Normenkette
ZPO § 148
Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Entscheidung vom 18.05.2021; Aktenzeichen 6 U 28/21) |
LG Stuttgart (Entscheidung vom 23.12.2020; Aktenzeichen 8 O 482/20) |
Tenor
Das Verfahren wird entsprechend § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den dort anhängigen Verfahren C-617/21 und C-117/22 ausgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger schloss am 16. September 2011 als Verbraucher mit der Beklagten einen Leasingvertrag über ein Kraftfahrzeug. Der Vertrag sieht eine Leasingsonderzahlung von 3.500 € sowie 48 monatliche Raten von 599,01 € brutto vor. Nach Ablauf der vierjährigen Vertragslaufzeit sollte der Kilometer-Endstand 60.000 Kilometer nicht überschreiten. Eine Restwertgarantie ist nicht vereinbart. Eine Belehrung über die Möglichkeit eines Widerrufs enthält der Vertrag nicht.
Rz. 2
Der Vertragsschluss erfolgte aufgrund einer von einem Mitarbeiter der Verkäuferin des Fahrzeugs, der AG Niederlassung M., durchgeführten Vermittlung in den Räumlichkeiten der Verkäuferin, wobei die Beklagte im Rahmen ihres Vertriebs planmäßig Mitarbeiter dieser Verkäuferin einsetzt. Der Kläger konnte sich mit etwaigen Fragen an den Mitarbeiter wenden.
Rz. 3
Am 11. November 2014 kaufte der Kläger das Fahrzeug von der Beklagten zu einem Preis von 21.989,30 €, wodurch der Leasingvertrag vorzeitig beendet wurde. Am 10. Juli 2020 erklärte er den Widerruf des Leasingvertrags.
Rz. 4
Das Landgericht hat die auf Zahlung von 48.150,73 € nebst Zinsen, Zug um Zug gegen (hilfsweise: nach) Rückgabe des Kraftfahrzeugs gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er sein Klagebegehren weiterverfolgt.
II.
Rz. 5
Das Verfahren ist - nachdem der Senat die Parteien mit Beschluss vom 8. März 2022 hierauf hingewiesen hat - in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO auszusetzen, weil die Nichtzulassungsbeschwerde entscheidungserhebliche Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. L 271, S. 16; im Folgenden: Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie) aufwirft, die dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) bereits zur Vorabentscheidung vorliegen. Dabei geht es sowohl um die Frage des Bestehens eines Widerrufsrechts des Klägers infolge der Erbringung einer Finanzdienstleistung im Fernabsatz (dazu nachfolgend unter 2) als auch um die möglicherweise rechtsmissbräuchliche Ausübung eines etwaigen Widerrufsrechts (dazu unter 3). Die weiteren Fragen zur Auslegung anderer Richtlinien sind demgegenüber nicht entscheidungserheblich. Somit kann hierauf eine Verfahrensaussetzung nicht gestützt werden, da insoweit eine Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht in Betracht kommt (dazu unter 4).
Rz. 6
1. Das Landgericht Ravensburg hat durch Beschluss vom 24. August 2021 (2 O 238/20, juris; ebenso mit Beschluss vom 28. September 2021, 2 O 378/20 und 2 O 390/20, juris) dem Gerichtshof unter anderem folgende Fragen zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt:
"Handelt es sich bei "Leasingverträge[n] über Kraftfahrzeuge mit Kilometerabrechnung mit einer Laufzeit von circa zwei bis drei Jahren, die unter formularmäßigem Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts abgeschlossen wurden, bei denen der Verbraucher für eine Vollkasko-Versicherung des Fahrzeugs zu sorgen hat, ihm außerdem die Geltendmachung von Mängelrechten gegenüber Dritten (insbesondere gegenüber Händler und Hersteller des Fahrzeuges) obliegt und er zudem das Risiko des Verlustes, der Beschädigung und sonstiger Wertminderungen trägt […], um Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. b RL 2002/65/EG?
