Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die nach § 94 AO erteilte Zustimmung eines Steuerpflichtigen zur änderung eines Steuerbescheids ist kein stillschweigender Rechtsmittelverzicht, auch wenn der Steuerpflichtige gleichzeitig erklärt, ein früher eingelegtes Rechtsmittel zurückzunehmen.
Normenkette
AO §§ 94, 248, 235; FGO § 50
Tatbestand
Mit den Steuerbescheiden vom 19. Mai 1959 berichtigte das Finanzamt (FA) nach einer Steuerfahndungsprüfung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO die Einkommensteuerveranlagungen der Stpfl. für die Jahre II/1948 bis 1956. Die Stpfl. focht die berichtigten Steuerfestsetzungen, denen für die Jahre II/1948 bis 1953 nur Einkünfte aus Gewerbebetrieb und für die Jahre 1954 bis 1956 dazu noch Einkünfte (Verluste) aus Vermietung und Verpachtung zugrunde lagen, an. Im finanzgerichtlichen Verfahren erklärte sich die Stpfl. im Schreiben vom 5. Februar 1962 mit der Erledigung des Rechtsstreits einverstanden, wenn das FA im Anschluß an eine vorangegangene Besprechung die gewerblichen Gewinne zahlenmäßig niedriger festsetze. Daraufhin setzte das FA gemäß § 94 AO in zwei Sammelbescheiden die Einkünfte der Stpfl. aus Gewerbebetrieb für die Jahre II/1948 bis 1953 und für 1954 bis 1956 entsprechend dem Schreiben der Stpfl. fest und erteilte die übliche Rechtsmittelbelehrung. Das Finanzgericht (FG) erklärte daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und entschied über die Kosten des Verfahrens.
Die Stpfl. legte gegen den Sammelbescheid für die Jahre 1954 bis 1956 Einspruch mit der Begründung ein, die Verluste aus Vermietung und Verpachtung seien zu niedrig angesetzt. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil die Stpfl. in dem Schreiben vom 5. Februar 1962 auf Rechtsmittel verzichtet habe.
Das FG folgte dem FA darin, daß die Stpfl. wirksam auf Rechtsmittel verzichtet habe. Es führte aus, das Schreiben vom 5. Februar 1962 enthalte die Zustimmung zur Berichtigung der angefochtenen Veranlagung im Sinne des § 94 AO und den Verzicht auf ein neues Rechtsmittel, soweit das FA der Zustimmung entspreche. Die Zustimmung nach § 94 AO schließe zwar nicht ohne weiteres aus, den berichtigten Steuerbescheid anzufechten. Wenn aber ein Steuerpflichtiger, der durch einen rechtskundigen Berater vertreten sei, gleichzeitig mit der Zustimmung die Erledigung des Rechtsstreits in Aussicht stelle, so sei anzunehmen, daß er mit der Berichtigung das Rechtsmittelverfahren als endgültig abgeschlossen betrachte. Der BFH habe zwar für die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, der vor dem Ergehen eines Steuerbescheids erklärt werde, im Interesse der Rechtssicherheit die ziffernmäßige Bekanntgabe der Steuerfestsetzung verlangt (Urteile IV 524/52 U vom 30. Juli 1953, BFH 57, 760, BStBl III 1953, 288; I 186/54 U vom 2. August 1955, BFH 61, 345, BStBl III 1955, 331; IV 319/59 U vom 4. August 1960, BFH 71, 480, BStBl III 1960, 429). Dieser Gesichtspunkt greife aber hier nicht durch, weil die Stpfl. ausreichend Gelegenheit gehabt habe, die Steuern selbst auszurechnen.
Entscheidungsgründe
Die Revision, mit der die Stpfl. bestreitet, einen Rechtsmittelverzicht abgegeben zu haben, führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Nach der vom FG angeführten Rechtsprechung des BFH ist ein Rechtsmittelverzicht nach § 248 AO a. F., (§ 235 AO n. F., § 50 FGO) auch schon zulässig, bevor ein Steuerbescheid ergangen ist. An Rechtsmittelverzichte, die vor Erlaß des Steuerbescheids erklärt werden, sind aber im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes für die Steuerpflichtigen strenge Anforderungen zu stellen. Im Urteil IV 524/52 U (a. a. O.) hat der BFH die strengen Anforderungen des RFH noch verschärft und insbesondere verlangt, daß der nachzuzahlende Betrag - getrennt nach Steuerart und Jahr - dem Stpfl. bekanntgegeben wird, damit der Stpfl. die Tragweite des Rechtsmittelverzichts klar übersieht. Er verlangte ferner, daß diese Bekanntgabe in einer Verhandlungsniederschrift festgehalten wird, damit eine klare Beweislage geschaffen wird. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber bei der Neufassung der AO durch das Gesetz zur änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 (BGBl I 1965 S. 1356) und vom 13. November 1965 (BGBl I 1965 S. 1817, BStBl I 1965 S. 643) in der Neufassung des § 235 Abs. 1 AO legalisiert.
