Leitsatz (amtlich)
1. Der Rechtsanwalt muß geeignete Vorsorge für den Fall treffen, daß er unvorhergesehen an der Wahrung gesetzter Fristen gehindert ist. Das gilt insbesondere, wenn er seine Kanzlei allein betreibt und nicht ständig über eingearbeitetes, zum selbständigen Handeln befähigtes Personal verfügt.
2. Das Fehlen geeigneter Vorsorgemaßnahmen wirkt sich auf die Fristversäumung aber dann nicht aus wenn für den Rechtsanwalt wegen einer plötzlichen schweren Erkrankung die Unterrichtung eines etwaigen Vertreters unzumutbar ist.
Verfahrensgang
OLG München (Entscheidung vom 19.12.1989) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin wird der Beschluß des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. Dezember 1989 aufgehoben.
Der Klägerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Beschwerdewert: 232.784 DM (227.139 DM + 1.941 DM + 3.704 DM).
Gründe
I.
Die Klägerin hat durch ihren früheren Prozeßbevollmächtigten gegen das am 17. April 1989 zugestellte Teilendurteil des Landgerichts vom 12. April 1989 am 16. Mai 1989 Berufung eingelegt. Nach mehrfacher Fristverlängerung wurde auf Antrag von Rechtsanwalt Schl., der zwischenzeitlich das Mandat übernommen hatte, zuletzt die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 20. Oktober 1989 verlängert. Mit einem am 6. November 1989 eingegangenen Schriftsatz wurde die Berufung begründet. Gleichzeitig hat die Klägerin um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gebeten. Zur Begründung ihres Antrags hat sie ausgeführt, daß ihr Prozeßbevollmächtigter - Rechtsanwalt Schl. - infolge eines physischen Zusammenbruchs am 19. Oktober 1989 in die Intensivstation eines Krankenhauses hätte eingeliefert werden müssen, wo er bis zum 23. Oktober 1989 verblieben sei. Das Berufungsgericht hat den Antrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Gegen diesen ihr am 21. Dezember 1989 zugestellten Beschluß richtet sich die am 1. Januar 1990 eingegangene sofortige Beschwerde der Klägerin, mit der sie den Wiedereinsetzungsantrag weiterverfolgt.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist begründet.
Zwar ist die Berufung entgegen § 519 Abs. 2 ZPO nicht innerhalb der vom Vorsitzenden gewährten Verlängerung begründet worden. Die Versäumung der Begründungsfrist führt aber unter den gegebenen Umständen nicht zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels. Sie ist weder auf eigenes Verschulden der Klägerin noch auf ein ihr gemäß § 85 ZPO anzulastendes Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten zurückzuführen, so daß ihr gemäß § 233 ZPO Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
Nach der glaubhaft gemachten Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung ist es zur Fristversäumnis dadurch gekommen, daß Rechtsanwalt Schl. nach einem physischen Zusammenbruch am 19. Oktober 1989 auf Anweisung des Notarztes im Rettungswagen in das Krankenhaus eingeliefert worden ist, wo er bis zum 20. Oktober 1989 auf der Intensivstation verblieb. Am 23. Oktober 1989 ist Rechtsanwalt Schl. auf eigenen Wunsch gegen ärztlichen Rat aus dem Krankenhaus entlassen worden.