[…]
Wenn Leasingverträge über Kraftfahrzeuge mit Kilometerabrechnung - wie [zuvor] beschrieben - Verträge über Finanzdienstleistungen sind: […] Liegt ein Fernabsatzvertrag im Sinne von Art. 2 Buchst. a RL 2002/65/EG […] auch dann vor, wenn bei den Vertragsverhandlungen persönlicher Kontakt nur mit einer Person bestand, die für den Unternehmer Geschäfte mit Verbrauchern angebahnt, aber selbst keine Vertretungsmacht zum Abschluss der betreffenden Verträge hat?
Wenn ja: […] Gilt dies auch dann, wenn die Person, die den Vertrag anbahnt, unternehmerisch in einer anderen Branche tätig ist und/oder aufsichtsrechtlich und/oder zivilrechtlich nicht befugt ist, Finanzdienstleistungsverträge abzuschließen?"
Rz. 7
a) Diese Fragen, ob ein Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung (ungeachtet der vom Landgericht Ravensburg angeführten Laufzeit) einen Vertrag über Finanzdienstleistungen nach Art. 2 Buchst. b der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie darstellt beziehungsweise ob es sich bei diesem in Fällen wie dem vorliegenden, in welchem ein persönlicher Kontakt zwar nicht zum Leasinggeber, jedoch zu einem Verhandlungsgehilfen bestand, um einen Fernabsatzvertrag im Sinne von Art. 2 Buchst. a der vorgenannten Richtlinie handelt, sind auch im Streitfall zur Beurteilung eines Widerrufsrechts des Klägers bei Vorliegen eines Fernabsatzgeschäfts entscheidungserheblich.
Rz. 8
aa) Obgleich sich die Bestimmung des Vorliegens eines Fernabsatzgeschäfts hier gemäß Art. 229 § 32 Abs. 1 EGBGB nach der lediglich bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung der Vorschrift des § 312b BGB (im Folgenden aF) richtet und somit ausgelaufenes Recht betrifft, besteht dennoch eine Klärungsbedürftigkeit im Sinne des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO, da die vorgenannten Fragen auch unter dem aktuellen Recht (§ 312c BGB, § 356 Abs. 3 Satz 2, 3 BGB) von Bedeutung sein können (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 27. März 2003 - V ZR 291/02, NJW 2003, 1943 unter II 1 c, insoweit in BGHZ 154, 288 nicht abgedruckt; vom 18. September 2008 - IX ZR 124/05, juris Rn. 2; jeweils mwN).
Rz. 9
bb) Die erstgenannte Frage zum Vorliegen eines Vertrags über Finanzdienstleistungen (vgl. hierzu auch Vorlagebeschluss des OLG Frankfurt am Main vom 22. September 2021 - 17 U 42/20, juris Rn. 29 ff., beim Gerichtshof anhängig unter C-594/21) ist entscheidungserheblich, da ein Widerrufsrecht des Klägers - das Vorliegen eines Fernabsatzvertrags unterstellt - in zeitlicher Hinsicht erloschen wäre, wenn es sich bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Leasingvertrag nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen handelte.
Rz. 10
Denn nach Art. 229 § 32 Abs. 2 EGBGB erlischt das Widerrufsrecht bei einem - wie hier - vor dem 13. Juni 2014 geschlossenen und zu unterstellenden Fernabsatzvertrag auch im Falle einer unterlassenen oder unzureichenden Belehrung über das Widerrufsrecht bei Warenlieferungen spätestens zwölf Monate und 14 Tage nach Lieferung der Ware (Nr. 1; jetzt § 356 Abs. 3 Satz 2, 3 BGB), allerdings nicht vor Ablauf des 27. Juni 2015. Bei Dienstleistungen erlischt das Widerrufsrecht mit Ablauf des 27. Juni 2015 (Art. 229 § 32 Abs. 2 Nr. 3 EGBGB). Gemäß Art. 229 § 32 Abs. 4 EGBGB gelten die vorgenannten Fristen jedoch nicht bei Verträgen über Finanzdienstleistungen (jetzt § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB). Hiervon ausgehend wäre ein etwaiges Widerrufsrecht des Klägers im Hinblick auf die vollständige Abwicklung des im September 2011 geschlossenen Leasingvertrags mit dem Kauf des Fahrzeugs im November 2014 jedenfalls zum Zeitpunkt des Widerrufs im Juli 2020 erloschen gewesen, es sei denn, es handelte sich bei dem Vertrag um einen solchen über eine Finanzdienstleistung.
