Verfahrensgang
LG Rostock (Urteil vom 21.05.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 21. Mai 2004 mit den Feststellungen, ausgenommen diejenigen zu den äußeren Tatgeschehen, aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat im wesentlichen Erfolg.
Die Strafkammer hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB mit nicht tragfähiger Begründung verneint.
1. Nach den Feststellungen besteht bei dem bislang nicht vorbestraften, unter Betreuung stehenden Angeklagten eine „100%ige geistige Behinderung”, die wahrscheinlich auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurückzuführen ist. Bei ihm liegt eine Intelligenzminderung vom Schweregrad der Imbezillität vor. Diese geht einher mit Verhaltensauffälligkeiten und einer generellen, massiven Entwicklungsverzögerung in „allen Dimensionen menschlichen Erlebens und Funktionierens”. In seiner psychischen und sozialen Entwicklung hat der Angeklagte „maximal das Niveau eines 5- bis 6-jährigen Kleinkindes” erreicht. Er kann weder lesen, noch schreiben oder rechnen. In der Erledigung alltäglicher Aktivitäten ist er deutlich eingeschränkt und verfügt über äußerst mangelhafte Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich. Er ist örtlich, zeitlich und zu seinem Lebenshintergrund nur unvollkommen orientiert.
2. Die Strafkammer ist dem Gutachten des Sachverständigen folgend davon ausgegangen, der Angeklagte sei aufgrund der festgestellten Intelligenzminderung bei Begehung der Taten im Sinne des § 21 StGB nur vermindert in der Lage gewesen, das „Unrecht der Taten einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln”; ein Schuldausschluß im Sinne des § 20 StGB habe hingegen nicht vorgelegen (UA 9).
Dieses Ergebnis begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken:
a) Die Ausführungen zur Unrechtseinsicht beim Angeklagten sind in sich widersprüchlich und lassen zudem besorgen, daß sich die Strafkammer über die unterschiedlichen Rechtsfolgen bei Vorliegen einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit nicht im klaren war.
Eine verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat (BGHSt 21, 27, 28 f.; 34, 22, 25 ff.). Die Schuld des Angeklagten wird hingegen nicht gemindert, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat (vgl. BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 6 m.w.N.). Erkannte er hingegen das Unrecht seiner Tat nicht, kann § 21 StGB nur angewendet werden, wenn dem Täter das Fehlen der Unrechtseinsicht vorzuwerfen ist. Kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, greift § 20 StGB ein mit der Folge, daß eine Bestrafung ausscheidet (st. Rspr., vgl. nur BGHR StGB § 20 Einsichtsfähigkeit 2 m.w.N.).
Die zuletzt genannte Möglichkeit hat die Strafkammer nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zwar hat sie sich mit der Frage der Unrechtseinsicht des Angeklagten bei Begehung der Taten befaßt und Umstände angeführt, die dafür sprechen könnten, daß sie vom Vorliegen einer Einsicht in das Unrecht seines Verhaltens ausgegangen ist. Der Angeklagte habe gegenüber dem Sachverständigen im Rahmen der Exploration zum Ausdruck gebracht, daß er erkannt habe, „etwas Verbotenes zu tun”. Hierfür spreche auch das zum Teil „planvolle” Vorgehen des Angeklagten, etwa die Wahl einer nicht einsehbaren Stelle zur Begehung der Tat. Diese Erwägungen sind jedoch – unabhängig davon, daß der zuletzt genannte Umstand nicht auf eine Unrechtseinsicht hinzudeuten braucht, sondern ebensogut mit einem dem Entwicklungsstand des Angeklagten entsprechenden schamhaften Verhalten erklärt werden kann – nicht in Einklang zu bringen mit der Wertung des Sachverständigen, die festgestellte Intelligenzminderung habe beim Angeklagten zur Annahme „einer fehlenden oder mangelnden” Unrechtseinsicht geführt (UA 8). Diese Wertung hat sich das Landgericht zu eigen gemacht. Den hierdurch entstandenen Widerspruch löst es nicht auf.
Ob der Angeklagte bei Begehung der Taten Einsicht in das Unrecht seines Verhaltens hatte oder ob diese Einsicht fehlte, ist deshalb für den Senat anhand der Urteilsgründe nicht nachzuvollziehen. Mithin kann auch nicht überprüft werden, ob die Strafkammer die Voraussetzungen des § 20 StGB im Ergebnis zu Recht verneint hat, da es im Falle des Fehlens der Unrechtseinsicht auf der Hand liegt, daß dieser Mangel dem Angeklagten, dessen Entwicklungsstand dem eines im Sinne des § 19 StGB schuldunfähigen Kindes entspricht, nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.
b) Auch die Annahme einer lediglich erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ist nicht widerspruchsfrei begründet.
Die Strafkammer hat sich insoweit ebenfalls die ihrerseits nicht widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen zu eigen gemacht. Dieser hat im Rahmen seines Gutachtens ausgeführt, daß der Angeklagte aufgrund seiner geringen sozialen Erkenntnisse und Ressourcen nicht in der Lage sei, seinen Sexualtrieb zu steuern (UA 8, 11). Weshalb die Strafkammer – auch insoweit dem Sachverständigen folgend – dennoch zu dem Ergebnis gelangt ist, die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sei nicht aufgehoben, sondern nur erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB gewesen, erschließt sich dem Senat nicht.
3. Über die Sache ist deshalb erneut zu verhandeln und zu entscheiden. Einer Aufhebung der Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen bedarf es nicht, da diese rechtsfehlerfrei getroffen worden sind. Sollte der neue Tatrichter die Schuldunfähigkeit des Angeklagten feststellen und erneut dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB anordnen, wird er sich mit der Frage zu befassen haben, ob gemäß § 67 b StGB eine Aussetzung der Vollstreckung der Anordnung zur Bewährung in Betracht kommt.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Kuckein, Solin-Stojanović, Sost-Scheible
Fundstellen