Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerliche Förderungsgesetze
Leitsatz (amtlich)
Einem Steuerpflichtigen, der bei mehrfachem Wohnsitz einen Wohnsitz in Berlin (West) hat, stehen, sofern die Voraussetzung des § 1 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 1 des sogenannten Berliner Präferenzgesetzes vorliegt, die Vergünstigungen nach diesem Gesetz auch dann zu, wenn er keine Angehörigen hat, die mit ihm nach den Vorschriften des EStG zusammen veranlagt werden können.
Erstes Gesetz zur änderung des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 21. Dezember 1954, des Körperschaftsteuergesetzes in der Fassung vom 21. Dezember 1954 und des Gesetzes zur Erhebung einer Abgabe "Notopfer Berlin" vom 4. Juli 1955 (sogenanntes Berliner Präferenzgesetz) § 1
Normenkette
StPräfG § 1/1/2/2
Tatbestand
Streitig ist, ob der Bf. die Ermäßigung der Einkommensteuer auf Grund des § 1 des Ersten Gesetzes zur änderung des Einkommensteuergesetzes 1955, des Körperschaftsteuergesetzes 1955 und des Gesetzes zur Erhebung einer Abgabe "Notopfer Berlin" vom 4. Juli 1955 (sogenanntes Berliner Präferenzgesetz, BStBl 1955 I S. 245) in Anspruch nehmen kann.
Der Bf. betreibt in Berlin (West) eine Großhandlung. Hier hat er auch einen Wohnraum mit einem Nebengelaß inne. Das Finanzamt hat dem Bf. bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 1955 die Ermäßigung gemäß § 1 Abs. 1 Ziff. 1 des Präferenzgesetzes versagt, weil der Bf. neben dem angegebenen Wohnsitz noch einen weiteren Wohnsitz in der Sowjetzone unterhalte; dort halte sich auch seine Ehefrau ständig auf.
Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht ließ sich bei seiner Entscheidung im wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten:
Der Bf. habe zwei Wohnsitze inne, von denen sich der eine außerhalb von Berlin (West) befinde. Da sich die Ehefrau des Bf. an dem Wohnsitz außerhalb von Berlin (West) aufhalte, seien die Voraussetzungen für die Vergünstigung auf Grund des Berliner Präferenzgesetzes nicht erfüllt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Präferenzgesetzes seien weder unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - (Schutz von Ehe und Familie) noch unter dem des Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitsgrundsatz) Bedenken zu erheben.
Hiergegen wendet sich der Bf. mit der Rb., mit der er im wesentlichen mangelnde Sachaufklärung durch die Vorinstanz insofern rügt, als diese seine Behauptungen ungeprüft gelassen habe, daß er von seiner in der Sowjetzone wohnenden Ehefrau getrennt lebe und daß er seinen früheren Wohnsitz in der Sowjetzone zumindest seit 1951 aufgegeben habe. Ferner wiederholt der Bf. seine bereits in der Vorinstanz geltend gemachten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Präferenzgesetzes.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidungen.
Gemäß § 1 Abs. 1 des Präferenzgesetzes steht einer natürlichen Person die Steuervergünstigung nach diesem Gesetz nur dann zu,
wenn sie entweder seit mindestens vier Monaten vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz oder - in Ermangelung eines Wohnsitzes im Geltungsbereich dieses Gesetzes - ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin (West) hat,
oder wenn sie bei mehrfachem Wohnsitz einen Wohnsitz in Berlin (West) hat und außerdem
seit 1953 ununterbrochen in Berlin (West) veranlagt wird oder zu veranlagen wäre und
ihre Angehörigen, die mit ihr zusammen veranlagt werden oder zusammen zu veranlagen wären, seit mindestens vier Monaten vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) haben.