Rz. 11
cc) Auch die weitere Frage des Vorliegens eines Fernabsatzvertrags nach § 312b BGB aF in den Fällen, in denen zwar kein persönlicher Kontakt des Verbrauchers mit dem Unternehmer (Leasinggeber), jedoch mit einem Verhandlungsgehilfen bestand, der seitens des Unternehmers zum Zwecke der Vertragsanbahnung und des Vertragsabschlusses eingeschaltet worden ist, ist entscheidungserheblich. Denn nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des Vorliegens eines Fernabsatzvertrags (über Finanzdienstleistungen) stünde dem Kläger ein Widerrufsrecht zu (§ 355 Abs. 1, § 312b BGB aF).
Rz. 12
Der dem Gerichtshof durch die Vorlage seitens des Landgerichts Ravensburg unterbreitete Sachverhalt ist mit dem hiesigen vergleichbar und dürfte dem üblichen Ablauf im Vorfeld des Abschlusses eines Kraftfahrzeugleasingvertrags entsprechen. Ähnlich wie im Fall des Landgerichts Ravensburg ist vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei und unangegriffen festgestellt, dass die Beklagte zum Vertrieb ihrer Leasingverträge planmäßig mit Autohäusern, ausdrücklich auch mit dem vom Kläger aufgesuchten Autohaus, zusammenarbeitet, die sie zum Zweck der Anbahnung sowie des Abschlusses von Verträgen einschaltet. Der Kläger hatte sowohl die Möglichkeit, den Vertragsgegenstand - das Kraftfahrzeug - in Augenschein zu nehmen, als auch persönlich mit dem Mitarbeiter des Autohauses als dem Verhandlungsgehilfen der Beklagten die Details des Leasingvertrags zu besprechen und Nachfragen zu stellen.
Rz. 13
b) Aufgrund der Entscheidungserheblichkeit der vorgenannten Fragen kann der Senat in dieser Sache unter Beachtung seiner in Art. 267 Abs. 3 AEUV enthaltenen Vorlageverpflichtung keine abschließende Sachentscheidung dazu treffen, ob in solchen Fällen ein Fernabsatzvertrag (über Finanzdienstleistungen) vorliegt beziehungsweise ob durch die Einschaltung eines Verhandlungsgehilfen dem gebotenen Schutzbedürfnis des Verbrauchers bei Fernabsatzgeschäften, das im Ausgleich des durch die ausschließliche Verwendung von Fernkommunikationsmitteln liegenden Informationsdefizits besteht (vgl. auch Erwägungsgrund 21 der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie), Rechnung getragen wird (vgl. hierzu BGH, Urteile vom 21. Oktober 2004 - III ZR 380/03, BGHZ 160, 393, 399; vom 27. Februar 2018 - XI ZR 160/17, NJW 2018, 1387 Rn. 21; vgl. auch OLG Brandenburg, Urteil vom 25. August 2021 - 4 U 209/20, juris Rn. 25 ff.; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 26. Oktober 2021 - 17 U 80/21, juris Rn. 27 f.; OLG Hamm, Urteil vom 28. Oktober 2021 - 18 U 60/21, juris Rn. 52 ff.).
