Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährung des Abgabenanspruchs bei Einfuhrabgaben, die in einem Versandverfahren infolge strafrechtlich verfolgbarer Handlungen entstanden sind; Absehen von der Nacherhebung
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Nacherhebung von Eingangsabgaben finden die Vorschriften des Zollkodex noch keine Anwendung, wenn der Tatbestand, der zur Entstehung der Abgaben geführt hat, vor Beginn der Geltung des Zollkodex verwirklicht worden ist.
2. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Nacherhebung gelten auch für Eingangsabgaben, die infolge des Entziehens von Waren, die zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet worden waren, aus der zollamtlichen Überwachung entstanden sind.
3. Für die Frage, ob die Zollbehörden den zutreffenden Betrag der Abgaben infolge strafrechtlich verfolgbarer Handlungen nicht genau ermitteln konnten (Art. 3 Unterabs. 1 VO (EWG) Nr. 1697/79), kommt es nicht auf den Zeitpunkt an, in dem eine strafbare Handlung festgestellt worden ist, sondern auf den Zeitpunkt, in dem die Abgabenschuld entstanden ist.
4. Die bei strafrechtlich verfolgbaren Handlungen noch geltenden Bestimmungen der Mitgliedstaaten über die Verjährung treffen im Falle der Gesamtschuldnerschaft auch den redlichen Zollschuldner.
5. Auch im Falle einer Erstattung von Eingangsabgaben hat der Abgabenschuldner einen Anspruch darauf, daß die Zollbehörde von einer Nacherhebung der erstatteten Abgaben absieht, wenn die dafür in Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1697/79 festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.
Normenkette
EWGV 1697/79 Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 3, 5 Abs. 2; AO 1977 § 169 Abs. 2 S. 2, §§ 170, 370 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Brandenburg |
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ließ im August 1992 in den Niederlanden Zigaretten zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren abfertigen. Nach zollfahndungsamtlichen Feststellungen wurden die Zigaretten keiner Zollstelle wiedergestellt, sondern in der Nacht vom 11. zum 12. August 1992 in der Nähe der Raststätte M unter Mitwirkung des von der Klägerin mit der Durchführung des Transports beauftragten Kraftfahrers dem gemeinschaftlichen Versandverfahren entzogen. Der Kraftfahrer wurde wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung verurteilt. Mit dem ihr am 24. August 1995 zugestellten Steuerbescheid vom 17. Juli 1995 nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt --HZA--) die Klägerin wegen der entstandenen Eingangsabgaben in Anspruch. Nachdem die Klägerin im Klageverfahren unter Hinweis auf Art. 221 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (Zollkodex --ZK--) des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften vom 12. Oktober 1992 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 302/1) die Verjährung des Anspruchs geltend gemacht hatte, erstattete das HZA der Klägerin den Abgabenbetrag mit Bescheid vom ... März 1996 in der Annahme, die Abgabenschuld hätte der Klägerin wegen Eintritts der Verjährung nicht mehr mitgeteilt werden dürfen.
