Entscheidungsstichwort (Thema)

Faires Verfahren. Anwaltlich nicht vertreten Betroffener. zivilrechtliches Unterbringungsverfahren. Erledigung der Hauptsache. Hinweis, Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung umzustellen. Wahnhafte Störung. Unterbringung. Psychische Erkrankung der Betroffenen. Unterbringungsgrund. Sofortige erhebliche Selbstgefährdung. Persönliche Anhörung. Neue Tatsachengrundlage

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf ein faires Verfahren gebietet es, einen anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen eines zivilrechtlichen Unterbringungsverfahrens im Fall der Erledigung der Hauptsache auf die Möglichkeit hinzuweisen, seinen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung umzustellen (im Anschluss an BGH v. 15.9.2010 - XII ZB 383/10, FamRZ 2010, 1726).

 

Normenkette

FamFG § 62 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Beschluss vom 26.03.2015; Aktenzeichen 9 T 12/15)

AG Hannover (Beschluss vom 06.03.2015; Aktenzeichen 663 XVII H 7046)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Hannover vom 6.3.2015 sowie der Beschluss der 9. Zivilkammer des LG Hannover vom 26.3.2015 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.

Die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die im Jahre 1943 geborene Betroffene leidet an einer wahnhaften Störung. Sie steht seit November 2014 unter Betreuung, ihre vorläufige Unterbringung war bis zum 27.2.2015 genehmigt. Diese Genehmigung verlängerte das AG zunächst bis längstens zum 6.3.2015, was Gegenstand des Parallelverfahrens XII ZB 114/15 vor dem Senat ist.

Rz. 2

Mit Beschluss vom 6.3.2015 hat das AG auf entsprechenden Antrag der Betreuerin die weitere Unterbringung bis längstens zum 16.3.2015 genehmigt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das LG mit Beschluss vom 26.3.2015 zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Betroffene die Feststellung, dass sie durch diese beiden Entscheidungen in ihren Rechten verletzt worden ist.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insb. gem. § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FamFG - und da keine einstweilige Anordnung i.S.v. § 70 Abs. 4 FamFG vorliegt - statthaft. Sie ist auch begründet, weil die Entscheidungen von AG und LG die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben. Dies ist nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (BGH, Beschl. v. 29.1.2014 - XII ZB 330/13, FamRZ 2014, 649 Rz. 8 m.w.N.) festzustellen.

Rz. 4

1. Die Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 2 Satz 1 BGB setzt das Bestehen einer qualifizierten Gefährdungslage voraus. Es muss die Gefahr bestehen, dass der Betroffene sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht (§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Der Tatrichter hat hierzu die erforderlichen Feststellungen zu treffen.

Rz. 5

2. Dem werden die Entscheidungen von AG und LG nicht gerecht.

Rz. 6

a) Dem amtsgerichtlichen Beschluss, der sich in seinen Gründen im Wesentlichen auf die Wiedergabe des Gesetzestextes beschränkt, lassen sich keinerlei Umstände entnehmen, die die Annahme der eine Unterbringung rechtfertigenden Gefährdung zulassen. Das LG führt aus, es bestünden "jedenfalls Anhaltspunkte, dass die Heilbehandlung zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens erforderlich" sei. Damit wird nicht die notwendige Gefährdungssituation, sondern lediglich deren Möglichkeit festgestellt.

Rz. 7

b) Auch die weiteren landgerichtlichen Erwägungen erlauben nicht den Schluss auf das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen.

Rz. 8

Dies gilt, soweit das LG im Rahmen seiner Ausführungen zu § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB auf eine bereits seit Anordnung der Betreuung bestehende Beinverletzung abstellt, die untersucht werden müsse und zudem schon antibiotisch behandelt worden sei. Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt, bleibt gänzlich unklar, welches der ohne Untersuchung drohende (weitere) Schaden sein soll. Hinzu kommt, dass sich den Beschlussgründen zum einen nicht nachvollziehbar entnehmen lässt, inwiefern diese Untersuchung nur im Rahmen einer Unterbringung durchgeführt werden kann. Zum anderen verhält sich die Beschwerdeentscheidung auch nicht dazu, ob zu erwarten steht, dass die Betroffene einer derartigen ärztlichen Maßnahme nicht widerspricht. Insoweit musste sich angesichts des Umstands, dass sie vor der verfahrensgegenständlichen Unterbringungsgenehmigung bereits sieben Wochen geschlossen untergebracht war, ohne dass die Untersuchung vorgenommen werden konnte, die Notwendigkeit entsprechender Feststellungen aufdrängen. Dies gilt umso mehr, als das LG schon bei der ersten Verlängerungsentscheidung tragend auf die Untersuchung des Beins abgestellt hatte, zu der es jedoch weiterhin nicht gekommen war.

Rz. 9

Soweit das LG die psychische Erkrankung der Betroffenen und den entsprechenden Behandlungsbedarf anführt, erschließt sich nicht, welche rechtlichen Folgerungen sich hieraus ergeben sollen. Jedenfalls hat das LG daraus - im Ergebnis zu Recht - nicht den Unterbringungsgrund des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB abgeleitet. Denn nach den Beschlussgründen hat die Betroffene offensichtlich eine medikamentöse Behandlung verweigert, so dass die Genehmigung der Unterbringung zur Durchführung der Heilbehandlung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB nur dann zulässig gewesen wäre, wenn die Voraussetzungen für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vorgelegen hätten und diese rechtswirksam genehmigt worden wäre (BGH, Beschl. v. 30.7.2014 - XII ZB 169/14, FamRZ 2014, 1694 Rz. 23). Jedenfalls Letzteres war aber nicht der Fall.