Rz. 14
Einer Vorlage auch dieses Verfahrens an den Gerichtshof bedarf es jedoch nicht. Denn in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ist die Aussetzung des Verfahrens auch ohne gleichzeitiges Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof grundsätzlich zulässig, wenn - wie vorliegend - die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung derselben Frage abhängt, die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorgelegt wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - VIII ZR 236/10, RIW 2012, 405 Rn. 7 ff. und VIII ZR 158/11, juris Rn. 8 ff.; vom 17. Juli 2012 - VIII ZR 13/12, juris Rn. 11 ff.; vom 6. Februar 2013 - I ZR 126/11, juris Rn. 8; vom 18. September 2013 - V ZB 163/12, RIW 2014, 78 Rn. 23; vom 14. Mai 2014 - VII ZR 102/12, juris Rn. 7; vom 28. September 2016 - KZR 72/15, juris Rn. 9; vom 11. Februar 2020 - XI ZR 648/18, juris Rn. 48; vgl. auch BAG, NZA 2021, 1273 Rn. 28 ff.; BVerwGE 123, 322, 346). Eine solche Aussetzung ist auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - VIII ZR 236/10, aaO Rn. 10; vom 28. September 2016 - KZR 72/15, aaO Rn. 10).
Rz. 15
Nach alledem hält es der Senat für angemessen, das vorliegende Verfahren in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO wegen Vorgreiflichkeit des beim Gerichtshof anhängigen Rechtstreits C-617/21 auszusetzen. Hierzu wurden die Parteien, wie ausgeführt, angehört und haben eine Stellungnahme nicht abgegeben.
Rz. 16
2. Ebenso auszusetzen ist das vorliegende Verfahren bezüglich der dem Gerichtshof in der Rechtssache C-117/22 zur weiteren Klärung vorgelegten, im Falle des Vorliegens eines Fernabsatzgeschäfts über Finanzdienstleistungen auch hier entscheidungserheblichen Frage, unter welchen Voraussetzungen der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz des Rechtsmissbrauchs im Falle der Ausübung eines Widerrufsrechts durch den Verbraucher anzuwenden ist.
Rz. 17
a) Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Beschluss vom 31. Januar 2022 (XI ZR 113/21 u.a., WM 2022, 420) dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt:
"Ist Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/48/EG dahin auszulegen, dass es den nationalen Gerichten nicht verwehrt ist, im Einzelfall bei Vorliegen besonderer, über den bloßen Zeitablauf hinausgehender Umstände die Berufung des Verbrauchers auf sein wirksam ausgeübtes Widerrufsrecht als missbräuchlich oder betrügerisch zu bewerten mit der Folge, dass ihm die vorteilhaften Rechtsfolgen des Widerrufs versagt werden können?"
Rz. 18
b) Diese Vorlagefrage betrifft zwar die hier nicht anwendbare Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Kreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133, S. 66, im Folgenden: Verbraucherkreditrichtlinie; dazu nachfolgend unter 3 b). Gleichwohl hängt die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits der Sache nach auch von deren Beantwortung ab.
Rz. 19
aa) Denn das Berufungsgericht hat die Klageabweisung, anders als die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung meint, selbständig tragend auch auf die Verwirkung (§ 242 BGB) etwaiger Ansprüche des Klägers gestützt. Um die sich damit stellende Frage, ob dem Kläger die Berufung auf sein - etwaiges - Widerrufsrecht als rechtsmissbräuchlich verwehrt ist, geht es auch in den dem vorgenannten Vorlagebeschluss zu Grunde liegenden Fällen.
Rz. 20
bb) Unmittelbarer Anlass der Vorlage des XI. Zivilsenats ist die jüngste Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach im Anwendungsbereich der Verbraucherkreditrichtlinie dem Grunde nach weder Raum für die Annahme einer Verwirkung noch eines Rechtsmissbrauchs bezüglich des Widerrufs durch den Verbraucher besteht (vgl. EuGH, C-33/20, NJW 2022, 40 Rn. 118, 127). Die insoweit vom Gerichtshof zur Auslegung der Verbraucherkreditrichtlinie herangezogenen Argumente sind auch auf die hier - bei Annahme eines Fernabsatzvertrags über eine Finanzdienstleistung - anwendbare Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie übertragbar. Beide Richtlinien enthalten keine Vorschriften, die den unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz des Rechtsmissbrauchs einschränken oder diesen bestimmten Voraussetzungen unterstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., WM 2022, 420 Rn. 64). Sowohl das Widerrufsrecht nach Art. 14 der Verbraucherkreditrichtlinie als auch dasjenige aus Art. 6 der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie sind in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt (vgl. EuGH, C-33/20, aaO Rn. 117) und beide Richtlinien unterliegen dem Gebot der Vollharmonisierung (vgl. EuGH, C-33/20, aaO Rn. 116 [zur Verbraucherkreditrichtlinie]; vgl. EuGH, C-143/18, NJW 2019, 3290 Rn. 34; C-301/18, WM 2020, 1190 Rn. 36; C-639/18, WM 2020, 1199 Rn. 23 [jeweils zur Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie]).
