Verfahrensgang
LG Potsdam (Urteil vom 20.05.2005) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 20. Mai 2005 wird nach § 349 Abs. 4 StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Mit Beschluss vom 24. November 2004 (BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Rücktritt 10 – „russisches Roulette”) hatte der Senat die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu sechs Jahren Freiheitsstrafe und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen nicht tragfähiger Ablehnung eines Rücktritts vom Totschlagsversuch mit den Feststellungen aufgehoben. Nunmehr hat das Landgericht dem Angeklagten bei im wesentlichen gleichen Feststellungen zur Tat (vgl. BGHR aaO) einen strafbefreienden Rücktritt vom Totschlagsversuch zugebilligt; es hat ihn wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die mit der Sachrüge begründete Revision des Angeklagten ist zum Schuld- und Strafausspruch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die von der Revision zutreffend beanstandete unrichtige Bestimmung der Strafrahmenuntergrenze (drei Monate statt – richtig – ein Monat) hat sich auf die Bemessung der Strafe ersichtlich nicht ausgewirkt. Indes hat das Rechtsmittel hinsichtlich des Maßregelausspruchs Erfolg.
Aufgrund des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen hat das Landgericht, für sich rechtsfehlerfrei, einen gesicherten Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit des bei der Begehung der Tat mit möglicherweise bis zu 3,2 ‰ stark alkoholisierten Angeklagten festgestellt. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend ist das Landgericht von einer schweren seelischen Abartigkeit des Angeklagten aufgrund der Kombination von Persönlichkeitsstörung und Alkoholabhängigkeit ausgegangen. Diagnostiziert wurde unter Zitat von Diagnoseschlüsseln aus dem ICD-10 eine „ausgeprägte emotionale instabile Persönlichkeitsstörung”, bei der die Kriterien des „impulsiven Typs” und des „Borderline-Typs” gleichermaßen erfüllt seien; gleichzeitig bestehe ein „depressives Syndrom” und ein „Abhängigkeitssyndrom von Alkohol”. Die Persönlichkeitsstörung sei schwer und ausgeprägt, sei überdauernd, umfasse alle Lebensbereiche des Angeklagten und gestalte diese. In ihr liege auch eine ganz erhebliche Ursache für die Alkoholabhängigkeit des Angeklagten, die ihrerseits wiederum die Persönlichkeitsstörung verstärke. Die Tat stehe mit der Persönlichkeitsstörung in engem Zusammenhang. Infolge der Persönlichkeitsstörung genügten geringe Mengen Alkohol, um die Impulskontrolle des Angeklagten stark herabzusetzen. Ähnlich erhebliche Taten wie die hier abgeurteilte seien aufgrund seines Zustandes jederzeit wieder möglich. Diese Begründung des Landgerichts reicht letztlich zum Beleg der Voraussetzungen der schwerwiegenden Maßregel nach § 63 StGB gegen den bislang nicht besonders gravierend strafrechtlich vorbelasteten Angeklagten nicht aus.
Der Bundesgerichtshof hat die Verhängung dieser Maßregel in Fällen ähnlicher Persönlichkeitsbefunde, gerade auch in Verbindung mit Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit, wiederholt beanstandet (vgl. nur BGHR StGB § 63 Zustand 18, 24, 30, 34; BGH NStZ 2004, 197; BGH, Beschlüsse vom 20. Mai 2003 – 4 StR 174/03, 9. Juni 2004 – 5 StR 203/04, 13. Juli 2004 – 4 StR 548/03 und 2. Dezember 2004 – 4 StR 452/04). Dies lag vorwiegend an der vielfach mehr oder weniger vagen Diagnose einer Persönlichkeitsstörung; in diesem Bereich besteht die Gefahr, dass Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sich noch innerhalb der Bandbreite des Verhaltens uneingeschränkt schuldfähiger Menschen bewegen, zu Unrecht als Symptome einer die Schuldfähigkeit – zudem gesichert – erheblich beeinträchtigenden seelischen Abartigkeit bewertet werden.
Allerdings liegt hier angesichts des besonders auffälligen Tatverhaltens des Angeklagten und der vom Landgericht festgestellten Besonderheiten in seinem Lebenslauf die Annahme eines Befundes nicht ganz fern, auf Grund dessen nach den Grundsätzen von BGHSt 44, 338 (vgl. auch BGHR StGB § 63 Zustand 12, 35 und 36; BGH NStZ 1998, 191) die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB tragfähig zu begründen wäre. Indes sieht sich der Senat letztlich zu einem dahingehenden Verständnis des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe nicht in der Lage. Der Angeklagte lebte nicht nur zu Zeiten seines früheren auffälligen Verhaltens in seiner Heimat sondern auch nach seiner Einreise als Asylbewerber und auch zur Tatzeit jeweils unter besonders bedrückenden Lebensumständen, die aggressive und insbesondere auch selbstzerstörerische Verhaltensweisen wie auch Suchtverhalten erklärlich machen; daher lassen sich aus solchem Verhalten bei ihm nicht ohne weiteres gesteigerte Indizien für erhebliche psychische Defekte ableiten. Zudem lässt die schon für sich eher knappe Begründung der Maßregel eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, aus welchem Grunde nach der Begutachtung des Angeklagten durch denselben psychiatrischen Sachverständigen eine Anordnung nach § 63 StGB im ersten Urteil unterblieben war. Allein die – für sich rechtsfehlerfreie, von einem neuen Tatgericht indes neu zu beurteilende – mangelnde Aussicht des Erfolgs einer Suchtbehandlung nach § 64 StGB macht eine derartig unterschiedliche Beurteilung allein nicht ohne weiteres erklärlich.
Über den Maßregelausspruch ist daher erneut zu befinden. Dabei wird es unter Beachtung der genannten Grundsätze der Prüfung bedürfen, ob die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung gesichert auf einen schweren und dauerhaften psychischen Defekt des Angeklagten zurückzuführen ist und nicht etwa maßgeblich nur auf Alkoholmissbrauch beruhen kann. Dass die gebotene erneute Prüfung zur Annahme der Voraussetzungen des § 20 StGB führen könnte, ist angesichts der bisherigen überzeugenden Begründung, die auf ein trotz aller Ungewöhnlichkeit verhältnismäßig differenziertes Tatvorgehen abstellt, sicher auszuschließen. Die neue Sachentscheidung obliegt nunmehr, da kein Schuldspruch wegen eines Kapitalverbrechens (§ 74 Abs. 2 GVG) erfolgt ist, einer allgemeinen Strafkammer. Nach der erheblichen Dauer der bisherigen Untersuchungshaft, die eine besonders beschleunigte Förderung des weiteren Verfahrens gebietet, sind für den Fall einer erneuten Anordnung der Maßregel Erwägungen zu § 67 Abs. 2 StGB obsolet geworden.
Unterschriften
Harms, Basdorf, Gerhardt, Raum, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 2565609 |
StraFo 2006, 31 |