Leitsatz (amtlich)
Es wird daran festgehalten, daß bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels das Gericht an das sonst vorgeschriebene Beweisverfahren nicht gebunden, sondern insoweit der sog. Freibeweis möglich ist (im Anschluß an BGH NJW 1951, 441 Nr. 8 u. Urt. vom 25. Oktober 1977 – VI ZR 198/76 = VersR 1978, 155).
Normenkette
ZPO § 284
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main |
LG Frankfurt am Main |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Kläger wird der Beschluß des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 23. September 1986 aufgehoben.
Beschwerdewert: 50.000 DM.
Gründe
I.
Die Kläger nehmen die Beklagten auf Rückzahlung von Leistungen in Anspruch, die sie aufgrund eines Grundstückskaufs und eines Werkvertrags für ein Bauvorhaben erbracht haben. Sie halten diese Verträge für unwirksam und verlangen deshalb jetzt noch vom Beklagten zu 1) die Rückzahlung von 15.575,84 DM, von beiden Beklagten als Gesamtschuldnern ferner 34.600 DM, jeweils zuzüglich Zinsen.
Das Landgericht hat die Klage bis auf 175,84 DM (nebst Zinsen) abgewiesen, weil die weitergehende Forderung der Kläger durch Leistungen von dritter Seite bereits erfüllt sei.
Gegen dieses, ihnen am 2. Dezember 1985 zugestellte Urteil haben die Kläger mit einem am 5. Februar 1986 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Die gleichzeitig wegen der Versäumung der Berufungsfrist beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde ihnen mit Beschluß vom 18. Februar 1986 gewährt.
Die Berufungsbegründungsfrist wurde nicht verlängert. Eine Berufungsbegründung ist innerhalb der Frist nicht zu den Akten gelangt. Nachdem der Streithelfer der Beklagten mit einem am 18. April 1986 eingegangenen Schriftsatz die Verwerfung der Berufung als unzulässig beantragt hatte, reichten die Kläger mit einem Wiedereinsetzungsantrag am 2. Mai 1986 Abschrift einer unter dem 17. Februar 1986 datierten Berufungsbegründungsschrift ein. Sie trugen vor und machten mit eidesstattlicher Versicherung glaubhaft, das Original dieser Berufungsbegründungsschrift sei bereits am 17. Februar 1986 von dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger persönlich in den Nachtbriefkasten des Berufungsgerichts eingeworfen worden.
Mit Beschluß vom 23. September 1986 hat das Berufungsgericht ohne Entscheidung über die Berufung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt. Dagegen haben die Kläger frist- und formgerecht sofortige Beschwerde eingelegt.
II.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann den Klägern Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht gewährt werden. Das Berufungsgericht hält es nicht für hinreichend glaubhaft gemacht, daß der erstinstanzliche Prozeßbevollmächtigte der Kläger, wie er an Eides Statt versichert, am 17. Februar 1986, also während des Laufs der Berufungsbegründungsfrist, eine Begründungsschrift in den Nachtbriefkasten des Gerichts eingelegt hat.
1. Die sofortige Beschwerde ist begründet. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Unrecht und zu Lasten der Kläger über eine Wiedereinsetzung der Kläger wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist entschieden. Hierzu bestand nach dem Sachvortrag der Kläger kein Anlaß. Diese haben nicht unverschuldete Versäumung der Berufungsbegründungsfrist vorgetragen, vielmehr in erster Linie behauptet und unter Beweis gestellt, daß sie die Berufung rechtzeitig begründet haben.
a) Zu Unrecht will das Berufungsgericht hinsichtlich der Einhaltung der Begründungsfrist darauf abstellen, daß der Schriftsatz zu den Akten des Verfahrens gelangt. Hierauf kommt es nicht an, vielmehr ist allein der Eingang bei Gericht – hier in der Form des Einwurfs in den Nachtbriefkasten – maßgebend (vgl. BVerfGE 52, 203 = NJW 1980, 580; BGHZ 80, 62; vgl. a. Senatsbeschluß NJW 1986, 2646).
Die Kläger wollen die wirksame Vornahme einer Prozeßhandlung geltend machen, die im Regelfall durch den entsprechenden Schriftsatz mit einer gerichtlichen Beurkundung des Eingangs nachgewiesen wird. Dies wollen sie auf andere Art beweisen. Lediglich hilfsweise beantragen sie Wiedereinsetzung, wobei ihr Vortrag insoweit nur dahin verstanden werden kann, daß sie diese beantragen, wenn die rechtzeitige Einreichung einer ordnungsgemäßen Berufungsbegründung am 17. Februar 1986 die Frist allein deshalb nicht gewahrt haben sollte, weil der Schriftsatz nicht mehr auffindbar ist.
b) Die Voraussetzungen, unter denen die Kläger um Wiedereinsetzung gebeten haben, liegen daher nicht vor. Daß eine Frist gewahrt ist, kann auch in anderer Weise als durch den Schriftsatz mit Eingangsbeurkundung bewiesen werden. Allerdings genügt in diesem Fall, da es sich um die rechtzeitige und ordnungsgemäße Vornahme einer Prozeßhandlung handelt, nicht die bloße Glaubhaftmachung. Vielmehr ist voller Beweis erforderlich. Die Beweismittel müssen somit die volle Überzeugung des Gerichts von der zu beweisenden Tatsache begründen.