Später änderte sich die Rechtsauffassung des HZA bezüglich der Verjährung; es war nunmehr der Auffassung, daß die Erstattung zu Unrecht erfolgt sei und nahm die Klägerin erneut mit Steuerbescheid vom ... März 1997 für die entstandenen Eingangsabgaben (Zoll-EURO, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer) in Höhe von insgesamt ... DM in Anspruch. Die gegen den neuerlichen Steuerbescheid erhobene Sprungklage hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Steuerforderung sei nicht verjährt, weil das Erfordernis des "nicht genau Ermittelnkönnens" i.S. von Art. 221 Abs. 3 Satz 2 ZK bei einer Steuerstraftat stets gegeben sei. Der Inanspruchnahme der Klägerin stehe auch Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK nicht entgegen; diese Vorschrift sei schon im Hinblick darauf, daß die Zollschuld nicht aufgrund einer Zollanmeldung, sondern durch Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung entstanden sei, nicht anwendbar. Daher komme es nicht darauf an, ob diese Vorschrift überhaupt anwendbar sei, sofern ein Fall des Art. 242 ZK gegeben sei.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, die Auffassung des FG, das Erfordernis des "nicht genau Ermittelnkönnens" i.S. von Art. 221 ZK sei stets gegeben, wenn eine Steuerstraftat vorliege, sei unzutreffend. Die Auslegung der Vorschrift nach dem Wortlaut ergebe, daß sie nur anwendbar sei, wenn die Zollbehörde den genauen Abgabenbetrag innerhalb der Dreijahresfrist des Art. 221 Abs. 3 Satz 1 ZK infolge einer strafbaren Handlung nicht genau ermitteln konnte. Aus Sinn und Zweck der Vorschrift des Art. 221 Abs. 3 Satz 2 ZK ergebe sich nichts anderes. Die Klägerin habe die Steuerhinterziehung nicht durch unredliches Verhalten verursacht. Sie sei lediglich Hauptverpflichtete des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens gewesen. Ihr gegenüber hätten die Abgaben schon innerhalb der Dreijahresfrist genau ermittelt und mitgeteilt werden können. Das ergebe sich daraus, daß der Steuerbescheid gegen sie bereits am 17. Juli 1995 ergangen sei. Auch die Auffassung des FG, daß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK nicht anzuwenden sei, weil es an einer Zollanmeldung fehle, sei falsch. Art. 220 ZK beziehe sich vielmehr auf jede buchmäßig zu erfassende Zollschuld. Außerdem sei auch die Versandanmeldung eine Zollanmeldung i.S. des Art. 4 Nr. 17 ZK, so daß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK auch im Streitfall anwendbar sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil und den angefochtenen Steuerbescheid aufzuheben.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Anders als das FG meine, richte sich die Verjährung im Streitfall nicht nach Art. 221 ZK, sondern nach Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 (VO Nr. 1697/79) des Rates vom 24. Juli 1979 betreffend die Nacherhebung ... (ABlEG Nr. L 197/1). Die 3jährige Verjährungsfrist gelte danach nicht, soweit die zuständigen Behörden feststellen, daß sie den Betrag der nach den gesetzlichen Vorschriften für die betreffende Ware geschuldeten Eingangsabgaben infolge von Handlungen, die strafrechtlich verfolgbar sind, nicht genau ermitteln konnten. Dies sei vorliegend unstreitig der Fall gewesen. Das Vorbringen der Klägerin, die verlängerte Festsetzungsfrist nach § 169 der Abgabenordnung (AO 1977) gelte nur für den unredlichen Zollschuldner, gehe fehl. Die längere Festsetzungsfrist gelte für alle Gesamtschuldner. Auf die Frage, inwieweit das HZA in der Lage gewesen sei, die Abgaben vor Ablauf der 3jährigen Verjährungsfrist mitzuteilen, komme es nicht an.
Auch der Entscheidung, ob von der Nacherhebung der Abgaben abzusehen sei, sei Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 als das zum Zeitpunkt der Abgabenentstehung maßgebliche Recht zugrunde zu legen. Die Zollbehörden seien verpflichtet, noch nicht angeforderte Eingangsabgaben nachzufordern. Noch nicht angefordert seien Eingangsabgaben auch dann, wenn ursprünglich buchmäßig erfaßte Eingangsabgaben erstattet wurden. Es sei weder vorgetragen noch erkennbar, daß die Nichterhebung der Abgaben zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auf einem Irrtum der Zollbehörden beruhe.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, weil die Sache nicht spruchreif ist.
1. Anders, als das FG meint, ist der Streitfall noch nicht nach den Vorschriften des ZK über die Nacherhebung von Einfuhrabgaben (hier insbesondere Art. 221 Abs. 3 und Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK), sondern nach Art. 3 und Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 zu beurteilen, weil der Tatbestand, der zur Entstehung der Zollschuld geführt hat (Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 2144/87 --VO Nr. 2144/87-- des Rates vom 13. Juli 1987 über die Zollschuld, ABlEG Nr. L 201/15), noch vor Beginn der Geltung des ZK (Art. 253 ZK) verwirklicht worden ist (vgl. dazu Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 19. Februar 1998 Rs. T-42/96 Tz. 47 ff., EuGHE 1998, II-401). Für die Einfuhrumsatzsteuer und die Tabaksteuer gelten gemäß § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes vom 8. Februar 1991 (BGBl I, 351) und § 10 des Tabaksteuergesetzes vom 13. Dezember 1979 (BGBl I, 2118) die Vorschriften für Zölle abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen sinngemäß.