Ausschließlicher Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in Berlin (West)
Der Bf. will im Veranlagungszeitraum 1955 seinen ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt haben. Hierfür beruft er sich darauf, daß er nach Beschlagnahme seines Betriebes und nach dem Verlust seines Vermögens in der Sowjetzone als Flüchtling nach Berlin (West) gekommen sei und daß von diesem Zeitpunkt an, also ab 1951, sein ausschließlicher Wohnsitz in Berlin (West) gewesen sei. Bei Beurteilung dieser Frage muß grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß ein Ehemann dort seinen Wohnsitz hat, wo seine Familie wohnt. Nimmt er eine Tätigkeit außerhalb dieses Ortes auf, so behält er im allgemeinen seinen Wohnsitz am bisherigen Wohnort bei, wenn seine Familie dort bleibt (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 1212/28 vom 13. März 1929, Steuer und Wirtschaft 1929 Nr. 363). Dies gilt sogar dann, wenn er die Wohnung zeitweilig nicht benutzt. Der Steuerpflichtige hat seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die auf die Absicht der Beibehaltung und Benutzung einer solchen schließen lassen. Ob er aus beruflichen Gründen oder persönlichen Gründen von der Wohnung mehr oder weniger häufig, ja selbst das ganze Jahr hindurch nicht Gebrauch macht, ist belanglos. Das gleiche gilt von dem Umstand, daß anderwärts noch ein zweiter Wohnsitz vorhanden sein mag. Nur unter besonderen Umständen kann ein gemeinsamer Wohnsitz für die Ehegatten verneint werden. Dies wird nur dort zutreffen, wo der Ehemann aus Gründen, die nicht in seiner Person liegen, die Familie in der bisher gemeinsam benutzten Wohnung beläßt und die ganzen Verhältnisse, vor allem die Art seiner Beschäftigung an einem anderen Ort, klar dagegen sprechen, daß er die Wohnung seiner Angehörigen noch mitbenutzen will und sie auch als sein eigenes Heim betrachtet (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 631/36 vom 10. März 1937, RStBl 1937 S. 498). Unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten hat die Vorinstanz im Streitfall zutreffend angenommen, daß der Bf. seinen Wohnsitz nach wie vor mit seiner Ehefrau in der Sowjetzone teilt. Dem Hinweis des Bf., daß er diesen bereits seit 1951 aufgegeben habe, stehen seine eigenen Erklärungen in seinen an das zuständige Finanzamt gerichteten Schriftsätzen vom 16. Oktober 1956 und 7. Februar 1957 entgegen, in denen unter Bezugnahme auf die von ihm vorwiegend auch des Nachts genutzten Räume in Berlin (West) ausdrücklich von einem zweiten Wohnsitz in Berlin (West) die Rede ist. Diesen hat der Bf. nach seiner Angabe im Jahre 1950 auch bei der Polizei gemeldet. Die Anmeldung eines zweiten Wohnsitzes aber setzt voraus, daß er seinen Hauptwohnsitz in der Sowjetzone beibehalten hat. Wenn das Verwaltungsgericht bei diesen einander widersprechenden Angaben des Bf. einen mehrfachen Wohnsitz, und zwar je einen in Berlin (West) und in der Sowjetzone, angenommen hat, so liegt dieser Beurteilung eine Tatbestandswürdigung zugrunde, an die der Bundesfinanzhof mangels erkennbaren Rechtsverstoßes gemäß §§ 288, 296 AO gebunden ist. Die geltend gemachte Rüge mangelnder Sachaufklärung durch die Vorinstanz ist nicht begründet. Damit aber hat die Vorinstanz zutreffend das Vorliegen eines ausschließlichen Wohnsitzes des Bf. in Berlin (West) verneint. Auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Bf. kommt es für die Gewährung der beantragten Steuervergünstigung im Streitfall nicht an, weil der Bf. im Jahre 1955 schon einen Wohnsitz in Berlin (West), wenn auch nur den zweiten, begründet hatte. Denn solange ein Wohnsitz im Inland vorhanden ist, ist es unerheblich, wo sich der Steuerpflichtige für gewöhnlich aufhält (vgl. Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 5. Aufl., Anm. 1 zu § 14 des Steueranpassungsgesetzes).
Mehrfacher Wohnsitz Nach den den erkennenden Senat bindenden Feststellungen der Vorinstanz hatte der Bf. demnach im streitigen Veranlagungszeitraum zwei Wohnsitze.
Auch bei mehrfachem Wohnsitz wird die in § 1 Abs. 1 Satz 1 des Präferenzgesetzes normierte Steuervergünstigung einer natürlichen Person dann gewährt, wenn sie seit 1953 ununterbrochen in Berlin (West) veranlagt wird oder zu veranlagen wäre und ihre Angehörigen, die mit ihr zusammen veranlagt werden oder zusammen zu veranlagen wären, seit mindestens vier Monaten vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) haben.
