Entscheidungsstichwort (Thema)
Greifbare Gesetzwidrigkeit
Leitsatz (amtlich)
Der Beschluß eines Oberlandesgerichts, durch den die abgelehnten Mitglieder des gerichtlichen Spruchkörpers rechtsfehlerhaft selbst über das Ablehnungsgesuch entschieden haben, ist nicht ohne weiteres wegen „greifbarer Gesetzwidrigkeit” mit der Beschwerde zum BGH angreifbar.
Normenkette
ZPO § 567 Abs. 4
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main |
LG Frankfurt am Main |
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluß des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 6. Juni 1991 wird auf Kosten des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen.
Gründe
I.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat in einem vor ihm anhängigen Berufungsverfahren in der mündlichen Verhandlung vom 6. Juni 1991 folgenden Beschluß erlassen:
„Der Befangenheitsantrag des Antragstellers vom 5. Juni 1991 wird als unzulässig zurückgewiesen, da er der Prozeßverschleppung dient, den ganzen Senat pauschal erfaßt und der Ausschaltung der nicht genehmen Richter wegen ihrer vorausgegangenen Spruchtätigkeit dient (vgl. Zöller, Zivilprozeßordnung, 16. Aufl., Rdnr. 6 zu § 42 ZPO).
Die Absicht der Prozeßverschleppung ergibt sich daraus, daß der Prozeßvertreter des Antragstellers zunächst Vertagung beantragt und nach Zurückweisung dieses Antrags das bereits am Vortage gefertigte schriftliche Ablehnungsgesuch vorgelegt hat.”
Ausweislich des Verhandlungsprotokolls war der Überreichung des vom Antragsteller bereits am Vortage vorbereiteten Ablehnungsgesuchs eine Anhörung der Parteien zur Streitwerthöhe und die Entscheidung über den Streitwert sowie ein Antrag des Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers auf Vertagung vorangegangen. Nach Ablehnung dieses Antrags ist das Gesuch überreicht worden.
Das Gesuch selbst benennt die fünf abgelehnten Mitglieder des 6. Zivilsenats namentlich und führt bezüglich der im konkreten Zusammenhang jeweils einzeln oder zu mehreren genannten Richtern eine Reihe von Gründen auf, aus denen sich die Befangenheit dieser Richter ergeben soll. Sämtliche Gründe stehen in Zusammenhang mit der Tätigkeit der Richter teils in der zur Entscheidung stehenden Sache, teils in anderen von ihnen bearbeiteten Streitverfahren.
Bei der Entscheidung über das Gesuch haben drei der im Gesuch abgelehnten Richter mitgewirkt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, mit der dieser eine „handgreifliche Gesetzwidrigkeit” und – gestützt auf diese – die Zulässigkeit und Begründetheit seines Rechtsmittels geltend macht.
II.
Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Gegen Entscheidungen der Oberlandesgerichte ist gemäß § 567 Abs. 4 ZPO eine Beschwerde nicht zulässig. Dies gilt auch für Entscheidungen, durch die ein Ablehnungsgesuch zurückgewiesen wird (BGH, Urt. v. 8.1.1964 – VIII ZR 123/62, LM ZPO § 46 Nr. 1; vgl. ferner BGHZ 85, 145, 148; BayObLG NJW 1989, 44). Auch der Beschwerdeführer verkennt diese Rechtslage nicht. Er beruft sich in seiner Beschwerde nur darauf, daß ein Fall vorliege, in dem entgegen dem Gesetzeswortlaut die Anrufung des Bundesgerichtshofs wegen „handgreiflicher Gesetzwidrigkeit” der angefochtenen Entscheidung zugelassen werden müsse. Dem kann nicht zugestimmt werden.
2. Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, daß ausnahmsweise – entgegen dem Gesetzeswortlaut – eine Beschwerde gegen eine oberlandesgerichtliche Entscheidung in Betracht kommen kann, wenn die angefochtene Entscheidung jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd bzw. mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (vgl. etwa BGHZ 28, 349, 350; BGH, Beschl. v. 1.10.1985 – VI ZB 13/85, NJW-RR 1986, 738; BGH, Urt. v. 24. 6. 1987 – IVb ZR 5/86, NJW 1988, 49, 51; BGH, Beschl. v. 12.10.1989 – VII ZB 4/89, NJW 1990, 840, 841; BGH, Beschl. v. 14.12.1989 – IX ZB 40/89, NJW 1990, 1794, 1795 m. w. N.; BGH, Beschl. v. 22.3.1990 – I ZB 14/89, NJW-RR, 1990, 893; kritisch zu dieser Rechtsprechung Zöller/Schneider, ZPO, 17. Aufl., § 567 Rdnr. 41; Büttner, FamRZ 1989, 129 ff.).
Ein solcher Fall, der in den genannten Entscheidungen zwar als möglich, aber als jeweils nicht gegeben angesehen worden ist, liegt auch hier nicht vor.