Rz. 21
cc) Damit stellt sich auch im Anwendungsbereich der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie die Frage, ob angesichts der vorgenannten Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Ausschluss einer Verwirkung beziehungsweise eines Rechtsmissbrauchs diese Rechtsinstitute dennoch - wovon der XI. Zivilsenat in seinem Vorlagebeschluss ausgeht - im Einzelfall angewendet werden können, wenn Umstände festgestellt worden sind, die über den bloßen Zeitablauf hinausgehen und in ihrer Gesamtheit die Annahme tragen, der Verbraucher berufe sich willkürlich auf eine formale Rechtsstellung. Angesichts des unionsrechtlichen Grundsatzes des Rechtsmissbrauchs, wonach nationale Gerichte die Berufung auf in betrügerischer oder in missbräuchlicher Weise erlangte Rechte nach unionsrechtlichen Vorgaben zu versagen haben, ist diese Frage - nach wie vor - offen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., aaO Rn. 59 und 69).
Rz. 22
Vergleichbar mit einigen der dem Vorlagebeschluss des XI. Zivilsenats zu Grunde liegenden Fälle wurde auch im Streitfall der Widerruf durch den Kläger erst lange Zeit nach der auf seinen Wunsch hin erfolgten vorzeitigen Vertragsbeendigung erklärt (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., aaO Rn. 75). Damit ist auch vorliegend "offen", unter welchen Voraussetzungen angenommen werden kann, dass der Verbraucher sein Widerrufsrecht nicht geltend macht, um die mit der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie verfolgten Ziele (vgl. hierzu EuGH, C-639/18, aaO Rn. 32) zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines unionsrechtlichen Vorteils zu gelangen, obwohl möglicherweise die entsprechenden Voraussetzungen lediglich formal erfüllt sind und ihre Ziele nicht erreicht wurden, so dass ihm die Berufung darauf versagt werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., aaO Rn. 69). Die Beantwortung dieser Frage hängt maßgebend davon ab, welche objektiven und subjektiven Umstände dazu führen können, dass dem Kläger die Berufung auf sein ihm durch Art. 6 der Finanzdienstleistungsfernabsatzrichtlinie - möglicherweise - eingeräumtes Widerrufsrecht nach dem unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs verwehrt sein könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2022 - XI ZR 113/21 u.a., aaO Rn. 59 und 63).
Rz. 23
3. Die übrigen von der Nichtzulassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts auf den vorliegenden Fall sind nicht entscheidungserheblich.
Rz. 24
a) Die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 304, S. 64; im Folgenden: Verbraucherrechterichtlinie) ist - worauf die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung zutreffend verweist - in zeitlicher Hinsicht auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Rz. 25
Die Verbraucherrechterichtlinie war ausweislich ihres Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 1, 2 von den Mitgliedstaaten erst bis zum 13. Dezember 2013 umzusetzen. Sie gilt gemäß Art. 28 Abs. 2 erst für nach dem 13. Juni 2014 geschlossene Verträge. Auf den vorliegend bereits im September 2011 geschlossenen Leasingvertrag ist die Verbraucherrechterichtlinie und damit auch die in deren Umsetzung erlassene und von der Nichtzulassungsbeschwerde herangezogene Bestimmung des § 312b BGB [nF] über außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge nicht anwendbar.
