Leitsatz (amtlich)
1. Ein Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde ist für die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Haftanordnung nicht erforderlich.
2. Bescheinigt der im ärztlichen Dienst der Abschiebehafteinrichtung tätige Arzt, dass es an der Reisefähigkeit des Betroffenen fehlt, kann dies einen tatsächlichen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, begründen. In einem solchen Fall kann die Verwaltungsbehörde gehalten sein, weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen anzustellen, auch wenn die Bescheinigung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG nicht erfüllt.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; FamFG § 422 Abs. 2 S. 1; AufenthG § 60a Abs. 2, 2c Sätze 2-4, Abs. 2d
Verfahrensgang
LG Hannover (Entscheidung vom 17.12.2021; Aktenzeichen 53 T 35/21) |
AG Hannover (Entscheidung vom 21.09.2021; Aktenzeichen 46 XIV 76/21 B) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluss der 53. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 17. Dezember 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Antrag der Betroffenen auf Feststellung, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 21. September 2021 sie im Zeitraum vom 23. September 2021 bis zum 28. September 2021 in ihren Rechten verletzt hat, zurückgewiesen worden ist.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 21. September 2021 die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat, soweit Ausreisegewahrsam vom 23. September 2021 bis 28. September 2021 vollzogen worden ist.
Von den gerichtlichen Kosten aller Instanzen trägt die Betroffene 25 %; Dolmetscherkosten und weitere gerichtliche Kosten werden nicht erhoben. Der Kreis Peine trägt 75 % der außergerichtlichen Kosten der Betroffenen; im Übrigen trägt sie diese selbst.
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Die Betroffene, eine russische Staatsangehörige, reiste 2006 erstmals nach Deutschland ein. Die ihr 2015 erteilte Aufenthaltserlaubnis wurde letztmalig bis zum 17. Juli 2020 befristet. Eine weitere Verlängerung lehnte die beteiligte Behörde am 5. Oktober 2020 ab, forderte die Betroffene zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung an. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage lehnte das Verwaltungsgericht am 8. April 2021 ab. Am 25. August 2021, zugestellt am 28. August 2021, gab die beteiligte Behörde der Betroffenen auf, sich täglich zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr morgens in der zugewiesenen Unterkunft aufzuhalten. Vom 1. bis 7. September 2021 wurde die Betroffene in dieser Zeit nur an zwei Tagen in der Unterkunft angetroffen.
Rz. 2
Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 21. September 2021 Ausreisegewahrsam bis zum 28. September 2021 und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die Abschiebung sollte am 28. September 2021 erfolgen. Ausweislich der ärztlichen Bescheinigung der im Ärztlichen Dienst der Justizvollzugsanstalt tätigen Ärztin (nachfolgend: Anstaltsärztin) vom 22. September 2021 war die Betroffene bis mindestens zum 10. November 2021 nicht reisefähig wegen einer erforderlichen Substitutionsbehandlung und Schmerztherapie, deren Fortsetzung im Heimatland nicht gesichert sei. Die Bescheinigung ist der beteiligten Behörde am Abend des 22. September 2021 von der Justizvollzugsanstalt mit der Bitte um Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Ausreisegewahrsams übersandt worden. Die beteiligte Behörde hat mit E-Mail vom 23. September 2021 eine Entlassung der Betroffenen abgelehnt, weil eine Reiseunfähigkeit im engeren Sinn nicht vorliege, und die Bescheinigung nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genüge. Darüber hat die Justizvollzugsanstalt am 23. September 2021 auch den zuständigen Amtsrichter informiert, der eine Entlassung der Betroffenen von Amts wegen ebenfalls unter Hinweis auf § 60a Abs. 2c AufenthG abgelehnt hat.
Rz. 3
Am 27. September 2021 hat die Betroffene gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt und ein weiteres ärztliches Attest der Anstaltsärztin vom gleichen Tag vorgelegt. Das Verwaltungsgericht hat die beteiligte Behörde mit Beschluss vom 28. September 2021 verpflichtet, die Abschiebung bis zum 10. November 2021 auszusetzen, weil auf der Grundlage der beiden Atteste vom 22. und 27. September 2021 Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn vorliege. Die bereits begonnene Abschiebung ist daraufhin abgebrochen und der Beschluss vom 21. September 2021 aufgehoben worden.