3. Allerdings ist der Beschwerde darin beizutreten, daß die beanstandete Entscheidung rechtsfehlerhaft ist. Die Beschwerde rügt zu Recht, daß die – sehr knappe – Begründung des angefochtenen Beschlusses in dem Ablehnungsgesuch selbst und im vorangegangenen Verhalten des Antragstellers bzw. seines Prozeßbevollmächtigten keine hinreichende Grundlage findet. Das Gericht hätte in Anbetracht des hinreichend spezifizierten Ablehnungsgesuchs und der jedenfalls nicht zweifelsfreien Prozeßverschleppungsabsicht nicht in der Besetzung mit drei abgelehnten Richtern entscheiden dürfen, sondern hätte gemäß §§ 45, 47 ZPO i.V. mit § 44 Abs. 3 ZPO verfahren müssen.
4. Jedoch folgt aus der unter II., 2. zitierten Rechtsprechung, daß nicht bereits jeder eindeutige Verstoß des Gerichts gegen die bei seiner Entscheidung anzuwendenden Rechtsvorschriften genügen kann, um eine – im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossene – Beschwerdemöglichkeit zu eröffnen. Vielmehr ist erforderlich, daß die angefochtene Entscheidung dem Gesetz fremd bzw. mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist. Die kann aber im vorliegenden Fall nicht angenommen werden.
Die grundsätzliche Möglichkeit, daß über ein unzulässiges Ablehnungsgesuch der abgelehnte Richter selbst befindet, ist der deutschen Rechtsordnung nicht fremd. Zwar sieht das Gesetz selbst sie nicht vor; sie ist jedoch in Rechtsprechung und Literatur so lange und einhellig anerkannt, daß sie teilweise bereits als gewohnheitsrechtlich gefestigt angesehen wird (vgl. zum Gedanken des Gewohnheitsrechts OLG Celle NJW-RR 1989, 569; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 49. Aufl., § 42 Anm. 1 C b sowie im einzelnen Günther, NJW 1986, 281, 289 f. m. w. N.). Anerkannt ist weiter, daß die Unzulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs sich aus Gründen ergeben kann, wie sie das Gericht in der angefochtenen Entscheidung als gegeben angesehen hat, nämlich aus der Absicht der Prozeßverschleppung oder der Absicht der Ausschaltung nicht genehmer Richter allein wegen ihrer vorangegangenen Spruchtätigkeit (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 17. Aufl., § 42 Rdn. 6; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, a.a.O., jeweils m. w. N.). Das Gericht hat somit keine grundsätzlich mit der Rechtsordnung unvereinbare Entscheidungsweise gewählt, sondern lediglich die Voraussetzungen eines solchen im Grundsatz zulässigen Vorgehens fehlerhaft als erfüllt angesehen.
6. Dieser Würdigungsfehler erscheint unter den vorliegenden Umständen nicht als so schwerwiegend, daß er den Vorwurf rechtfertigen könnte, das Gericht habe mit ihm den Boden der geltenden Rechtsordnung verlassen und willkürlich gehandelt.
Von einer auf Willkür beruhenden Entscheidung kann nur gesprochen werden, wenn die Entscheidung, des Gerichts bei verständiger Würdigung schlechterdings nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 29, 44, 49; BVerwG NJW 1988, 722). Davon kann vorliegend keine Rede sein. Die vom Gericht angeführten Gründe für eine Verschleppungsabsicht erscheinen zwar nicht ausreichend, jedoch keineswegs gänzlich fernliegend oder gar abwegig. Denn in der Tat konnte es befremden, daß der Prozeßvertreter des Antragstellers zunächst, nachdem er sich ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung schon einer Anhörung und Entscheidung des Gerichts zur Streitwerthöhe nicht widersetzt hatte, einen Antrag auf Vertagung gestellt und erst nach dessen Zurückweisung ein schon am Vortage vorbereitetes Ablehnungsgesuch vorgelegt hat. Ein solches Verhalten läßt die Absicht einer Verzögerung des Verfahrens als nicht ganz fernliegend und die Überlegungen des Gerichts als nachvollziehbar erscheinen. Hinzu kommt, daß die Bewertung des Verhaltens des Antragstellers als unzulässig jedenfalls im Ergebnis auch noch aus einem anderen Grund nicht als gänzlich rechtsordnungswidrig beurteilt werden kann. Teilweise wird nämlich in Rechtsprechung und Literatur die Vorschrift des § 43 ZPO, durch die das Gesetz selbst verzögerte Ablehnungen unterbindet, dahin ausgelegt, daß schon ein Verhalten wie das des Antragstellers im vorliegenden Fall – Mitwirkung an der Vorbereitung einer Entscheidung über den Streitwert und Vertagungsantrag – als Einlassung im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sei mit der Folge, daß ein nachträglich gestelltes Ablehnungsgesuch als unzulässig zurückzuweisen sei (vgl. dazu näher Günther, NJW 1986, 281, 287 m. w. N.). Darauf, ob einer solchen Auslegung des § 43 ZPO zu folgen wäre, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Denn jedenfalls zeigt ihre in der Literatur ernsthaft diskutierte Zulässigkeit, daß das Gericht keine – im Ergebnis – völlig gesetzesfremde oder gar willkürliche Entscheidung getroffen hat.
7. Für die Zulassung einer Beschwerde fehlen somit die rechtlichen Voraussetzungen. Das Rechtsmittel ist mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
Streitwert des Beschwerdeverfahrens: 10.000,– DM.
Fundstellen