Leitsatz (amtlich)

In einem Betreuungsverfahren ersetzt die Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Verfahrenspfleger oder an den Betreuer grundsätzlich nicht die notwendige Bekanntgabe an den Betroffenen persönlich (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 8.8.2018 - XII ZB 139/18 FamRZ 2018, 1769).

 

Normenkette

FamFG § 37 Abs. 2, § 278 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Deggendorf (Beschluss vom 22.02.2019; Aktenzeichen 13 T 38/18)

AG Deggendorf (Beschluss vom 09.01.2018; Aktenzeichen XVII 402/17)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Deggendorf vom 22.2.2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Für die Betroffene wurde mit Beschluss vom 22.9.2016 eine umfassende Betreuung eingerichtet, deren Aufhebung sie begehrt.

Rz. 2

Mit Schreiben vom 11.12.2017 hat die Betroffene die "Kündigung" der Betreuung erklärt. Das AG hat dieses Schreiben als Antrag auf Aufhebung der Betreuung gewertet und ihn mit Beschluss vom 9.1.2018 zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das LG verworfen. Diese Entscheidung hat der Senat auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen mit Beschluss vom 24.10.2018 () aufgehoben. Nach Zurückverweisung des Verfahrens hat das LG ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Frage des Fortbestehens der medizinischen Voraussetzungen für die angeordnete Betreuung eingeholt, das der Sachverständige am 10.1.2019 vorgelegt hat. Dieses Gutachten ist dem Betreuer, dem Verfahrenspfleger und den beteiligten Eltern der Betroffenen, nicht jedoch der Betroffenen selbst übermittelt worden. Das LG hat nach Anhörung der Betroffenen die Beschwerde zurückgewiesen. Mit ihrer erneuten Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene weiterhin die Aufhebung der Betreuung.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur erneuten Zurückverweisung der Sache an das LG. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das im Beschwerdeverfahren eingeholte Sachverständigengutachten der Betroffenen nicht mit seinem vollen Wortlaut persönlich zur Verfügung gestellt wurde.

Rz. 4

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gem. § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit eines Betroffenen (§ 275 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. BGH v. 26.9.2018 - XII ZB 395/18 FamRZ 2019, 139 Rz. 7; v. 15.8.2018 - XII ZB 10/18 FamRZ 2018, 1770 Rz. 15).

Rz. 5

2. Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

Rz. 6

a) Weder aus den Feststellungen des LG noch aus den Gerichtsakten lässt sich entnehmen, dass der Inhalt des Gutachtens der Betroffenen mit seinem vollen Wortlaut zur Verfügung gestellt worden ist. Ausweislich des Protokolls des LG vom 22.2.2019 wurde der Sachverständige im Anhörungstermin nur ergänzend zu seinem schriftlichen Gutachten angehört. Dies genügt den verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, weil der Betroffenen damit die Möglichkeit genommen worden ist, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.5.2018 - XII ZB 14/18 NJW-RR 2018, 964 Rz. 8).

Rz. 7

b) Die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetzt eine Bekanntgabe an den Betroffenen nicht, denn der Verfahrenspfleger ist - anders als ein Verfahrensbevollmächtigter - nicht Vertreter des Betroffenen im Verfahren. Durch eine Bekanntgabe an den Verfahrenspfleger kann allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt werden, wenn das Gericht von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens an den Betroffenen entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG absieht, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, und die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (vgl. BGH, Beschl. v. 8.8.2018 - XII ZB 139/18 FamRZ 2018, 1769 Rz. 11 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Insbesondere enthält das Sachverständigengutachten keinen Hinweis darauf, dass die Betroffene durch dessen Bekanntgabe Gesundheitsnachteile entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG zu befürchten hätte.

Rz. 8

c) Ebenso wenig konnte die erforderliche persönliche Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an die Betroffene durch die Übersendung des Gutachtens an den Betreuer ersetzt werden. Selbst wenn der Betreuer mit der Betroffenen über das Gutachten gesprochen hätte, wofür jedoch Feststellungen fehlen, genügte dies allein nicht, um dem Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör gerecht zu werden (vgl. BGH, Beschl. v. 8.8.2018 - XII ZB 139/18 FamRZ 2018, 1769 Rz. 12 m.w.N.).

Rz. 9

3. Gemäß § 74 Abs. 5 und 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das LG zurückzuverweisen.

Rz. 10

4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 13537560

NJW 2020, 398

FamRZ 2020, 127

FuR 2020, 48

ZAP 2019, 1286

BtPrax 2020, 39

JZ 2019, 858

MDR 2020, 116

Rpfleger 2020, 68

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