Rz. 4
Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit des Ausreisegewahrsams festzustellen.
Rz. 5
II. Die Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg.
Rz. 6
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Amtsgericht habe zu Recht Ausreisegewahrsam gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG angeordnet. Ein ordnungsgemäßer Antrag gemäß § 417 FamFG liege vor. Da das Gericht in eigenem Ermessen über die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses entscheide, sei ein darauf gerichteter Antrag nicht notwendig. Zum Gesundheitszustand der Betroffenen seien weitere Ermittlungen nicht erforderlich gewesen. Unabhängig davon, dass die von ihr in der Anhörung vorgebrachten Einwände nicht die Gewahrsamsanordnung, sondern die Durchführung der Abschiebung betroffen hätten und damit haftrichterlich nicht zu prüfen gewesen seien, werde gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG vermutet, dass gesundheitliche Gründe der Abschiebung nicht entgegenstünden. Nachdem ein den Anforderungen dieser Vorschrift genügendes Attest vorgelegt worden sei, und das Verwaltungsgericht entschieden habe, sei der Beschluss vom 21. September 2021 unverzüglich aufgehoben worden. Die Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG hätten vorgelegen. Die Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig und die Ausreisefrist sei seit langem abgelaufen gewesen, so dass die Vermutung des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG gegen sie spreche. Auch wenn das bereits die Gewahrsamsanordnung rechtfertige, habe die Betroffene sich überdies auch nicht an die Ordnungsverfügung gehalten. Diese sei ausweislich des Schreibens der beteiligten Behörde in die russische Sprache übersetzt worden. Gegenteiliges habe der Verfahrensbevollmächtigte nicht vorgebracht, sondern lediglich vorgetragen, dies sei "soweit ersichtlich" nicht geschehen.
Rz. 7
2. Die gemäß § 70 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist in Bezug auf den Vollzug der Haft vom 23. bis 28. September 2021 begründet. Im Übrigen - hinsichtlich des Haftzeitraums vom 21. bis 22. September 2021 - ist sie unbegründet.
Rz. 8
a) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist die Haftanordnung zunächst zu Recht ergangen. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass ein zulässiger Haftantrag vorlag, ein Antrag der beteiligten Behörde auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses nicht erforderlich war, der Haftrichter die ihm obliegenden Amtsermittlungspflichten gemäß § 26 FamFG vor und bei Erlass der Haftanordnung nicht verletzt hat und die Voraussetzungen des § 62b AufenthG gegeben waren.
Rz. 9
aa) Ein zulässiger Haftantrag lag vor.
Rz. 10
(1) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7; vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19, juris Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19, juris Rn. 7 mwN; vom 20. Dezember 2022 - XIII ZB 40/20, juris Rn. 7).
Rz. 11
(2) Diese Anforderungen sind hier erfüllt. Den von der Rechtsbeschwerde erhobenen Einwänden ist kein Erfolg beschieden.
Rz. 12
(a) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, die Begründung des Haftantrags leide an offensichtlichen Denkfehlern, greift das nicht durch. Zur Begründung führt die Rechtsbeschwerde aus, der einzige im Haftantrag genannte Grund für die Fluchtgefahr sei, dass sich die Betroffene nicht an die ihr nicht übersetzte und daher nicht verständliche Ordnungsverfügung vom 18. August 2021 gehalten habe. Es sei aber nichts dazu vorgetragen, weshalb es auf den nächtlichen Aufenthalt der Betroffenen in der Unterkunft ankomme, wann der Transport zum Flughafen stattfinden solle und welcher zeitliche Vorlauf erforderlich sei, zumal die Abschiebung mit einem Flug um 10:55 Uhr habe stattfinden sollen. Das ist aus mehreren Gründen unzutreffend. Fluchtgefahr ist zur Anordnung des Ausreisegewahrsams gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG schon nicht Voraussetzung. Die beteiligte Behörde stützt ihren Haftantrag auf die unzweifelhaft erfüllte Vermutung des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG und ferner auf Buchstabe a der Vorschrift. Ein enger kausaler Zusammenhang zwischen den dem Betroffenen in einer Ordnungsverfügung aufgegebenen Mitwirkungspflichten (§ 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a AufenthG) und dem konkret geplanten Abschiebungsflug ist dafür schon nicht Voraussetzung und muss im Haftantrag nicht dargelegt werden. Da die Abschiebung ausweislich des Haftantrags vom Flughafen D aus erfolgen sollte, erschließt sich aus den üblichen Reise- und Vorlaufzeiten zudem ohne weiteres, dass der Transport aus H bereits vor 6:00 Uhr beginnen musste und die Abschiebung erschwert oder vereitelt worden wäre, wenn die Betroffene zu diesem Zeitpunkt in der Unterkunft nicht hätte angetroffen werden können.