2. Das FG hat im Ergebnis mit Recht die Verjährung des Abgabenanspruchs verneint, weil im Streitfall die nationale Regelung nach § 169 Abs. 2 Satz 2, § 170 AO 1977 gilt, nach der die Frist für die Festsetzung der Abgaben zehn Jahre, beginnend mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Einfuhrabgaben (Zölle und Verbrauchsteuern) entstanden sind, beträgt.
a) Richtig ist zunächst, daß die Vorschriften über die Nacherhebung auch für Eingangsabgaben gelten, die infolge des Entziehens von Waren, die zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet worden waren, aus der zollamtlichen Überwachung entstanden sind. Denn der Begriff "Zollverfahren" in Art. 1 Abs. 1 VO Nr. 1697/79 ist weit auszulegen (vgl. Senatsurteil vom 4. August 1992 VII R 74/90, BFHE 169, 269, 275). Er umfaßt alle Verfahren, die unmittelbar oder mittelbar zur Erhebung von Eingangsabgaben führen. Dazu gehört auch das gemeinschaftliche Versandverfahren, das zwar nicht unmittelbar zur Entstehung von Eingangsabgaben führt, in dem aber Eingangsabgaben gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. c bzw. d VO Nr. 2144/87 entstehen können, wenn entweder Waren aus der zollamtlichen Überwachung entzogen oder Pflichten nicht erfüllt werden, die sich aus dem gemeinschaftlichen Versandverfahren ergeben (vgl. Worms in Bail/Schädel/Hutter, Kommentar Zollrecht, F IX 5/1-2 Art. 1 Rz. 1). Sie sind auch dann anzuwenden, wenn es wie hier um die Rückforderung (Nacherhebung) zu Unrecht erstatteter Eingangsabgaben geht. In diesem Fall bemißt sich aber die Frist, innerhalb der die Abgaben nacherhoben werden können, nicht von dem Zeitpunkt an, zu dem die Erstattung buchmäßig erfaßt worden ist, sondern beginnt ebenfalls mit dem Zeitpunkt, in dem die Zollschuld ursprünglich buchmäßig erfaßt worden ist bzw. entstanden ist (vgl. Worms, a.a.O., F IX 5/1-2 Art. 2 Rz. 8). Denn es geht auch in diesem Fall um die Nacherhebung der ursprünglich durch das Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstandenen Zollschuld.
b) Grundsätzlich gilt nach Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 VO Nr. 1697/79, daß die Abgaben nicht mehr nachgefordert werden können, wenn seit dem Tag, an dem die Zollschuld für die betreffende Ware entstanden ist, drei Jahre verstrichen sind. Da die Zollschuld im Streitfall gemäß Art. 3 Buchst. c VO Nr. 2144/87 in dem Zeitpunkt entstanden ist, zu dem die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wurde, also in der Nacht vom 11. zum 12. August 1992, wäre sie bei Anwendung der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren bei Erlaß des angefochtenen Nacherhebungsbescheides vom ... März 1997 bereits verjährt gewesen. Nach Art. 3 VO Nr. 1697/79 gilt aber die in Art. 2 derselben Verordnung genannte Frist nicht, wenn die zuständigen Behörden feststellen, daß sie den Betrag der nach den gesetzlichen Vorschriften für die betreffende Ware geschuldeten Eingangsabgaben infolge von Handlungen, die strafrechtlich verfolgbar sind, nicht genau ermitteln konnten. In diesem Fall greifen die nationalen Vorschriften über die Verjährung mit der Folge ein, daß nach § 169 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 170 Abs. 1 AO 1977 die 10jährige Verjährung gilt, wenn wie im Streitfall eine Steuerhinterziehung vorliegt.
