Entscheidungsstichwort (Thema)
Sattelunterseite II
Leitsatz (amtlich)
Sattelunterseite II
Die Sichtbarkeit eines Bauelements (hier: Fahrradsattel) eines komplexen Erzeugnisses (hier: Fahrrad) bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer im Sinne von §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG (Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG) ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen. Die bestimmungsgemäße Verwendung umfasst die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses (hier: Benutzung als Fortbewegungsmittel) vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat (hier: Aufbewahrung und Transport), mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur (Anschluss an EuGH, Urteil vom 16. Februar 2023 - C-472/21, GRUR 2023, 482 = WRP 2023, 430 - Monz Handelsgesellschaft International).
Normenkette
GeschmMG 2004 § 1 Nr. 4, § 4; EGRL 71/98 Art. 3 Abs. 3-4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Designinhaberin wird der Beschluss des 30. Senats (Marken- und Design-Beschwerdesenats) des Bundespatentgerichts vom 27. Februar 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
I. Für die Designinhaberin ist beim Deutschen Patent- und Markenamt seit dem 3. November 2011 das am 9. September 2011 angemeldete Design Nr. 40 2011 004 383-0001 für die Erzeugnisse "Sättel für Fahrräder oder Motorräder" mit folgender einziger Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels zeigt:
Rz. 2
Die Antragstellerin hat am 27. Juli 2016 die Feststellung der Nichtigkeit des Designs beantragt. Sie macht geltend, dem Design fehlten die Schutzvoraussetzungen der Neuheit und Eigenart. Vor allem sei es nach § 4 DesignG vom Schutz ausgeschlossen, weil es als Bauelement der komplexen Erzeugnisse "Fahrrad" und "Motorrad" bei deren bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.
Rz. 3
Die Designabteilung des Deutschen Patent- und Markenamts hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat das Bundespatentgericht die Nichtigkeit des Designs festgestellt (GRUR-RR 2020, 246). Hiergegen richtet sich die vom Bundespatentgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Designinhaberin, deren Zurückweisung die Antragstellerin beantragt.
Rz. 4
Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, Beschluss vom 1. Juli 2021 - I ZB 31/20, GRUR 2021, 1186 = WRP 2021, 1175 - Sattelunterseite I):
1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann "sichtbar" im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?
2. Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:
a) Kommt es für die Beurteilung der "bestimmungsgemäßen Verwendung" eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?
b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer "bestimmungsgemäß" im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG ist?
Rz. 5
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Fragen wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 16. Februar 2023 - C-472/21, GRUR 2023, 482 = WRP 2023, 430 - Monz Handelsgesellschaft International):
Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ist dahin auszulegen, dass das Erfordernis der "Sichtbarkeit", das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner "bestimmungsgemäßen Verwendung" durch den Endbenutzer aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.
Rz. 6
II. Das Bundespatentgericht hat - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren relevant - angenommen, auf die zulässige Beschwerde der Antragstellerin sei nach § 33 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, §§ 2, 4, 1 Nr. 4 DesignG die Nichtigkeit des angegriffenen Designs festzustellen, weil es über keine Neuheit und Eigenart verfüge. In seiner naheliegenden Erscheinungsform als Unterseite eines Fahrradsattels könne das angegriffene Design bei einem Erzeugnis benutzt werden, das als Bauelement in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad" eingefügt werden könne. Bei der bestimmungsgemäßen Verwendung des Fahrrads durch den Endbenutzer, die den Fahrvorgang und das Auf- und Absteigen umfasse, werde die designgegenständliche Unterseite eines Fahrradsattels nicht sichtbar.
Rz. 7
III. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Bundespatentgericht. Mit der vom Bundespatentgericht gegebenen Begründung kann die Nichtigkeit des angegriffenen Designs nicht festgestellt werden.