Rz. 13
(b) Auch zur Gesundheitssituation der Betroffenen musste sich der Haftantrag nicht verhalten, nachdem sich das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 8. April 2021 mit den von der anwaltlich vertretenen Betroffenen vorgebrachten gesundheitlichen Einschränkungen auseinandergesetzt und eine Reiseunfähigkeit der Betroffenen verneint hatte.
Rz. 14
bb) Zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass ein Antrag der beteiligten Behörde auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung gemäß § 422 Abs. 2 FamFG keine Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Anordnung ist (Grotkopp, Abschiebungshaft, 2020 Rn. 536). Das ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der § 417 Abs. 1, § 422 Abs. 2 FamFG. Danach darf das Gericht eine Freiheitsentziehung zwar nur auf Antrag anordnen (§ 417 Abs. 1 FamFG). Ergeht eine solche Anordnung, steht es aber im Ermessen des Gerichts ("kann"), ob es - gegebenenfalls auch von Amts wegen - die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses anordnet (ebenso für § 324 Abs. 2 FamFG Schmidt-Recla in MüKoFamFG, 3. Aufl., § 324 Rn. 3). Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den von der Rechtsbeschwerde genannten Entscheidungen der Landgerichte Hamburg (Beschluss vom 1. April 2010 - 329 T 2/10, juris Rn. 34) und Mosbach (InfAuslR 2020, 209 [juris Rn. 8]). In den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Fallgestaltungen hatte die Behörde jeweils einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit gestellt, so dass es nicht darauf ankam, ob ein solcher verzichtbar gewesen wäre. Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit ist in der Regel geboten, weil bei Vorliegen eines Hafttatbestandes ansonsten der Zweck der Freiheitsentziehung verfehlt würde (Grotkopp, aaO Rn. 524; Bumiller in Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 13. Aufl., § 422 Rn. 2; Göbel in Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 422 Rn. 1; § 324 Rn. 1). So liegt es auch hier, da der Ausreisegewahrsam zur Sicherung und Vorbereitung der am 28. September 2021 geplanten Abschiebung angeordnet wurde. Ohnehin kann aber ein entsprechender Antrag auch der Antragsschrift entnommen werden. Die beteiligte Behörde beantragt ausdrücklich, den Ausreisegewahrsam vom 21. September bis einschließlich 28. September 2021 anzuordnen und mithin auch die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses.
Rz. 15
cc) Das Landgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass der Haftrichter seine Amtsermittlungspflichten gemäß § 26 FamFG nach den dafür geltenden Maßgaben (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2022 - XIII ZB 8/20, NVwZ 2023, 1358 Rn. 10 f.) vor Erlass der Haftanordnung nicht verletzt hat.
Rz. 16
(1) Der Haftrichter ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Verwaltungsakte gebunden, die der Abschiebung zugrunde liegen. Er hat grundsätzlich nicht zu prüfen, ob die Ausländerbehörde die Abschiebung zu Recht betreibt, wenn nicht eine offenkundige Rechtsverletzung oder eine offensichtliche Unrichtigkeit der behördlichen Entscheidung vorliegt. Bei der Prognose, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen geltend gemachten Abschiebungshindernisses durchgeführt werden kann, hat der Haftrichter eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger Abschiebungshindernisse entschieden wird (BGH, Beschluss vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 68/21, juris Rn. 8 mwN). Das gilt grundsätzlich auch für vom Betroffenen geltend gemachte Krankheiten und eine daraus folgende mögliche Reiseunfähigkeit, soweit diese nicht die Haftfähigkeit in Frage stellen, von der sich der Haftrichter uneingeschränkt zu überzeugen hat (BGH, Beschluss vom 31. August 2021 - XIII ZB 81/20, NVwZ-RR 2022, 237 Rn. 7 f. mwN).
