Entscheidungsstichwort (Thema)
Behauptetes fristgerechtes Einwerfen eines Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden. Entscheidung über Wiedereinsetzungsantrag. Zweifel an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist
Leitsatz (amtlich)
Über einen Wiedereinsetzungsantrag wegen Versäumung einer Frist zur Begründung eines Rechtsmittels ist erst und nur dann zu entscheiden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist gewahrt ist.
Normenkette
ZPO §§ 233, 522 Abs. 1
Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 16.06.2006; Aktenzeichen 14 S 3895/06) |
AG München (Urteil vom 19.01.2006; Aktenzeichen 413 C 3340/05) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des LG München I, 14. Zivilkammer, vom 16.6.2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 1.047,96 EUR
Gründe
I.
[1] Das Urteil des AG, mit dem die Beklagte verurteilt worden ist, einer Mieterhöhung zuzustimmen, ist dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 31.1.2006 zugestellt worden. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 27.2.2006 Berufung eingelegt. Auf den Antrag ihres Prozessbevollmächtigten vom 31.3.2006 hat das Berufungsgericht die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 2.5.2006 verlängert.
[2] Mit Schriftsatz vom 7.6.2006, der bei dem Berufungsgericht am 8.6.2006 eingegangen ist, hat die Beklagte gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Berufungsbegründung - die dem Schriftsatz vom 7.6.2006 nochmals angeheftet war - von ihrem Prozessbevollmächtigten am 2.5.2006 in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden geworfen worden sei. Zur Glaubhaftmachung hat sie eine anwaltliche Versicherung ihres Prozessbevollmächtigten vorgelegt, in der dieser an Eides statt versichert, am 2.5.2006 die Berufungsbegründungsschrift angefertigt und dann persönlich gegen 18.00 Uhr in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden eingeworfen zu haben.
[3] Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag und die Berufung der Beklagten durch Beschluss als unzulässig verworfen. Dagegen wendet die Beklagte sich mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
[4] Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
[5] 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß statthaft. Sie ist nach auch zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Die Beklagte hat vorgetragen, die Berufungsbegründung sei von ihrem Prozessbevollmächtigten am 2.5.2006 - und damit noch rechtzeitig am Tag des Fristablaufs - in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden geworfen worden. Nach ihrem Vorbringen hat das Berufungsgericht den fristgerecht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt und sie damit in ihrem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Zur Beseitigung dieser Gehörsverletzung erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (vgl. Senatsbeschluss v. 19.9.2006 - VIII ZB 42/05, juris, unter II 1).
[6] 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
[7] a) Das Berufungsgericht durfte die Berufung der Beklagten nicht ohne weitere Sachaufklärung mit der Begründung nach als unzulässig verwerfen, eine Berufungsbegründung sei erst am 8.6.2006 - und damit verspätet - eingereicht worden. Das Berufungsgericht hätte von Amts wegen klären müssen, ob die Behauptung der Beklagten zutrifft, ihr Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründungsschrift bereits am 2.5.2006 - und somit fristgerecht - in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden eingeworfen.
[8] Das Berufungsgericht hat nach § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels gilt, auch soweit es um die Rechtzeitigkeit der Begründung des Rechtsmittels geht, der sog. Freibeweis (BGH, Beschl. v. 7.12.1999 - VI ZB 30/99, MDR 2000, 290 = NJW 2000, 814, unter II 2 m.w.N.). Danach ist das Gericht weder von einem Beweisantritt der Parteien abhängig noch auf die gesetzlichen Beweismittel beschränkt (Senatsbeschluss v. 30.1.1991 - VIII ZB 44/90, VersR 1991, 896, unter II 2b m.w.N.). Im Rahmen des Freibeweises können deshalb auch eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt werden (BGH, Beschl. v. 27.5.2003 - VI ZB 77/02, MDR 2003, 1193 = BGHReport 2003, 969 = NJW 2003, 2460, unter II 2; BGH, Beschl. v. 7.12.1999, a.a.O., jeweils m.w.N.).
