Verfahrensgang
LG Tübingen (Entscheidung vom 27.12.2023; Aktenzeichen 5 T 84/23) |
AG Tübingen (Entscheidung vom 21.04.2023; Aktenzeichen A 43 XVII 765/18) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Tübingen vom 27. Dezember 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe
I.
Rz. 1
Der 1968 geborene Betroffene begehrt die Aufhebung seiner Betreuung.
Rz. 2
Er leidet nach den Feststellungen des Landgerichts an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Für ihn ist seit dem Jahr 2012 eine Betreuung eingerichtet, die zuletzt durch Beschluss vom 1. Dezember 2020 mit dem Aufgabenkreis „Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post, Entscheidung über unterbringungsähnliche Maßnahmen (…), Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Unterbringung, Vermögenssorge, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern“ verlängert wurde. Darüber hinaus ist ein Einwilligungsvorbehalt hinsichtlich der Vermögenssorge angeordnet.
Rz. 3
Im Mai 2022 hat der Betroffene die Aufhebung seiner Betreuung angeregt. Das Amtsgericht hat das von ihm eingeleitete Aufhebungsverfahren nach Einholung eines Sachverständigengutachtens eingestellt. Das Landgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen mit der Maßgabe eines Wechsels des Berufsbetreuers zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene das Ziel einer Aufhebung der Betreuung weiter.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.
Rz. 5
1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, dass weder die Betreuungsbedürftigkeit noch der Betreuungsbedarf entfallen seien. Der Betroffene sei nach dem Gutachten des Sachverständigen nach wie vor nicht in der Lage, seine Angelegenheiten in den von der Betreuung erfassten Aufgabenbereichen selbst zu betreiben, weil er weiterhin unter beträchtlichen kognitiven Auffälligkeiten leide. Andere Hilfsmöglichkeiten für den Betroffenen seien nicht gegeben. Da sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten und aus der Anhörung des Betroffenen keine entsprechende Veränderung seines Gesundheitszustands ergeben hätten, lägen somit die Voraussetzungen der Betreuung im bisherigen Umfang unverändert fort.
Rz. 6
2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde beanstandet zu Recht das Fehlen ausreichender Feststellungen des Beschwerdegerichts dazu, dass die Anordnung des umfangreichen, praktisch alle wesentlichen Lebensbereiche des Betroffenen umfassenden Aufgabenkreises im Sinne von § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB erforderlich ist.
Rz. 7
a) Auch im Verfahren betreffend die Aufhebung einer Betreuung (§ 294 FamFG) hat das Gericht die allgemeinen Verfahrensregeln - insbesondere die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und der Amtsermittlung - zu beachten. Vor allem hat das Gericht auch in einem Aufhebungsverfahren nach § 26 FamFG von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Januar 2022 - XII ZB 442/21 - FamRZ 2022, 982 Rn. 12 mwN). Der Maßstab des § 26 FamFG entscheidet dabei über den Umfang der gebotenen Ermittlungen. Tritt das Gericht im Aufhebungsverfahren in eine umfassende Überprüfung ein, ob die materiellen Betreuungsvoraussetzungen weiterhin vorliegen, hat es auch die erforderlichen Feststellungen dazu zu treffen, ob der Betroffene in den von der Betreuungsanordnung betroffenen Aufgabenbereichen nach wie vor der Hilfe durch einen Betreuer bedarf und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen.
Rz. 8
b) Nach § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. Dieser Grundsatz verlangt für die Bestellung eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie - auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit - notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung kann sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst zu regeln (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. November 2023 - XII ZB 222/23 - BtPrax 2024, 65, 66 und vom 2. März 2022 - XII ZB 558/21 - FamRZ 2022, 891 Rn. 15 mwN).
Rz. 9
c) Diesen Anforderungen genügt die angefochtene Entscheidung nicht. Das Beschwerdegericht leitet einen objektiven Betreuungsbedarf im vorliegenden Fall offensichtlich schon daraus ab, dass der Betroffene subjektiv nicht dazu in der Lage ist, seine Angelegenheiten in den von der Betreuung umfassten Aufgabenbereichen selbst zu besorgen. Im Übrigen fehlt es zum objektiven Betreuungsbedarf an jeglichen Ausführungen. Dies gilt ebenso für den Bedarf hinsichtlich der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts für den Bereich der Vermögenssorge, denn es bedarf auch insoweit konkreter Feststellungen, dass ohne den Einwilligungsvorbehalt (weiterhin) eine erhebliche Gefahr für das Vermögen des Betroffenen bestünde (§ 1825 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Rz. 10
3. Die angegriffene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, das weitere Feststellungen zu treffen haben wird. Für das weitere Verfahren weist der Senat zudem darauf hin, dass insbesondere eine Anordnung zur Entscheidung über die Postangelegenheiten nach § 1815 Abs. 2 Nr. 6 BGB nur erfolgen kann, wenn und soweit eine Kontrolle der Kommunikation erforderlich ist, um dem Betreuer die Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabenbereiche in der gebotenen Weise zu ermöglichen und damit eine erhebliche Gefährdung von wesentlichen Rechtsgütern des Betroffenen abzuwenden. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist durch konkrete tatrichterliche Feststellungen zu belegen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 26. April 2023 - XII ZB 289/22 - juris Rn. 16 und vom 19. April 2023 - XII ZB 462/22 - FamRZ 2023, 1057 Rn. 14 f. mwN).
Rz. 11
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Guhling Nedden-Boeger Botur
Krüger Recknagel
Fundstellen
Dokument-Index HI16652858 |