügung angestellt hat, kann hier außer Betracht bleiben, da die Vorentscheidung darauf nicht beruht; die zusätzlichen Erwägungen des FG sollten offensichtlich nur die Richtigkeit der Argumentation der OFD unterstreichen.
Die Kläger wenden sich gegen die Auffassung des FG, bei Überprüfung der angefochtenen Verfügung sei auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen. Das FG hat sich zur Begründung seiner Auffassung auf die ständige Rechtsprechung des BFH berufen (vgl. Urteile vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649, und vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919, und die in diesen Urteilen zitierte Rechtsprechung). Es ist aber in der Tat zweifelhaft, ob diese Rechtsprechung hier Anwendung finden kann. Sie ist nämlich ausschließlich zu Verfügungen ergangen, durch die die Verwaltung den Antrag auf einen Billigkeitserweis nach § 131 AO abgelehnt hat, also zu Verwaltungsakten, die ein Verwaltungsverfahren zu erledigen bestimmt waren. Im Gegensatz zu solchen Verwaltungsentscheidungen liegt hier eine Verfügung auf dem Gebiet der Beitreibung vor, die noch nicht vollzogen ist, da die angeordnete eidesstattliche Versicherung noch nicht abgegeben worden ist. Hinsichtlich solcher noch nicht vollzogener Verwaltungsakte (wie im übrigen auch für sogenannte Dauerverwaltungsakte) hat das Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - entschieden (vgl. das zusammenfassende Urteil vom 15. November 1967 I C 43.67, BVerwGE 28, 202), daß mit einer Anfechtungsklage gegen einen solchen Verwaltungsakt nicht nur eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieses Aktes im Zeitpunkt seines Ergehens begehrt werden kann (Aufhebung ex tunc), sondern auch über die Rechtmäßigkeit seiner Aufrechterhaltung (Aufhebung ex nunc). Das BVerwG hat daraus die Folgerung gezogen, daß eine Änderung der Sach- und Rechtslage nach Ergehen der letzten Verwaltungsentscheidung grundsätzlich bei der Entscheidung der Frage berücksichtigt werden müsse, ob die Behörde zu Recht den angefochtenen Verwaltungsakt noch aufrechterhält. Diese Folgerung hat das BVerwG allerdings allein bei gebundenen Verwaltungsakten gezogen (vgl. auch Ossenbühl, Die maßgebliche Sach- und Rechtslage für die gerichtliche Beurteilung von Ermessenentscheidungen, Juristenzeichung 1970 S. 348 - JZ 1970, 348 -); es hat dagegen bei Anfechtungsklagen gegen Ermessensentscheidungen der Verwaltung - die streitige Verfügung stand im Ermessen des FA - die Berücksichtigung der Entwicklung nach Ergehen der Ermessenentscheidung grundsätzlich abgelehnt (vgl. Urteile vom 25. Februar 1965 I C 74.72, Monatsschrift für Deutsches Recht 1965 S. 603 - MDR 1965, 603 -; vom 12. März 1965 VII C 175.63, BVerwGE 20, 316, und vom 19. Juni 1969 I C 33.67, JZ 1969, 702). Von dieser Rechtsauffassung weicht allerdings wohl das vor Erlaß der Finanzgerichtsordnung ergangene BFH-Urteil vom 17. April 1952 IV 27/52 U (BFHE 56, 389, BStBl III 1952, 152) ab, in dem wie hier über die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsentscheidung im Beitreibungsverfahren (und zwar einer Arrestanordnung) zu entscheiden war und der BFH erkannt hat, daß der Prüfung des FG der gesamte Tatbestand unterliege, wie er sich in der Zeit vom Erlaß des Arrestes bis zur Entscheidung der Tatsacheninstanz ergeben habe (vgl. auch Kröller, Vollstrekkungsschutz im Verwaltungszwangsverfahren 1970 S. 90).
Im vorliegenden Fall braucht diese Frage jedoch nicht entschieden zu werden, weil die von den Klägern vorgetragenen nachträglich eingetretenen Umstände - Zahlungswilligkeit, Tilgung der Schulden bereits zur Hälfte, Vorlage eines Vermögensverzeichnisses, Pflicht der Kläger zur Zahlung rückständiger Zölle und zur Befriedigung von Regreßansprüchen - Tatsachen sind, die, auch wenn sie zuträfen und zu berücksichtigen wären, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt die Aufrechterhaltung der angefochtenen Verfügung als ermessensmißbräuchlich und damit rechtswidrig erscheinen lassen könnten. Das gilt um so mehr als auch bei Zugrundelegung des Vortrags der Kläger die Steuerrückstände immer noch erheblich wären und als ferner zu den nachträglich eingetretenen und dann ebenfalls zu berücksichtigenden Tatsachen nach den Feststellungen des FG auch der Umstand zählen würde, daß die Kläger zunächst ein falsches Vermögensverzeichnis vorgelegt und darin bei Schweizer Banken bestehende Konten bewußt verschwiegen hatten. Das FG konnte daher die von den Klägern behaupteten nachträglich eingetretenen Umstände als nicht entscheidungserheblich außer Betracht lassen, so daß die Rügen der Kläger, das FG habe insoweit seine Aufklärungspflicht verletzt, nicht begründet sind.
Fundstellen
Haufe-Index 71770 |
BStBl II 1976, 257 |
BFHE 1976, 430 |