Entscheidungsstichwort (Thema)
Körperverletzung mit Todesfolge
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19. März 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die mit der allgemeinen Sachrüge begründete Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Einstellung des Verfahrens wegen Verfolgungsverjährung. Zu Unrecht hat das Schwurgericht ein Ruhen der Verjährung für die Tat des jetzt 65jährigen Angeklagten, die dieser vor mehr als 42 Jahren in Berlin (Ost) begangen hatte, angenommen.
1. Am 2. März 1959 hatten sich etwa 40 Jugendliche – wie damals regelmäßig an Montagen und Freitagen – am Bahnhof Lichtenberg in Berlin (Ost) versammelt, um gemeinsam aus mitgebrachten Kofferradios laute Musik, die vom „Westsender” RIAS Berlin ausgestrahlten „Schlager der Woche”, zu hören. Dabei zogen sie, teils untergehakt, durch die Stalinallee und drängten so Passanten ab, die sich auch dadurch belästigt fühlten, daß sie von den übermütigen jungen Leuten „in Halbstarkenmanier” angesprochen wurden. Mehrere Lichtenberger Funkstreifenwagen rückten an zum „Zersprengen” der Gruppe und, um Festnahmen durchzuführen. Zur Verstärkung wurde ein weiterer Funkwagen aus Friedrichshain angefordert, in dem der Angeklagte neben einem Fahrer und einem Einsatzleiter als Begleiter mitfuhr. Als dieses Polizeifahrzeug eintraf, war die große Gruppe bereits aufgelöst; einige Jugendliche waren zur Aufnahme der Personalien festgehalten worden. Danach hatte sich nochmals eine kleinere Gruppe zusammengefunden, die, als der Friedrichshainer Funkwagen anhielt, erneut auseinanderlief. Der 22jährige Angeklagte, der seit 10 Monaten Bediensteter der Volkspolizei war und sich im Dienstgrad eines Oberwachtmeisters bei seinem ersten großen Einsatz anläßlich der gesellschaftlich und politisch unerwünschten Verhaltensweise der Jugendlichen einem besonderen Erwartungs- und Erfolgsdruck ausgesetzt sah, verfolgte den davonlaufenden 18jährigen R , um ihn auftragsgemäß festzunehmen. Als er den jungen Mann erreichte und ihn kurz an der Kleidung festhielt, riß dieser sich los; dabei traf er den Angeklagten möglicherweise gezielt mit einer Hand oder einem Arm am Auge. Der Angeklagte verfolgte R weiter und rief ihm nach, er möge stehenbleiben; auch der Einsatzleiter rief den jungen Mann erfolglos an. Dieser machte auch nach einem Warnschuß des Angeklagten aus seiner Dienstpistole nicht halt. Daraufhin gab der Angeklagte, um den nun schon etwa 20 Meter vor ihm laufenden R nicht entkommen zu lassen und ihn festnehmen zu können, einen gezielten Schuß auf dessen Beine ab. Der Schuß traf R jedoch in den Rücken, er fiel schwerverletzt zu Boden und wurde ins Krankenhaus der Volkspolizei gebracht.
Dort wurde er zunächst erfolgreich operiert. Drei Wochen später, nachdem er bereits kurzfristig in Untersuchungshaft genommen, kurze Zeit danach jedoch in das Krankenhaus zurückverlegt worden war, verstarb er an massiven inneren Blutungen aus Magengeschwüren, die sich als Folge des Schusses, der die Leber durchschlagen hatte, gebildet hatten.
Gegen den Angeklagten, der vorübergehend im Innendienst eingesetzt worden war, wurde trotz Anzeige und Nachfragen der Mutter des Getöteten kein Strafverfahren durchgeführt. Ein Totenschein, der die Schußverletzung als Todesursache auswies, war den Eltern zunächst ausgehändigt, später jedoch behördlich wieder eingezogen worden. Mehrere Jugendliche, die der Gruppe in der Stalinallee angehört hatten, wurden wegen Landfriedensbruchs zu mehrmonatigen zu vollstreckenden Haftstrafen verurteilt.
2. Die Tat – die das Schwurgericht zutreffend als vorsätzliche und rechtswidrige Erfüllung des Verbrechenstatbestandes der Körperverletzung mit Todesfolge bewertet hat – ist verjährt. Verfolgungsverjährung war zur Zeit der ersten möglichen Verjährungsunterbrechung im Januar 2000, mithin mehr als 40 Jahre seit Begehung und Beendigung der Tat, nach sämtlichen in Betracht kommenden Vorschriften längst eingetreten (vgl. § 67 Abs. 1 i.V.m. § 226 RStGB; § 82 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 117 StGB-DDR; sogar § 78 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 227 Abs. 1 StGB).