Die in § 1 Abs. 1 Satz 2 Ziff. 2 des Präferenzgesetzes getroffene Regelung verstößt nicht gegen den verfassungsrechtlich durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Grundsatz, daß Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Es erhalten alle Steuerpflichtigen die Vergünstigung des Präferenzgesetzes, wenn sie mit ihren Angehörigen den ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) haben. Daß die Gewährung dieser Vergünstigungen in den Fällen eines mehrfachen Wohnsitzes in gewissem Umfang eingeschränkt wird, ergibt sich einmal aus den besonderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Berlin, die eine besonders enge Verbindung der Begünstigten mit Berlin (West) erfordern, und zum anderen aus der Notwendigkeit, der möglichen mißbräuchlichen Inanspruchnahme der Vergünstigungen in den Fällen der Begründung eines mehrfachen Wohnsitzes vorzubeugen. Daß der Gesetzgeber bei dieser Einschränkung lediglich von der Terminologie der inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Vorschrift des § 26 EStG a. F. ausgegangen ist, ändert nichts an der Rechtsgültigkeit der vom Bf. angegriffenen Vorschrift. Diese ist nunmehr nach Aufhebung des § 26 EStG a. F. ohne Bezugnahme auf die Zusammenveranlagung so anzuwenden, daß § 1 Abs. 1 Satz 1 des Präferenzgesetzes auch für natürliche Personen gilt, die bei mehrfachem Wohnsitz einen Wohnsitz in Berlin (West) haben, wenn der unbeschränkt steuerpflichtige und nicht getrennt lebende Ehegatte bzw. die Kinder, für die dem Steuerpflichtigen Kinderermäßigung zusteht (vgl. § 32 EStG), seit mindestens vier Monaten vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt haben.
Ebensowenig berührt die vom Bf. angegriffene Vorschrift den in Art. 3 Abs. 1 GG festgelegten Gleichheitsgrundsatz. (............)
Die für die Entscheidung des Streitfalls maßgebliche Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Präferenzgesetzes läßt eine zweifache Auslegung als möglich erscheinen.
Bei Vorliegen eines mehrfachen Wohnsitzes müssen die folgenden drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:
1) Der Steuerpflichtige muß einen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt haben.
2) Er muß seit 1953 ununterbrochen in Berlin (West) veranlagt sein oder er hätte im Falle der Veranlagung dort veranlagt werden müssen.
3) Er muß Angehörige im Sinne der einkommensteuerlichen Veranlagungsvorschriften gehabt haben, die seit mindestens vier Monaten vor Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) hatten.
In diesem Falle könnte die Steuervergünstigung nur dann gewährt werden, wenn Angehörige im vorerwähnten Sinne vorhanden gewesen sind, die in der in Betracht kommenden Zeit ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt haben. Diese Auffassung würde die Begründung des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung für sich haben, in der für die Gewährung der Steuervergünstigung bei mehrfachem Wohnsitz eine besonders enge Bindung an Berlin (West) vorausgesetzt wird (vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Drucksache 1159 S. 23). Diese Auslegung des Gesetzes würde zur Folge haben, daß z. B. ledige Steuerpflichtige und Steuerpflichtige, die keine mit ihnen zusammen veranlagten oder zusammen zu veranlagenden Angehörigen haben, die Ermäßigung auf Grund des Präferenzgesetzes bei mehrfachem Wohnsitz nicht in Anspruch nehmen könnten, auch wenn die beiden anderen Voraussetzungen erfüllt sein sollten.
Die andere Auslegungsmöglichkeit würde dahin gehen, daß der Steuerpflichtige, falls er keine Angehörigen im erwähnten Sinne hat, ungeachtet dessen in den Genuß der Berliner Präferenzen kommen muß, wenn nur die beiden übrigen Voraussetzungen erfüllt sind.
Bei der Entscheidung des Streitfalls geht der Senat von der letztgenannten Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Präferenzgesetzes aus. Insbesondere im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift vertritt der Senat die Auffassung, daß die in den Motiven zum Gesetz geforderte enge Bindung an Berlin (West) nur dann verlangt werden kann, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich Angehörige in dem im Gesetz angeführten Sinne gehabt hat. Ist dies, wie z. B. bei Ledigen und bei dauernd voneinander getrennt lebenden Ehegatten, nicht der Fall, so muß die Vergünstigung des Präferenzgesetzes gewährt werden, wenn der Steuerpflichtige einen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt hat und er seit 1953 ununterbrochen in Berlin (West) veranlagt worden ist oder im Falle der Veranlagung dort hätte veranlagt werden müssen.
Im vorliegenden Falle hat der Bf. Angehörige im erwähnten Sinne schon deshalb nicht, weil seine Ehefrau nicht unbeschränkt steuerpflichtig ist. Die unbeschränkte Steuerpflicht nach früherem und geltendem Einkommensteuerrecht ist aber unabdingbare Voraussetzung für eine Zusammenveranlagung.
Da die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung der Steuervergünstigung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 des Präferenzgesetzes beim Bf. erfüllt sind, muß ihm die beantragte Steuervergünstigung gewährt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 409532 |
BStBl III 1960, 61 |
BFHE 1960, 162 |
BFHE 70, 162 |