Lediglich für die Beweiserhebung gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der sogenannte Freibeweis (vgl. BGH NJW 1951, 441 Nr. 8 u. Urteil vom 25. Oktober 1977 – VI ZR 198/76 = VersR 1978, 155; siehe auch Zöller/Vollkommer u. Stephan, ZPO, 15. Aufl., 5 56 Rdnr. 8 u. vor 5 284 Rdnr. 7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 45. Aufl., Einf. vor § 284 Anm. 3 A c; ferner Rüssmann in AK ZPO vor § 284 Rdnr. 28). Davon abzugehen besteht kein Anlaß. Die hiergegen vorgetragene Kritik des Schrifttums (vgl. etwa Stein/Jonas/Schumann/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 56 Rdnr. 7; vor § 128 Rdnr. 97; 19. Aufl. vor § 355 III 2; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl., § 78 V 2 c u. § 113 III 2; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., Seite 438 ff.; Bruns, Lehrbruch des Zivilprozeßrechts, 2. Aufl., § 32 Rdnr. 172 b; Thomas/Putzo, ZPO, 14. Aufl., 3 c vor § 284) ist nicht berechtigt. Die Begründung, Freibeweis komme wegen der Bedeutung der zu beweisenden Tatsachen nicht infrage, ist nicht tragfähig. Es geht nicht um eine Verminderung der Anforderungen an die Überzeugung des Gerichts, vielmehr allein um die Mittel und um das Verfahren, in dem diese Überzeugung gewonnen wird. Nur insoweit ist das Gericht im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens beim Freibeweis freier gestellt. Dabei wird u.a. gerade die Bedeutung der zu beweisenden Tatsache das gerichtliche Ermessen über Art und Umfang der Beweiserhebung zu bestimmen haben. Auch der Schutz der Parteien erfordert jedenfalls für die Feststellung der zu beweisenden Tatsachen nichts anderes. Somit ist aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit am Grundsatz des Freibeweises für Prozeß- und für Zulässigkeitsvoraussetzungen von Rechtsmitteln festzuhalten.
2. Das Berufungsgericht hat somit zu Unrecht über eine Wiedereinsetzung der Kläger entschieden. Unter dem Blickwinkel, daß der Nachweis möglich ist, die Berufungsbegründungsfrist sei gewahrt worden, hat es den Vortrag der Kläger überhaupt nicht gewürdigt. Sein Beschluß ist daher aufzuheben.
Ob der Beweis hier geführt werden kann, hat das Berufungsgericht im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen. Dabei wird es folgendes zu berücksichtigen haben: Allein die Tatsache, daß der Schriftsatz bisher nicht aufgetaucht ist, kann kein zwingender Grund sein, an den Erklärungen des Prozeßbevollmächtigten der Kläger zu zweifeln. Der endgültige und unaufklärbare Verlust von Schriftsätzen und Akten kommt erfahrungsgemäß vor, mag er auch selten sein. Daß die Einreichung der Berufungsbegründungsschrift an sich nicht eilig war, ist schon deshalb kein überzeugendes Argument gegen die behauptete Einlegung in den Nachtbriefkasten, weil an diesem Tag nachweisbar ein fristwahrender eiliger Schriftsatz dort tatsächlich eingelegt wurde. Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hätte somit nicht eigens wegen eines keineswegs eiligen Schriftsatzes den Nachtbriefkasten aufgesucht haben müssen, was in der Tat unglaubwürdig wäre. Verschuldensgesichtspunkte, wie sie das Berufungsgericht heranziehen will, etwa daß die Einlegung in den Nachtbriefkasten angeblich erfahrungsgemäß weniger zuverlässig und sicher ist, sind hier schon deshalb unangebracht, weil es nicht um eine verschuldete Fristversäumung geht.
Im Ergebnis wird das Berufungsgericht somit zu prüfen haben, ob der vom Prozeßbevollmächtigten der Kläger bekundete Verlauf, dem eine objektiv an sich seltene Verkettung von Umständen zugrundeliegen müßte, durch diese Bekundungen hinreichend zu beweisen ist. Da es an Anhaltspunkten fehlt, die für den konkreten Fall einen anderen Verlauf ausschließen oder nahelegen, kommt es allein hierauf an.
Fundstellen
Haufe-Index 609418 |
NJW 1987, 2875 |