Rz. 17
(2) Das Verwaltungsgericht hat sich im Beschluss vom 8. April 2021 mit den von der dort anwaltlich vertretenen Betroffenen vorgetragenen Krankheiten und der Reisefähigkeit ausdrücklich auseinandergesetzt. Es hat ausgeführt, dass die Betroffene eine Reiseunfähigkeit gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG nicht glaubhaft gemacht habe. Vor diesem Hintergrund und den pauschalen Angaben der Betroffenen in der Anhörung, es sei ein Knoten in ihrer Brust festgestellt worden und sie merke, dass sie keine Luft bekomme, hatte der Haftrichter entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde zunächst keinen Anlass, weitere Ermittlungen durchzuführen, zumal die Betroffene im Ausreisegewahrsam ärztlich betreut wurde.
Rz. 18
dd) Das Beschwerdegericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG zu Recht bejaht.
Rz. 19
(1) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, die Betroffene habe in der Beschwerdeinstanz vorgetragen, die Ordnungsverfügung sei der Betroffenen nicht übersetzt und ihr nicht verständlich gewesen, zeigt sie damit keinen Rechts- oder Verfahrensfehler auf. Denn die Ausländerbehörde hatte dem entgegengehalten, dem Schreiben vom 25. August 2021 sei eine russische Übersetzung beigefügt gewesen, die sich im Übrigen auch in der Ausländerakte befindet. Dem ist die Betroffene nach den Ausführungen des Landgerichts in der Beschwerdeinstanz nicht (mehr) entgegengetreten. Übergangenen Vortrag zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf.
Rz. 20
(2) Auch mit dem Vortrag, die Angaben der Betroffenen anlässlich der Anhörung würden als unglaubhaft dargestellt, obwohl sie sich unwidersprochen eingelassen habe, sie habe stets Kontakt zur Ausländerbehörde gehalten und sämtliche Termine wahrgenommen, zeigt die Rechtsbeschwerde einen Rechts- oder Verfahrensfehler nicht auf. Das Landgericht hat auf der Grundlage der Feststellungen des Amtsgerichts rechtsfehlerfrei angenommen, die Beschwerdeführerin - zu deren Lasten gemäß § 62b Abs. 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG vermutet wird, dass sie die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde - habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen wolle.
Rz. 21
b) Eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 26 FamFG liegt aber darin, dass das Amtsgericht, nachdem es am 23. September 2021 vom Attest der Anstaltsärztin vom 22. September 2021 Kenntnis erlangt hat, keine weiteren Ermittlungen zur möglichen Reiseunfähigkeit der Betroffenen durchgeführt hat.
Rz. 22
aa) Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. In diesem Fall ergibt sich ein verfassungsunmittelbares Abschiebungsverbot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn durch den Abschiebungsvorgang selbst eine Gefahr für Leib und Leben zu befürchten ist. Das setzt voraus, dass der Ausländer ohne Gefährdung seiner eigenen Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), oder dass die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; Gordzielik/Huber in Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl., § 60a AufenthG Rn. 24 mwN; Klutz/Breidenbach in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 39. Ed. [1.10.2023], § 60a AufenthG Rn. 13 mwN). Nach § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Mit der Vorschrift sollte praktischen Problemen begegnet werden, die durch kurzfristig vor der Abschiebung geltend gemachte Krankheiten entstanden waren. So sollte Schwierigkeiten bei der Bewertung der Validität von Bescheinigungen und dem Verhalten einiger Ausreisepflichtiger entgegengetreten werden, auf Vorrat ein Attest einzuholen, um dieses erst dann vorzulegen, wenn die Abschiebung mit erheblichem Aufwand eingeleitet worden war (Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 16. Februar 2016, BT-Drucks. 18/7538, S. 18 f.; Gordzielik/Huber in Huber/Mantel, aaO, § 60a AufenthG Rn. 47 mwN). Verletzt der Ausländer die sich aus § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG ergebende Pflicht zur unverzüglichen Vorlage der ärztlichen Bescheinigung nach Absatz 2c, darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Diese Einschränkung leitet sich unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ab. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass anderweitige tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Erkrankung von der Behörde stets zu berücksichtigen sind.