c) Anders als die Klägerin meint, ist Art. 3 VO Nr. 1697/79 nicht so zu verstehen, daß er nur dann auf die (längeren) nationalen Verjährungsvorschriften verweist, wenn die Zollbehörden die Abgaben infolge strafbarer Handlungen nicht innerhalb von drei Jahren mitteilen konnten. Zwar liegt diese Auslegung der Vorschrift auch einer diesbezüglichen Dienstanweisung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zu Grunde, das in Abs. 51 Unterabs. 2 der in der Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung (VSF), VSF-Nachrichten (VSF N 52 95 Nr. 454) veröffentlichten Dienstanweisung für die Zentralstellen Such- und Mahnverfahren die Zollstellen wie folgt angewiesen hat:
"Sind die Bemessungsgrundlagen trotz Vorliegens einer strafbaren Handlung bereits vor Ablauf der in Artikel 221 Absatz 3 Zollkodex genannten Frist von drei Jahren bekannt, so daß die genaue Berechnung der Abgaben erfolgen kann, ist dem Abgabenschuldner die Höhe des Abgabenbetrages auch innerhalb dieser Frist mitzuteilen; eine Verlängerung dieser Frist über den Zeitraum von drei Jahren hinaus scheidet in diesen Fällen aus (Artikel 218 Absatz 3 und Artikel 221 Absatz 3 Zollkodex)."
Der Senat vermag sich jedoch dieser inzwischen auch vom BMF nicht mehr vertretenen (vgl. VSF N 51 96 Nr. 412) Auslegung nicht anzuschließen, weil sie mit der Systematik der Vorschrift nicht in Einklang steht. Danach kommt es nicht darauf an, ob die Zollbehörde im Zeitpunkt der Feststellung der strafbaren Handlung in der Lage war, die Zollschuld genau zu ermitteln, sondern allein darauf, daß die Zollbehörde im Zeitpunkt der Entstehung der Abgabenschuld, infolge der strafbaren Handlung den Betrag der Zollschuld nicht genau feststellen konnte. Denn bezogen auf letzteren Zeitpunkt sind die Abgaben zu berechnen (Art. 7 Unterabs. 1 Buchst. a VO Nr. 2144/87). Beginnend mit ihm läuft auch die Regelverjährung, wenn eine buchmäßige Erfassung der Abgaben unterblieben ist (Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 VO Nr. 1697/79). Kann die Abgabenschuld in diesem Zeitpunkt nicht genau ermittelt werden, so ist es verständlich, daß die VO Nr. 1697/79 für diesen Fall eine Ausnahme von der Regelverjährung zuläßt, die sich nach nationalem Recht --hier § 169 Abs. 2 Satz 2, § 170 Abs. 1 AO 1977-- richtet, solange das Gemeinschaftsrecht diesen Fall noch nicht geregelt hat. Diese Auslegung findet ihre Bestätigung auch im Satz 3 des 2. Erwägungsgrundes der VO Nr. 1697/79, wo --typischerweise-- auf die Warenabfertigung abgestellt wird, also auf den Zeitpunkt, in dem die Zollschuld im "Normalfall" entsteht (vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 2144/87).
Es ist im Streitfall keine Frage, daß die Zollverwaltung jedenfalls im Zeitpunkt der mit der Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung entstandenen Zollschuld wegen der als Steuerhinterziehung verfolgbaren Straftat (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977) die geschuldeten Eingangsabgaben nicht genau ermitteln konnte, weil sie zunächst von diesem Vorgang keine Kenntnis hatte. Damit sind die Voraussetzungen des Art. 3 VO Nr. 1697/79 für die Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften erfüllt (vgl. Bundesfinanzhof --BFH--, Beschluß vom 16. Juli 1998 VII B 306/97, BFH/NV 1999, 378).
d) In bezug auf die Verjährungsregelung kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf ihre Redlichkeit berufen.