Das Berufungsgericht hat den Vortrag zur Entlastung nicht ausreichen lassen. Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin habe rechtzeitig für den Fall einer immer möglichen unvorhersehbaren Verhinderung durch Erkrankung oder infolge Unfalls Vorsorge treffen müssen. Für diese Fälle sei sicherzustellen, daß entweder ein Vertreter vorhanden sei oder das Kanzleipersonal sich an einen solchen wenden könne. Wäre Rechtsanwalt Schl. dem nachgekommen, so hätte der Vertreter spätestens am 20. Oktober 1989 - also vor Ablauf der Frist zur Begründung der Berufung - eine nochmalige Verlängerung dieser Frist erwirken können.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts rechtfertigen die Verweigerung der begehrten Wiedereinsetzung nicht. Zwar ist dem Berufungsgericht darin zu folgen, daß der Anwalt gehalten ist, geeignete Vorsorge für den Fall zu treffen, daß er unvorhergesehen an der Wahrnehmung seiner Aufgaben, insbesondere an der Wahrung gesetzter Fristen, gehindert wird. Eine derartige Verpflichtung ist insbesondere dann gegeben, wenn - wie vorliegend - der Anwalt seine Kanzlei allein betreibt und nicht ständig über eingearbeitetes, zum selbständigen Handeln befähigtes Kanzleipersonal verfügt (vgl. BGH Beschluß vom 24. Oktober 1985 - VII ZB 16/85 = VersR 1985, 1189) . Der Vortrag des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, er habe nicht ständig - jedenfalls nicht im Oktober 1989 - Personal gehabt, vermag ihn daher insoweit nicht zu entlasten. Auch der Einzelanwalt hat - z.B. durch Absprache mit einem vertretungsbereiten Kollegen - ihm zumutbare Maßnahmen zur Vorsorge zu treffen. Das Berufungsgericht konnte hier auch davon ausgehen, daß Rechtsanwalt Schl. keine derartigen Vorkehrungen getroffenen hat.
Indes kann hier nicht davon ausgegangen werden, daß sich das Fehlen geeigneter Vorsorgemaßnahmen auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ausgewirkt hat. Denn für das Tätigwerden eines Vertreters, das - weil es vorliegend um eine tatsächlich und rechtlich nicht einfache Arzthaftungssache geht - nur in einem Gesuch um weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hätte bestehen können, war es notwendig, daß Rechtsanwalt Schl. die Weitergabe der Information über seine plötzliche Erkrankung an einen Vertreter noch hätte veranlassen können. Davon kann aber unter den gegebenen Umständen nicht ausgegangen werden. Die Einlieferung von Rechtsanwalt Schl. am 19. Oktober 1989 durch den Notarzt und seine Verlegung auf die Intensivstation weisen auf sehr schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen hin, die es für ihn nicht zumutbar machten, sich in dieser Situation noch Gedanken über die Unterrichtung eines Vertreters von seiner Erkrankung zu machen. Solches in einer - jedenfalls für den Betroffenen - lebensbedrohlich erscheinenden Lage zu verlangen, würde die Anforderungen an die Pflichten des Anwalts überspannen. Auch dann, wenn Vorsorge in seinem Büro für die krankheitsbedingte Abwesenheit des Anwalts durch Absprache mit einem Kollegen getroffen ist, kann es - gerade bei einem Anwalt, der seine Praxis allein betreibt und nicht durchgehend Personal beschäftigt - unter Umständen Situationen geben, in denen der Verhinderung des Anwalts mit zumutbaren Vorsorgemaßnahmen nicht mehr zu begegnen ist (vgl. BGH Beschlüsse vom 11. März 1987 - VIII ZB 2/87 = VersR 1987, 785, 786 undvom 15. Februar 1967 - VII ZB 3/67 = VersR 1967, 476, 477 für die plötzliche Erkrankung außerhalb der Bürozeit).
Es ist davon auszugehen, daß Rechtsanwalt Schl. für die Zeit des Aufenthalts auf der Intensivstation bis zum 20. Oktober 1989 an der Einhaltung der Frist für die Vorlage der Berufungsbegründung gehindert war. Nach der Verlegung war es ihm frühestens am folgenden Werktag - dem 23. Oktober 1989 - möglich, in der Sache mit dem Ziel der Wiedereinsetzung tätig zu werden. Die Anbringung des Gesuchs und die Einreichung der Berufungsbegründungsschrift am 6. November 1989 liegen demgemäß in der Frist des § 234 ZPO. Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses war der Klägerin daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren.
Beschwerdewert: 232.784 DM (227.139 DM + 1.941 DM + 3.704 DM).
Fundstellen
Haufe-Index 3018879 |
DAR 1990, 228 (Volltext mit amtl. LS) |
VersR 1990, 1026 (Volltext mit red. LS) |