Rz. 26
Somit kommt es vorliegend auf die Bestimmung des Begriffs des Geschäftsraums ebenso wenig an wie auf die Klärung, ob Leasingverträge mit Kilometerabrechnung unter den Ausnahmetatbestand des Art. 16 Buchst. l der Verbraucherrechterichtlinie (siehe auch § 312g Abs. 2 Nr. 9 BGB) fallen. Übergangenen Vortrag zum Vorliegen eines Haustürgeschäfts nach dem auf den vorliegenden Fall noch anwendbaren § 312 BGB in der bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde nicht auf.
Rz. 27
b) Die von der Nichtzulassungsbeschwerde aufgeworfene Frage, ob der vorliegende Leasingvertrag ein Kreditvertrag im Sinne von Art. 3 Buchst. c der Verbraucherkreditrichtlinie ist, hat der Senat bereits entschieden. Die hiergegen unter Berufung auf die Ausführungen des Landgerichts Ravensburg in dessen Vorlagebeschluss vom 24. August 2021 (2 O 238/20, juris Rn. 33 ff.) vorgebrachten Einwände führen nicht zu einer abweichenden Beurteilung des Vorliegens eines "acte clair".
Rz. 28
aa) Der Senat hat mit Urteil vom 24. Februar 2021 (VIII ZR 36/20, BGHZ 229, 59) entschieden, dass ein Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung nicht die von § 506 Abs. 2 BGB [aF] an eine sonstige entgeltliche Finanzierungshilfe bei Nutzungsverträgen gestellten Voraussetzungen erfüllt, so dass dem Verbraucher hiernach ein Widerrufsrecht nach § 506 Abs. 1, 2, § 495 BGB nicht - auch nicht im Wege einer analogen Anwendung des § 506 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB [aF] - zusteht. Die Verbraucherkreditrichtlinie nimmt in Art. 2 Abs. 2 Buchst. d Miet- und Leasingverträge, bei denen - wie hier - weder in dem Vertrag selbst noch in einer gesonderten Vereinbarung eine Verpflichtung des Mieters/Leasingnehmers zum Erwerb des Miet- oder Leasinggegenstands vorgesehen ist, ausdrücklich von ihrem Geltungsbereich aus, so dass die richtige Auslegung dieser Norm angesichts ihres Wortlauts und ihrer Regelungssystematik sowie des Regelungszwecks der Richtlinie derart offenkundig zu beantworten ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair"; Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, aaO Rn. 22). Die Bestimmung des § 506 Abs. 2 Satz 1 BGB [aF] enthielt dementsprechend eine abschließende Sonderregelung dazu, unter welchen Voraussetzungen die Nutzung eines Gegenstands als "sonstige entgeltliche Finanzierungshilfe" zu gelten hatte (Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, aaO Rn. 25). Der vorliegende Kilometerleasingvertrag fällt nicht hierunter.
Rz. 29
bb) Die Ausführungen des Landgerichts Ravensburg im Vorlagebeschluss vom 24. August 2021 (2 O 238/20, juris Rn. 33 ff. und 47 ff.), welche die Nichtzulassungsbeschwerde zur Begründung der nach ihrer Ansicht bestehenden Vorlagepflicht gemäß Art. 267 AEUV wörtlich übernimmt, vermögen an dieser Beurteilung nichts zu ändern.
Rz. 30
(1) Die Nichtzulassungsbeschwerde will die Regelung des Art. 2 Abs. 2 Buchst. d der Verbraucherkreditrichtlinie, welche Leasingverträge ohne Erwerbspflicht ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der Richtlinie ausnimmt, auf den vorliegenden Fall entsprechend anwenden. Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung der Richtlinie sind jedoch nicht gegeben.