Die Verjährung hat nicht erst mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages zu laufen begonnen. Entgegen der Auffassung des Schwurgerichts kann nicht angenommen werden, daß die Verfolgungsverjährung in der DDR wegen eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses im Sinne des § 83 Nr. 2 StGB-DDR (vgl. – deklaratorisch – Art. 1 des [1.] Verjährungsgesetzes vom 26. März 1993, BGBl I 392) geruht hat. Dies setzte voraus, daß sicher feststünde, daß die Nichtverfolgung des Angeklagten in der DDR auf deren rechtsstaatswidriger Staatspraxis beruhte (BGHSt 40, 113, 118). Das ist nicht der Fall.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird das Ruhen der Verjährung angenommen für die Strafverfolgung in Fällen von Schüssen an der innerdeutschen Grenze (BGHSt 40, 48; 40, 113), in Fällen von Rechtsbeugungen und damit tateinheitlich zusammentreffenden Delikten durch Angehörige der DDR-Justiz in politischen Strafsachen (BGHSt 41, 247, 248; 41, 317, 320), in Fällen vom MfS veranlaßter Verschleppungen von Bundesbürgern in die DDR (BGHSt 42, 332, 336 ff.), von Freiheitsberaubungen durch politische Denunziationen (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 100, 101) sowie in Fällen staatlich zentral gelenkter Vergabe schädlicher Dopingmittel an uneingeweihte Sportler (BGHR StGB § 78b Abs. 1 – Ruhen 8 und BGH, Beschluß vom 5. September 2001 – 5 StR 330/01 –). Bei diesen Fallgruppen waren die Straftaten bereits generell auf Veranlassung oder wenigstens mit Billigung der politischen Führung der DDR verübt worden. Ferner wird ein Ruhen der Verjährung auch angenommen für die Strafverfolgung in Fällen von Körperverletzungen an Gefangenen durch Strafvollzugsbedienstete der DDR, die jedenfalls im Interesse des staatlichen Ansehens als geheimhaltungsbedürftig angesehen wurden (BGHR StGB § 78b Abs. 1 – Ruhen 2 und 6). Entsprechendes gilt für Fälle von Aussageerpressungen durch Angehörige des MfS (BGHR StGB § 78b Abs. 1 – Ruhen 9).
Die vorliegend zu beurteilende Tat gehört zu keiner dieser Fallgruppen. Sie ist auch den letztgenannten Fällen nicht vergleichbar. Es sind keine Belege oder Erkenntnisse über ähnliche Fälle ersichtlich, aus denen sich ableiten ließe, daß hier eine Verfolgung um unbedingt gewünschter Geheimhaltung willen von Staats wegen systematisch hintertrieben worden wäre.
b) Daß die vorliegende, mithin individuell zu beurteilende Tat von Staats wegen aus rechtsfeindlichen Motiven – nämlich aufgrund staatlich unbedingt gewollter Geheimhaltung unter Hintanstellung im Interesse des Rechtsgüterschutzes unverzichtbarer Strafverfolgungsverpflichtungen – unverfolgt geblieben wäre, läßt sich durch Urteilsfeststellungen und aktenkundige Indizien nicht mit ausreichender Sicherheit belegen.
Daß der Vorfall keinen erhaltenen Eintrag in Personalakten des Angeklagten gefunden hat, ist nicht geeignet, seine systematisch betriebene Vertuschung zu belegen. Er ist in Polizeiberichten aktenkundig gemacht worden. Es ist – anders als in vielen bekannt gewordenen Fällen des Schußwaffengebrauchs an der innerdeutschen Grenze – kein Versuch unternommen worden, die Umstände der schweren Verletzung des Opfers und seines Todes vor den Angehörigen geheimzuhalten. Die durchschossene Kleidung des Toten ist den Angehörigen ausgehändigt worden. Der Tote ist obduziert worden, die dabei zur Todesursache erhobenen Befunde sind nicht verfälscht und auch nicht nachweislich vernichtet worden. Die erwiesene Ursächlichkeit des Schußwaffengebrauchs ist vielmehr in dem ersten, den Angehörigen zunächst ausgehändigten Totenschein dokumentiert worden.
Daß dieser Totenschein später gegen einen solchen ausgetauscht wurde, der lediglich die unmittelbare Todesursache ohne Verbindung zu der vorangegangenen Schußverletzung bezeichnete, deutet freilich ebenso wie Hinweise auf eine staatliche Beobachtung der Beerdigung des Opfers darauf hin, daß die Behörden Aufsehen wegen des Falles befürchteten. Erklärbar ist dieser staatliche Argwohn vor dem Hintergrund des bereits politisch mißliebigen Geschehens der Gruppenaktivitäten in Lichtenberg, die letztlich Anlaß für den polizeilichen Schußwaffengebrauch gewesen waren. Eine gezielte rechtsfeindliche Nichtverfolgung der Tat wird damit noch nicht bewiesen.