Rz. 8
1. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 2 DesignG ist ein eingetragenes Design nichtig, wenn das Design nicht neu ist oder keine Eigenart hat. Ein Design, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt gemäß § 4 DesignG nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, wenn das Bauelement, das in ein komplexes Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Eine bestimmungsgemäße Verwendung ist nach § 1 Nr. 4 DesignG die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.
Rz. 9
§ 4 und § 1 Nr. 4 DesignG setzen Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG in das nationale Recht um und sind daher richtlinienkonform auszulegen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG gilt das Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, (Buchst. a) wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und (Buchst. b) soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG bedeutet "bestimmungsgemäße Verwendung" im Sinne des Absatzes 3 Buchstabe a die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Ähnliche Regelungen für das Gemeinschaftsgeschmacksmuster finden sich in Art. 4 Abs. 2 und 3 GGV.
Rz. 10
2. Ein Fahrrad- oder Motorradsattel stellt ein Erzeugnis im Sinne des § 1 Nr. 2 Halbsatz 1 DesignG dar. Dieser Begriff umfasst jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand einschließlich von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen.
Rz. 11
3. Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet ist das Bundespatentgericht davon ausgegangen, dass ein Fahrrad ein komplexes Erzeugnis und ein Fahrradsattel ein Bauelement dieses komplexen Erzeugnisses ist.
Rz. 12
a) Ein komplexes Erzeugnis ist nach § 1 Nr. 3 DesignG ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Der Begriff des Bauelements ist mangels Definition in der Richtlinie nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Mit der Wendung "Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses" werden die verschiedenen Einzelteile bezeichnet, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann (vgl. bereits BGH, GRUR 2021, 1186 [juris Rn. 9] - Sattelunterseite I, mwN; ebenso EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 34] - Monz Handelsgesellschaft International unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 - C-397/16 und C-435/16, GRUR 2018, 284 [juris Rn. 64 bis 66] = WRP 2018, 308 - Acacia und D'Amato [Acacia/Porsche]).
Rz. 13
b) Nach diesem Maßstab hat das Bundespatentgericht zu Recht angenommen, dass ein regelmäßig über ein Sattelrohr fest verbundener, jedoch ohne Weiteres austauschbarer Sattel ein Bauelement eines Fahrrads ist und der Sattel eine Funktionseinheit mit dem komplexen Erzeugnis "Fahrrad" bildet, da ein Fahrrad ohne Sattel nicht seiner Bestimmung entsprechend als Fortbewegungsmittel genutzt werden kann.
Rz. 14
4. Mit der vom Bundespatentgericht gegebenen Begründung kann die Sichtbarkeit der Unterseite des Bauelements "Fahrradsattel" nach dem Einbau in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad" bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Fahrrads durch den Endbenutzer im Sinne von § 4 und § 1 Nr. 4 DesignG nicht verneint werden.
Rz. 15
a) Zutreffend hat das Bundespatentgericht allerdings angenommen, dass es auf die Sichtbarkeit des auf der Sattelunterseite enthaltenen Designs nach dem Einbau des Bauelements "Fahrradsattel" in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad", nicht aber vor dem Einbau oder nach dem Ausbau des Fahrradsattels ankommt.
Rz. 16
aa) Das Bundespatentgericht hat ausgeführt, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 4 DesignG sei es erforderlich, dass ein in das komplexe Erzeugnis "eingefügtes" Bauelement sichtbar bleibe. Hingegen könne eine erst durch oder bei Trennung des Bauelements von dem komplexen Erzeugnis sich eröffnende Sicht keine dem Schutzausschluss entgegenwirkende Sichtbarkeit begründen. Letzteres sei der Fall, wenn die Unterseite des Fahrradsattels erst mit dessen Ausbau zu den Zwecken des Austauschs gegen einen anderen Sattel oder des Diebstahlschutzes sichtbar werde. Gleiches gelte für eine Sichtbarkeit vor Einbau des Bauelements in das komplexe Erzeugnis, zum Beispiel beim Kauf eines Fahrradsattels als Einzelteil.