Rz. 31
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt eine analoge Anwendung erstens das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke im Unionsrecht, die durch Anwendung einer unionsrechtlichen Regelung für gleichartige Fälle geschlossen werden soll, und zweitens die Vergleichbarkeit der Interessenlage zwischen untersuchtem und geregeltem Fall voraus (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Dezember 1985 - C-165/84, juris Rn. 14; Schlussanträge des Generalanwalts E. Tanchev vom 5. Dezember 2018 in der Rechtssache C-473/17, juris Rn. 72). Die analoge Anwendung einer Richtlinienbestimmung ist abzulehnen, wenn damit unter Verstoß gegen die ausdrücklichen Bestimmungen der Richtlinie deren Anwendungsbereich erweitert würde (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Juni 2015 - C-5/14, juris Rn. 51 ff.; Schlussanträge des Generalanwalts E. Tanchev vom 5. Dezember 2018, in der Rechtssache C-473/17, aaO Rn. 73).
Rz. 32
Eine solche unzulässige Analogie nimmt die Nichtzulassungsbeschwerde vor; sie will die Richtlinie auf einen Fall anwenden, welcher ausdrücklich aus deren Anwendungsbereich ausgeschlossen ist.
Rz. 33
(2) Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde eine vergleichbare Interessenlage damit zu begründen versucht, dass auch der Kilometerleasingvertrag auf Vollamortisation ausgerichtet sei, verkennt sie den Unterschied zwischen einem Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung auf der einen und einem - in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden - Leasingvertrag mit Erwerbspflicht sowie dem vom nationalen Gesetzgeber als vergleichbar angesehenen Leasingvertrag mit Restwertgarantie (§ 506 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB [aF]) auf der anderen Seite. Bei einem Leasingvertrag mit Erwerbspflicht sowie einem Leasingvertrag mit Restwertgarantie tritt die Vollamortisation nicht nur im Ergebnis ein, sondern wird vom Verbraucher, der einen bereits im Vertrag konkret festgelegten Restwert beziehungsweise einen Kaufpreis garantiert, auch finanziert. Er haftet hierfür also uneingeschränkt (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, BGHZ 229, 59 Rn. 50). Demgegenüber hat der Verbraucher bei Kilometerleasingverträgen gerade nicht in jeder Hinsicht für die Vollamortisation einzustehen, da er nicht das Risiko trägt, dass sich der vom Leasinggeber bei vertragsgemäßem Zustand der zurückgegebenen Leasingsache kalkulierte Wert auch verwirklichen lässt (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, aaO Rn. 66).
Rz. 34
(3) Schließlich kann die Nichtzulassungsbeschwerde zur Begründung einer analogen Anwendung der Verbraucherkreditrichtlinie nicht mit Erfolg auf eine teilweise vertretene - jedoch abzulehnende (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, aaO Rn. 37 ff.) - analoge Anwendung der Vorschrift des § 506 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB [aF] abstellen.
Rz. 35
Insoweit verkennt sie, dass unionsrechtliche Bestimmungen in der Regel nicht unter Heranziehung nationaler Normen und von den Mitgliedstaaten verwendeter Begriffe, sondern vielmehr autonom auszulegen sind (vgl. EuGH, C-341/18, TranspR 2020, 517 Rn. 40; Urteile vom 24. September 2020, C-516/19, juris Rn. 44; vom 27. Januar 2022, C-347/20, juris Rn. 42). Damit kann der Geltungsbereich der Verbraucherkreditrichtlinie nicht unter Berufung auf den einer entgeltlichen Finanzierungshilfe in § 506 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB [aF] gleichgestellten Vertrag, bei dem der Verbraucher für einen bestimmten Wert des Gegenstands einzustehen hat, erweiternd ausgelegt werden, zumal die vorgenannte Bestimmung nicht auf eine Richtlinienvorgabe zurückgeht (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2021 - VIII ZR 36/20, aaO Rn. 32, 48). Dies anders zu sehen, würde bedeuten, dass der nationale Gesetzgeber als Umsetzungsadressat der Richtlinie seinerseits über den Inhalt des von ihm Umzusetzenden bestimmen könnte, was jedoch mit der Verbindlichkeit der Richtlinie für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Ziels (Art. 288 Abs. 3 AEUV) unvereinbar wäre.
Dr. Fetzer |
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Dr. Schneider |
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Dr. Bünger |
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Dr. Schmidt |
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Dr. Matussek |
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Fundstellen
Haufe-Index 15344342 |
VuR 2022, 338 |