Weder aus dem Wortlaut noch aus Sinn und Zweck des Art. 3 VO Nr. 1697/79 läßt sich darauf schließen, daß die Vorschrift nur den unredlichen Zollschuldner betrifft. Sie setzt vielmehr unabhängig von der Person des Zollschuldners lediglich voraus, daß die Zollschuld infolge strafbarer Handlungen nicht genau ermittelt werden konnte und gilt deshalb im Falle der Gesamtschuldnerschaft auch in bezug auf den redlichen Zollschuldner. Den von der Klägerin genannten Schlußanträgen des Generalanwalts beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 26. September 1991 in der Rechtssache C-273/90 (EuGHE 1991, I-5569, 5577) und den Ausführungen von Müller-Eiselt ("Nacherhebung - Erlaß - Erstattung - Gedanken zum Vertrauensschutz in die Zollerhebung" in "Vertrauensschutz in der Europäischen Union", 1998, 95 ff.) läßt sich nichts Gegenteiliges entnehmen, weil darin die hier in Rede stehende Frage nicht behandelt wird.
Auch nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 trifft die Verlängerung der Verjährungsfrist grundsätzlich nicht nur den Steuerhinterzieher als Abgabenschuldner, sondern auch den weiteren Abgabenschuldner, der --wie im Streitfall die Klägerin-- die Steuerhinterziehung nicht selbst begangen hat (vgl. BFH, Urteile vom 23. März 1982 VII R 68/81, BFHE 135, 563; vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30, BStBl II 1989, 442, und vom 30. Oktober 1990 VII R 18/88, BFH/NV 1991, 721). Eine Exkulpationsmöglichkeit besteht hier jedoch nach § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 nicht, weil an der Steuerhinterziehung der Kraftfahrer beteiligt war, der den Transport der Waren im gemeinschaftlichen Versandverfahren im Auftrag der Klägerin durchgeführt hat und dessen sich die Klägerin damit auch zur Erfüllung ihrer ihr als Hauptverpflichtete im gemeinschaftlichen Versandverfahren obliegenden Pflichten bedient hat. Unerheblich ist, daß der Erfüllungsgehilfe der Klägerin nicht selbst Täter, sondern nach dem im erstinstanzlichen Urteil in Bezug genommenen Strafurteil des Amtsgerichts nur Gehilfe der Tat war (vgl. BFH, Urteil in BFH/NV 1991, 721, 723).
3. Unzutreffend ist indes die Auffassung des FG, daß der Inanspruchnahme der Klägerin die maßgebende gemeinschaftsrechtliche Vorschrift über den Vertrauensschutz (Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79, entspricht dem vom FG genannten Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK) schon deshalb nicht entgegenstehe, weil es sich im Streitfall um eine Zollschuld handele, die aufgrund eines Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung entstanden ist. Zwar kann in einem solchen Fall Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 schon deswegen nicht eingreifen, weil es in aller Regel bereits an dem für die Gewährung von Vertrauensschutz erforderlichen, vom Zollschuldner nicht erkennbaren Irrtum der Zollbehörde fehlt. Im Streitfall geht es aber gar nicht um die Gewährung von Vertrauensschutz im Zusammenhang mit der Anmeldung der Waren zum gemeinschaftlichen Versandverfahren, sondern um die Frage, ob sich die Klägerin auf den Bestand des ihr günstigen Erstattungsbescheides verlassen durfte. Mit dieser Frage befaßt sich das FG in der angefochtenen Entscheidung nicht, obwohl dies angesichts des widersprüchlichen Verhaltens des HZA erforderlich gewesen wäre.