Rz. 10

Auf § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB hat das LG sich - anders als das AG, das die Selbstgefährdung als Unterbringungsgrund genannt hat - nicht gestützt, sondern allein mit einer Unterbringung zur Heilbehandlung argumentiert. Im Übrigen würden die im Beschluss enthaltenen Feststellungen eine Unterbringung wegen Selbstgefährdung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ebenfalls nicht tragen. Soweit in den Beschlussgründen erwähnt ist, die zuletzt obdachlose Betroffene habe sich "bei Einlieferung in einem körperlich verwahrlosten und unterernährten Zustand" befunden, besagt dies nichts über eine bestehende erhebliche Gesundheitsgefährdung, der nur mit einer Unterbringung und nicht etwa auch im Rahmen ambulanter, ggf. durch die Berufsbetreuerin zu organisierender Hilfen begegnet werden könnte. Die vom LG zitierte Aussage aus dem Sachverständigengutachten des Dr. A. vom 17.3.2015, ohne Unterbringung sei mit dem Abbruch eines jeden Aufenthalts durch die Betroffene und damit einhergehend - gerade unter Berücksichtigung ihres Allgemeinzustands - einer sofortigen erheblichen Selbstgefährdung zu rechnen, reicht nicht aus, um eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB begründen zu können.

Rz. 11

3. Darüber hinaus rügt die Rechtsbeschwerde zutreffend als verfahrensfehlerhaft, dass das LG den angefochtenen Beschluss des AG bestätigt hat, ohne die Betroffene im Beschwerdeverfahren erneut anzuhören.

Rz. 12

Allerdings kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht hat aber - wie auch das erstinstanzliche Gericht - die Gründe, aus denen es von einer Anhörung ausnahmsweise absehen will, in den Entscheidungsgründen nachprüfbar darzulegen (BGH, Beschl. v. 26.2.2014 - XII ZB 503/13, FamRZ 2014, 828 Rz. 5 m.w.N.).

Rz. 13

An einer solchen Begründung fehlt es in der Beschwerdeentscheidung. Sie war auch nicht ausnahmsweise deshalb entbehrlich, weil aus den weiteren Entscheidungsgründen ersichtlich würde, dass das Beschwerdegericht in zulässiger Weise von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen absehen konnte (vgl. dazu BGH vom 26.2.2014 - XII ZB 503/13, FamRZ 2014, 828 Rz. 5 m.w.N.). Im Gegenteil: Das LG hat für seine Entscheidung mit dem Sachverständigengutachten vom 17.3.2015 eine neue Tatsachengrundlage herangezogen, die nach der amtsgerichtlichen Anhörung und nach der eigenen Anhörung im Parallelverfahren vom 4.3.2015 datiert, so dass eine erneute Anhörung der Betroffenen geboten gewesen wäre.

Rz. 14

4. Die Betroffene ist durch die Genehmigung der Unterbringung in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.

Rz. 15

Eine Aufhebung und Zurückverweisung zur Nachholung der Feststellungen zum Vorliegen eines Unterbringungsgrundes i.S.v. § 1906 Abs. 1 BGB kommt nicht in Betracht. Der Betroffenen ist die Verfahrensfortsetzung nicht zumutbar. Denn eine solche würde sich nach Erledigung der Unterbringung auf erstmalige nachprüfbare Feststellungen zu den materiell-rechtlichen Genehmigungsvoraussetzungen richten. Mithin ist davon auszugehen, dass die angefochtenen Entscheidungen auch inhaltlich auf den mangelhaften Feststellungen beruhen (vgl. BGH v. 30.7.2014 - XII ZB 169/14, FamRZ 2014, 1694 Rz. 28).

Rz. 16

Einem Beruhen steht auch nicht entgegen, dass vorliegend die Erledigung durch Zeitablauf bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung eingetreten war, so dass die Betroffene schon im Beschwerdeverfahren einen Antrag nach § 62 Abs. 1 FamFG hätte stellen müssen, weil damit die Beschwerde mit dem Ziel der Aufhebung der amtsgerichtlichen Genehmigungsentscheidung unzulässig geworden war. Dass es an dem erforderlichen Feststellungsantrag in der zweiten Instanz fehlt, nimmt dem Zurückweisungsbeschluss des LG aber hier nicht die Rechtswidrigkeit. Denn das LG hätte bei richtiger Sachbehandlung die anwaltlich nicht vertretene Betroffene auf die Möglichkeit hinweisen müssen, ihren Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung umzustellen. Dies gebietet der Anspruch der Betroffenen auf ein faires Verfahren (OLG München OLGReport München 2006, 26; Keidel/Budde FamFG 18. Aufl., § 62 Rz. 10; Schulte-Bunert/Weinreich/Unger FamFG 4. Aufl., § 62 Rz. 18; vgl. auch BGH v. 15.9.2010 - XII ZB 383/10, FamRZ 2010, 1726 Rz. 30). Es ist davon auszugehen, dass sie bei einem entsprechenden Hinweis des Gerichts - wie nunmehr im Verfahren der Rechtsbeschwerde - einen Antrag auf Rechtswidrigkeitsfeststellung gestellt hätte.

Rz. 17

Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Genehmigung der Unterbringung feststellen zu lassen, liegt vor. Eine freiheitsentziehende Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (BGH, Beschl. v. 30.7.2014 - XII ZB 169/14, FamRZ 2014, 1694 Rz. 29).

Rz. 18

5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gem. § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

 

Fundstellen

NJW 2015, 3239

EBE/BGH 2015, 338

FamRZ 2015, 1959

FuR 2015, 726

FGPrax 2016, 22

BtPrax 2015, 241

JZ 2015, 670

MDR 2015, 1258

NZFam 2015, 1029

R&P 2016, 79

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