Leitsatz (amtlich)

Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Fortführung BGH, Beschl. v. 27.10.2015 - VI ZR 355/14, NJW 2016, 641).

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 7

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches OLG (Beschluss vom 24.08.2017; Aktenzeichen 7 U 8/17)

LG Lübeck (Entscheidung vom 05.01.2017; Aktenzeichen 10 O 64/16)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerden der Beklagten zu 2) und der Streithelferin des Beklagten zu 1) wird der Beschluss des 7. Zivilsenats des OLG Schleswig vom 24.8.2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gegenstandswert: 20.539,90 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger beansprucht von den Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls. Am Abend des 4.11.2015 gegen 18:00 Uhr fuhren der Kläger mit seinem Fahrzeug und der Beklagte zu 1) als Fahrer des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeugs Mercedes S 500 L nebeneinander; der Kläger auf dem linken Fahrtrichtungsstreifen und der Beklagte zu 1) auf dem rechten Fahrtrichtungsstreifen. Als sich die Fahrzeuge annähernd auf gleicher Höhe befanden, kam es zur seitlichen Kollision beider Fahrzeuge. An dem Pkw des Klägers entstand ein Sachschaden i.H.v. 18.923 EUR. Diesen, die Kostenpauschale sowie Freistellungsansprüche wegen vorgerichtlicher Gutachterkosten und Anwaltskosten macht der Kläger mit der vorliegenden Klage geltend. Die Beklagte zu 2) beruft sich darauf, dass der Unfall von dem Kläger und dem Beklagen zu 1) willentlich herbeigeführt worden sei.

Rz. 2

Das LG hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zu 2) und der Streithelferin des Beklagten zu 1) durch Beschluss gem. § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Beklagte zu 2) - zugleich auch als Streithelferin des Beklagten zu 1) (beide im Folgenden auch "Beklagte zu 2") - mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden.

II.

Rz. 3

Die Nichtzulassungsbeschwerden haben Erfolg. Sie führen gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Rz. 4

1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - ausgeführt, die Beweiswürdigung des LG in Bezug auf die Behauptung der Beklagten zu 2), es liege ein manipulierter Unfall vor, sei nicht zu beanstanden. Die Haftung des Schädigers entfalle nur dann, wenn in ausreichendem Maße Umstände vorlägen, die die Feststellung gestatteten, dass es sich bei dem behaupteten Unfall um ein manipuliertes Geschehen handele. Hier sei zwar nicht von der Hand zu weisen, dass es einige solche Anzeichen gebe. Im Ergebnis reichten diese Umstände aber nicht aus. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 1) möglicherweise nur unaufmerksam oder abgelenkt gewesen sei und deshalb seine Fahrspur nicht eingehalten habe. Der Unfall habe sich auf einer vielbefahrenen Straße bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h ereignet. Die Ehefrau des Klägers sei mit im Fahrzeug und dem Risiko eines Personenschadens ausgesetzt gewesen.

Rz. 5

Für die Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens fehle es an entsprechenden Anknüpfungstatsachen. Durch ein solches Gutachten könne nämlich nicht bewiesen werden, ob der Beklagte zu 1) willentlich oder absichtlich die Kollision herbeigeführt habe oder nicht. Es sei unstreitig, dass es eine streifende Kollision zwischen den beteiligten Fahrzeugen gegeben habe. Auf den ersten Blick ergebe sich anhand der eingereichten Fotodokumentationen der beteiligten Fahrzeuge ein kompatibles Schadensbild, das mit der Schilderung des Unfallhergangs durch die unbeteiligten Zeugen K. in Einklang zu bringen sei.

Rz. 6

2. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand und verletzen die Beklagte zu 2) in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.

Rz. 7

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (BGH, Beschl. v. 27.10.2015 - VI ZR 355/14, NJW 2016, 641 Rz. 6 m.w.N.; BVerfG WM 2012, 492 f.).

Rz. 8

b) So verhält es sich im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht den unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten zu 2), bei einem (tatsächlichen) Unfall sei ein unfallverhütendes bzw. beendendes Fahrmanöver (auch) des Klägers zu erwarten gewesen, nicht ausreichend berücksichtigt hat und aus diesem Grund einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist.

Rz. 9

aa) Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann (BGH, Urt. v. 23.10.2014 - III ZR 82/13, WM 2014, 2212 Rz. 17 m.w.N.). Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten (BGH, Urt. v. 26.11.2003 - IV ZR 438/02, BGHZ 157, 79, 84 f.). Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt (BGH, Urt. v. 23.10.2014, ebenda).

Rz. 10

bb) Das Berufungsgericht hat (nur) darauf abgestellt, dass ein Sachverständiger keine Aussage dazu treffen kann, ob der Beklagte zu 1) das Fahrzeug willentlich auf die andere Spur gelenkt hat, oder schlicht abgelenkt war. Es hat sich in diesem Zusammenhang nicht mit dem Vortrag der Beklagten zu 2) auseinandergesetzt, dass (auch) die (Nicht-)reaktion des Klägers nicht plausibel zu erklären sei und ein Unfallrekonstruktionsgutachten insoweit weiteres ergeben könne. Das ist auch unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers bei seiner Anhörung nicht von der Hand zu weisen, vor allem, nachdem der Vorgang nach der Aussage der Zeugen K. so viel Zeit in Anspruch genommen hat, dass der Zeuge K. noch vor dem Unfall die Lichthupe getätigt und die Warnblinkanlage angeschaltet hat. Vor diesem Hintergrund findet die Nichtberücksichtigung des Antrags der Beklagten zu 2) auf Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens im Prozessrecht keine Stütze, Art. 103 Abs. 1 GG.

Rz. 11

c) Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten zu 2) zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre. Bei der neuen Würdigung wird das Berufungsgericht auch zu beachten haben, dass der Tatrichter bei der Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten kann, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag (BGH, Urt. v. 23.10.2014, a.a.O., Rz. 18 m.w.N.).

Rz. 12

3. Die weitere Rüge der Nichtzulassungsbeschwerden hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 ZPO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 11829320

NJW 2018, 2803

FA 2018, 288

DAR 2018, 507

JZ 2018, 589

MDR 2018, 1143

MDR 2018, 1300

VRS 2018, 113

VersR 2018, 1470

ZfS 2019, 148

NJW-Spezial 2018, 617

VRA 2018, 129

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