Auch im Fall einer Erstattung von Eingangsabgaben hat der Abgabenschuldner nach Art. 5 Abs. 2 VO Nr. 1697/79 Anspruch darauf, daß die Zollbehörde von der Nacherhebung der erstatteten Abgaben absieht, wenn die in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung festgelegten Voraussetzungen (Irrtum der Zollbehörden, Nichterkennbarkeit des Irrtums für den Zollschuldner, Gutgläubigkeit des Zollschuldners und Einhaltung der geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung) erfüllt sind (vgl. BFH-Beschluß vom 15. Dezember 1992 VII B 123/92, BFH/NV 1994, 65). Da das FG diesen Gesichtspunkt in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat und die Entscheidung darauf beruhen kann, ist die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif, weil das FG keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die genannten Voraussetzungen für ein Absehen von der Nacherhebung der erstatteten Eingangsabgaben vorliegen. Deshalb ist die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
4. Für das weitere Verfahren gibt der Senat folgende Hinweise:
Es dürften keine Zweifel daran bestehen, daß das HZA im Streitfall einen aktiven Irrtum begangen hat, als es die bereits gezahlten Eingangsabgaben mit Bescheid vom ... März 1996 erstattet hat, weil sie nach seiner Auffassung bereits verjährt waren. Denn insoweit ist es bei Prüfung des Erstattungsantrages der Klägerin von einer unzutreffenden Auslegung des Art. 3 VO Nr. 1697/79 ausgegangen, die ihren Niederschlag in der bereits genannten Dienstanweisung des BMF gefunden hatte.
Bei der Prüfung, ob der behördliche Irrtum für die Klägerin erkennbar war, ist von den Kriterien auszugehen, die der EuGH in den zu dieser Frage ergangenen zahlreichen Entscheidungen aufgestellt hat. Danach ist eine konkrete Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls erforderlich, wobei namentlich die Art des Irrtums, die Erfahrung und die Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers zu berücksichtigen sind (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 12. Dezember 1996 Rs. C-47/95 u.a., EuGHE 1996, I-6579, und vom 26. Juni 1990 Rs. C-64/89, EuGHE 1990, I-2535; BFH-Beschluß in BFH/NV 1994, 65). Es ist im wesentlichen Aufgabe des Tatsachengerichts unter Berücksichtigung dieser Kriterien zu beurteilen, ob aufgrund der festgestellten Tatsachen von der Erkennbarkeit des Irrtums auszugehen ist oder der Irrtum für die Klägerin nicht erkennbar war.
Dabei spielt die Kompliziertheit des einschlägigen Gemeinschaftsrechts, das wie hier von dem dem HZA übergeordneten BMF unterschiedlich ausgelegt wurde (VSF N 52 95 Nr. 454 einerseits und VSF N 51 96 Nr. 412 andererseits), eine entscheidende Rolle (vgl. EuGH-Urteile in EuGHE 1996, I-6579, und in EuGHE 1990, I-2535). Zu berücksichtigen ist auch, daß der Erstattungsbescheid in einem förmlichen Verfahren ergangen ist, in dem das HZA dem Antrag bei nicht höchstrichterlich geklärter Sachlage entsprochen hat. In diesem Fall kann es unverhältnismäßig sein, vom Zollschuldner zu verlangen, den Erstattungsbescheid anhand der geltenden Rechtsvorschriften einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen (vgl. Müller-Eiselt, a.a.O., S. 104), zumal der Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift (Art. 3 VO Nr. 1697/79) nicht ohne weiteres auf die der Nachforderung zugrunde gelegte Auslegung schließen läßt.
5. Der Senat hält es nicht für erforderlich, in dieser Sache eine Vorabentscheidung nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (ABlEG Nr. C 340/1; 1999 Nr. L 114/56) einzuholen, weil sich keine vernünftigen Zweifel hinsichtlich der Auslegung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften in dem Sinne ergeben, daß mehrere Auslegungsmöglichkeiten denkbar wären (EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, EuGHE 1982, 3415-3442, und Senatsurteil vom 23. Oktober 1985 VII R 107/81, BFHE 145, 266).
Fundstellen
Haufe-Index 56512 |
BFH/NV 1999, 1713 |
BFHE 189, 244 |
BFHE 2000, 244 |
BB 1999, 2071 |
DStR 1999, 1736 |
DStRE 1999, 881 |
HFR 1999, 1011 |
StE 1999, 614 |
LEXinform-Nr. 0552288 |
NWB 1999, 3656 |
ZfZ 1999, 381 |
RIW 1999, 887 |