Rz. 23
bb) Solche anderweitigen tatsächlichen Anhaltspunkte für eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung der Betroffenen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ergaben sich aus dem Attest der Anstaltsärztin vom 22. September 2021.
Rz. 24
(1) Der Einschätzung der im ärztlichen Dienst der Abschiebehaftanstalt tätigen Ärzte kommt anders als vom Ausreisepflichtigen selbst vorgelegten Attesten besonderes Gewicht zu, weil sie ständig und im Auftrag der Länder mit der Beurteilung der Haftfähigkeit und Reisetauglichkeit der Ausländer in Abschiebungshaft befasst sind. Die Schwierigkeiten, denen § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG begegnen wollen, sind in Bezug auf Atteste der Anstaltsärzte nicht zu erwarten. Bescheinigt der im ärztlichen Dienst der Abschiebungshafteinrichtung tätige Arzt, dass es an der Reisefähigkeit des Betroffenen fehlt, kann dies daher einen tatsächlichen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, begründen. In einem solchen Fall kann die Verwaltungsbehörde gehalten sein, weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen anzustellen, auch wenn die Bescheinigung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG nicht erfüllt.
Rz. 25
(2) So liegt es hier. Die Anstaltsärztin hat die Reisefähigkeit der Betroffenen für den geplanten Abschiebungstermin verneint, weil die Fortsetzung einer erforderlichen Substitutionsbehandlung und Schmerztherapie im Heimatland nicht gesichert sei. Auch wenn dieses Attest die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht erfüllte, begründete es einen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür, dass der Abschiebung ein aus § 60a Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Hindernis entgegenstehen konnte.
Rz. 26
cc) Das ihm am 23. September 2021 vorgelegte Attest hätte der Haftrichter nicht unbeachtet lassen dürfen. Zwar war er nach den oben dargelegten Maßgaben grundsätzlich nicht selbst zur Prüfung verpflichtet, ob der Abschiebung eine etwaig mangelnde Reisefähigkeit der Betroffenen entgegenstand. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles bestand aber eine aus § 60a Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Aufklärungspflicht auch des Haftrichters, weil die beteiligte Behörde weitere Ermittlungen zur Reisefähigkeit der Betroffenen unter offenkundiger Verkennung der Bedeutung des vorgelegten Attests der Anstaltsärztin abgelehnt hatte. Der Haftrichter hätte daher bei der Anstaltsärztin ein den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügendes Attest anfordern und aufklären müssen, ob ein aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Abschiebungsverbot bestand.
Rz. 27
dd) Unterlässt es das Gericht, in die gebotene Sachaufklärung einzutreten, verletzt die weitere Freiheitsentziehung den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (BGH, Beschlüsse vom 30. Oktober 2013 - V ZB 69/13, Asylmagazin 2014, 138 Rn. 7; vom 20. Dezember 2022 - XIII ZB 8/20, NVwZ 2023, 1358 Rn. 9). Der Ausreisegewahrsam war daher ab dem 23. September 2021 rechtswidrig.
Rz. 28
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG. Der Antrag auf Verfahrenskostenhilfe hat sich erledigt, soweit der Landkreis die Kosten zu tragen hat. Im Übrigen war der Antrag mangels Erfolgsaussicht der Rechtsbeschwerde und mangels Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 76 Abs. 1 FamFG, § 117 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Kirchhoff |
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Roloff |
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Tolkmitt |
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Holzinger |
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Kochendörfer |
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Fundstellen
JZ 2024, 277 |
ZAR 2024, 217 |
Asylmagazin 2024, 414 |
MigRI 2024, 179 |