Das FG stellt fest, daß sich die Stpfl. mit einer Berichtigung der Steuerbescheide gemäß § 94 AO einverstanden erklärt habe und sieht darin einen Rechtsmittelverzicht. Dem ist nicht zuzustimmen. Der BFH hat bereits im Urteil I 186/54 U (a. a. O.) entschieden, daß es mit den strengen Anforderungen, die an vorweg abgegebene Rechtsmittelverzichte gestellt werden, nicht zu vereinbaren sei, zweifelhafte Erklärungen zuungunsten eines Steuerpflichtigen auszulegen. Ein Rechtsmittelverzicht müsse eindeutig erklärt werden. Stimmt ein Steuerpflichtiger etwa dem Betriebsprüfungsergebnis, dem Steuerfahndungsbericht oder der Berichtigung einer Veranlagung gemäß § 94 AO zu, so können solche Erklärungen über ihren eigentlichen Inhalt hinaus nicht als Rechtsmittelverzichte ausgelegt werden. Der Stpfl. erklärt dabei nicht einwandfrei, daß er sich hinsichtlich der Einlegung eines Rechtsmittels seiner Handlungsfreiheit unwiderruflich begeben wolle. Das FA hat im übrigen selbst die Erklärung der Stpfl. nicht in diesem Sinne verstanden; denn sonst hätte es der Stpfl. in den Berichtigungsbescheiden nicht die übliche Rechtsmittelbelehrung erteilt, sondern erklärt, daß gegen die Berichtigungsbescheide keine Rechtsmittel gegeben seien, weil die Stpfl. darauf verzichtet habe.
Das FG hat demnach § 248 AO a. F. unrichtig angewendet. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben. Bei der weiteren Behandlung muß es folgendes beachten:
Es muß davon ausgehen, daß kein Rechtsmittelverzicht erklärt worden ist. Es hat durch Befragen der Beteiligten zu klären, ob die Stpfl. sich seinerzeit zur Berichtigung der gesamten Steuerfestsetzung in den Streitjahren, d. h. auch soweit es sich um die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung handelt, einverstanden erklärt hat oder ob sich ihre Zustimmung zu einer Berichtigung gemäß § 94 AO nur auf die gewerblichen Einkünfte bezog. Im letztgenannten Fall hat das FG den Rechtsstreit seinerzeit zu Unrecht in der Hauptsache für erledigt erklärt. Eine Berichtigung gemäß § 94 AO war damals nicht zulässig, weil es an der Zustimmung der Stpfl. zur vollständigen Berichtigung fehlte.
Stellt das FG indessen fest, daß die Stpfl. zu der änderung der Steuerbescheide gemäß § 94 AO in vollem Umfang, d. h. auch hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, ihre Zustimmung erteilt hat, so sind die Sammelberichtigungsbescheide gemäß § 94 AO zu Recht erlassen worden; die Hauptsache ist dann zu Recht für erledigt erklärt worden. Da die Stpfl. den Berichtigungsbescheid für die Veranlagungszeiträume 1954 bis 1956 dann aber zulässigerweise angefochten hat, wird das FG über dieses Rechtsmittel sachlich entscheiden, insbesondere also auch die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung prüfen müssen.
In jedem Fall erhält aber auch das FA, da die Stpfl. ihre Zustimmung nicht aufrechterhalten hat, die Entschließungsfreiheit für die Jahre II/1948 bis 1956 zurück (Urteil des BFH I 186/54 U, a. a. O.). Die Stpfl. greift zwar nur noch die Jahre 1954 bis 1956 an. Die Beteiligten wollten indessen ursprünglich den gesamten Fragenkomplex für alle Streitjahre bereinigen. Das FA war offensichtlich an einer Regelung für nur einige Streitjahre nicht interessiert. Haben sich die Beteiligten bei einer Vereinbarung über einen Punkt, den ein Beteiligter mitgeregelt wissen wollte (hier die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung) infolge eines Mißverständnisses nicht geeinigt, so wird die ganze Vereinbarung hinfällig, wenn anzunehmen ist, daß sie ohne diesen Punkt nicht geschlossen worden wäre (§§ 139, 155 BGB). Das FA kann also seinerseits auch die Jahre II/1948 bis 1953 wieder aufrollen.
Fundstellen
Haufe-Index 412437 |
BStBl III 1967, 380 |
BFHE 1967, 274 |
BFHE 88, 274 |