Freilich bleibt der Umstand, daß trotz der Bekanntheit des Falles, sogar ungeachtet einer Strafanzeige der Mutter ein Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten offenbar nicht einmal eingeleitet worden ist, auf den ersten Blick angesichts der zutreffenden strafrechtlichen Bewertung der Tat durch das Schwurgericht auffällig. Indes darf die Betrachtungsweise der strafrechtlichen Ermittlungsbehörden in Berlin (Ost) vor mehr als 40 Jahren, insbesondere zum Hintergrund der Tat nicht übersehen werden. Danach liegt auf der Hand, daß die Ermittlungsbehörden den gezielten Schußwaffengebrauch durch den Angeklagten eindeutig nicht als strafbar ansahen. Gleichwohl erscheint es nicht gerechtfertigt, dies als eine von einem Unrechtssystem geprägte Sichtweise zu bewerten. Es wäre nämlich nicht einmal besonders wahrscheinlich, daß ein Polizeibeamter, der zur Tatzeit in der Bundesrepublik Deutschland in vergleichbarer Situation zur Durchsetzung einer als berechtigt angesehenen Festnahme mit Verletzungsvorsatz auf den Festzunehmenden geschossen und dadurch fahrlässig dessen Tod verursacht hätte, hierfür bestraft worden wäre (vgl. BGHSt 39, 1, 21 f.). Vor diesem Hintergrund kann in der Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens in der DDR im vorliegenden Einzelfall gegen den Angeklagten die erforderliche gesicherte Grundlage für die Annahme des Ruhens der Verjährung in der DDR nicht gefunden werden.
Der Senat schließt aus, daß ein neuer Tatrichter hierzu weitergehende hinreichende Erkenntnisse gewinnen könnte. Anhaltspunkte dafür sind jenseits der Urteilsfeststellungen und des Aktenkundigen nicht ersichtlich. Der Senat entscheidet mithin von sich aus auf Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung.
3. Er ist hieran auch nicht etwa gehindert, weil er vorrangig gehalten wäre, den Angeklagten freizusprechen.
Allerdings hielte das angefochtene Urteil auch sonst sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand. Es wäre vielmehr auch jenseits der Verjährungsfrage umfassend aufzuheben gewesen. Das Schwurgericht hat nämlich die sich aufdrängende Frage nach einem Verbotsirrtum des Angeklagten gänzlich unerörtert gelassen. Von solcher Erörterung war das Gericht auch nicht etwa freigestellt, weil sich der Angeklagte nicht auf einen solchen Irrtum berufen hatte. Daß er – der das Geschehen ersichtlich jahrzehntelang zu verdrängen gesucht hatte – sich mit der – rechtsfehlerfrei widerlegten – Behauptung zu verteidigen suchte, er habe den letztlich tödlichen Schuß unbeabsichtigt ausgelöst, gab keinen berechtigten Anlaß, eine bei anders festgestelltem Tatablauf naheliegende Entschuldigungsmöglichkeit zu vernachlässigen, auf die sich der Angeklagte bei seiner Verteidigungsstrategie schwerlich berufen konnte.
Tatsächlich liegt – was ohne weiteres aus den Erörterungen zur Tatzeitsicht der DDR-Ermittlungsbehörden folgt – die Annahme nahe, daß der Angeklagte sich für berechtigt hielt, zur Durchsetzung der ihm aufgetragenen Festnahme mit Verletzungsvorsatz auf sein Opfer zu schießen. Wäre ein solcher Verbotsirrtum festzustellen gewesen und wäre er für den Angeklagten sogar unvermeidbar gewesen – was im Blick auf eine entsprechende Beurteilung für Schußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze mit bloßem Verletzungsvorsatz (vgl. BGHSt 39, 168, 194 f.; 41, 10, 15; 42, 356, 364; BGHR WStG § 5 Abs. 1 – Schuld 7) nicht undenkbar wäre –, hätte sich der Angeklagte lediglich aufgrund des konkreten Schußwaffeneinsatzes wegen fahrlässiger Tötung strafbar machen können. Dieser geringere Tatvorwurf wäre aber – selbst nach der Sichtweise des Tatrichters absolut – verjährt gewesen. Danach wäre der Angeklagte von dem weitergehenden angeklagten Verbrechensvorwurf freizusprechen gewesen (vgl. BGHSt 36, 340; BGHR StPO § 260 Abs. 3 – Freispruch 3; jeweils m.w.N.).
Hierzu erlauben die bisherigen Feststellungen, schon weil es an jeder Erörterung der Irrtumsproblematik in dem angefochtenen Urteil fehlt, jedoch keine abschließende Entscheidung des Senats. Mithin hat es bei der für den Angeklagten im Vergleich zu einer Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache günstigeren sofortigen Durchentscheidung auf Verfahrenseinstellung zu bleiben.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 657726 |
NStZ 2002, 143 |
NJ 2002, 45 |