[9] Das Berufungsgericht hätte daher prüfen müssen, ob die von der Beklagten vorgelegte anwaltliche Versicherung ihres Prozessbevollmächtigten, in der dieser an Eides statt versichert, am 2.5.2006 die Berufungsbegründungsschrift angefertigt und dann persönlich gegen 18.00 Uhr in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden eingeworfen zu haben, hinreichenden Beweis für die entsprechende Behauptung der Beklagten erbringt.
[10] Eine eidesstattliche Versicherung reicht allerdings für sich genommen regelmäßig nicht zum Nachweis der Fristwahrung aus (BGH, Beschl. v. 27.5.2003, a.a.O.; BGH, Beschl. v. 7.12.1999, a.a.O., m.w.N.). Denn die eidesstattliche Versicherung ist lediglich auf Glaubhaftmachung angelegt, für die schon eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des behaupteten Geschehensablaufs genügt (Senatsbeschluss vom 30.1.1991, a.a.O., unter II 2a m.w.N.). Die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung muss indessen - wie auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels - zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden; an die Überzeugungsbildung werden insoweit keine geringeren oder höheren Anforderungen gestellt als sonst (BGH, Beschl. v. 5.7.2000 - XII ZB 110/00, NJW-RR 2001, 280; Senatsbeschluss vom 30.1.1991, a.a.O., m.w.N.).
[11] Falls das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass die vorgelegte eidesstattliche Versicherung keinen vollen Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung erbringt, hätte es die Parteien hierauf hinweisen (vgl. Senatsbeschluss vom 30.1.1991, a.a.O., unter II 2c m.w.N.) und ihnen Gelegenheit geben müssen, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen (vgl. BGH, Beschl. v. 27.5.2003, a.a.O.; BGH, Beschl. v. 7.12.1999, a.a.O.). Sodann hätte es - auf Antrag der Beklagten oder von Amts wegen - über die behaupteten Umstände Beweis erheben müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 30.1.1991, a.a.O.). Dabei wäre nach Lage der Dinge vor allem eine Vernehmung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten in Betracht zu ziehen gewesen.
[12] b) Den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten durfte das Berufungsgericht gleichfalls nicht verwerfen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den Verfahrensstand vor Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist bei verständiger Würdigung nur für den Fall der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gestellt. Über den Wiedereinsetzungsantrag ist daher erst und nur dann zu entscheiden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Beklagte die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 27.5.2003, a.a.O.). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, da noch ungeklärt ist, ob der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Berufungsbegründung noch am 2.5.2006 in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden eingeworfen hat.
[13] c) Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann nach alledem keinen Bestand haben. Da es noch weiterer tatsächlicher Aufklärung bedarf, ist die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
[14] Bei der Prüfung, ob die Beklagte die Berufungsbegründungsfrist gewahrt hat, wird das Berufungsgericht auch das Vorbringen der Rechtsbeschwerde zu würdigen haben, die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts habe die dem Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten vom 7.6.2006 angeheftete Berufungsbegründung vom 2.5.2006, die als Original bei den Akten hätte verbleiben müssen, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt; dies sei als Indiz zu werten, dass die Geschäftsstelle auch die am 2.5.2006 in den Nachtbriefkasten eingeworfene Berufungsbegründung nicht ordnungsgemäß zu den Akten genommen habe.
[15] Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangen, die Berufungsbegründungsfrist sei versäumt, wird es hinsichtlich des hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrags zu berücksichtigen haben, dass die Wiedereinsetzungsfrist nicht - wie das Berufungsgericht angenommen hat - zwei Wochen, sondern einen Monat beträgt, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten (§ 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Diese Frist war bei Eingang des Wiedereinsetzungsantrags beim Berufungsgericht am 8.6.2006 nicht abgelaufen, gleich ob für den Fristbeginn (§ 234 Abs. 2 ZPO) auf den Tag abgestellt wird, an dem das Sekretariat des Beklagtenvertreters (16.5.2006) oder an dem der Beklagtenvertreter selbst (23.5.2006) Kenntnis von der Fristversäumung erlangte.
Fundstellen
Haufe-Index 1696538 |
NJW 2007, 1457 |
BGHR 2007, 412 |
FamRZ 2007, 552 |
MDR 2007, 732 |
VersR 2008, 840 |
WuM 2007, 374 |