Rz. 17
bb) Diese von der Rechtsbeschwerde nicht beanstandete Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG und des seiner Umsetzung dienenden § 4 DesignG muss das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis "eingefügt" ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleiben; die Prüfung der Neuheit und Eigenart erstreckt sich auf "diese sichtbaren Merkmale" des Bauelements. Darüber hinaus soll sich der durch ein Design vermittelte Schutz nach Erwägungsgrund 12 Satz 1 der Richtlinie 98/71/EG nicht auf Merkmale eines Bauelements erstrecken, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist (vgl. bereits BGH, GRUR 2021, 1186 [juris Rn. 16] - Sattelunterseite I, mwN).
Rz. 18
b) Ebenfalls zutreffend hat das Bundespatentgericht auf die Sichtbarkeit der in dem Bauelement "Fahrradsattel" verkörperten Merkmale des Designs bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses "Fahrrad" abgestellt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde reicht es nicht aus, wenn das Design nach dem Einbau des Bauelements in das komplexe Erzeugnis objektiv erkennbar ist und in der Gestalt, die das komplexe Erzeugnis bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung hat, nicht vollständig verdeckt wird.
Rz. 19
aa) Das Bundespatentgericht hat angenommen, es sei erforderlich, dass das Bauelement im Rahmen einer bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer anfallenden Benutzungshandlung für den Endbenutzer oder auch für einen Dritten "sichtbar" bleibe. Auf Grundlage eines nach dem Bedeutungsgehalt möglichen Verständnisses von "sichtbar" im Sinne von "einsehbar" genügte es zwar, dass die Unterseite eines Fahrradsattels, die in aller Regel offen sei und nicht abgedeckt werde, anders als ein vollständig in ein komplexes Erzeugnis verbautes Bauelement insbesondere auch bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung durch einen einfachen Blick von unten ganz oder zumindest zu einem Teil äußerlich einsehbar bleibe. § 4 DesignG sei aber eine Sonderregelung, bei der nicht auf den Gegenstand der Anmeldung und damit auf die Sichtbarkeit der darin sichtbar wiedergegebenen Merkmale, sondern auf die Verwendung eines designmäßigen Erzeugnisses abgestellt werde.
Rz. 20
bb) Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand. Auch die vom Bundespatentgericht offengelassene Frage, ob es allein auf die Sichtbarkeit für den Endbenutzer ankommt oder auch die Sichtbarkeit für einen Dritten einem Schutzausschluss nach § 4 DesignG entgegenwirkt, ist durch das auf die Vorlage ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt.
Rz. 21
Der Gerichthof der Europäischen Union hat entschieden, dass eine abstrakte Beurteilung der Sichtbarkeit des in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung dieses Erzeugnisses nicht genügt, damit ein solches Bauelement den Musterschutz nach der Richtlinie 98/71/EG genießen kann. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG verlangt aber nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleibt. Die Frage der Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 45 f. und 56] - Monz Handelsgesellschaft International).
Rz. 22
Diese Auslegung hat der Gerichtshof der Europäischen Union zum einen daraus hergeleitet, dass der Musterschutz sich gemäß Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/71/EG auf die Erscheinungsform eines Erzeugnisses bezieht und sich die Erscheinungsform eines Bauelements im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG ausschließlich aus dessen sichtbaren Merkmalen ergibt (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 37 bis 43] - Monz Handelsgesellschaft International). Zum anderen muss nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG, dem § 4 DesignG weitgehend entspricht, das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement "bei … bestimmungsgemäßer Verwendung" dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben, um rechtlichen Musterschutz genießen zu können (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 44] - Monz Handelsgesellschaft International).
Rz. 23
c) Die Auslegung des Begriffs der bestimmungsgemäßen Verwendung hat das Bundespatentgericht jedoch rechtsfehlerhaft auf Handlungen des Endbenutzers in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfolgung des vom Hersteller definierten (Haupt-)Verwendungszwecks des komplexen Erzeugnisses verengt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen, das nicht allein auf die Zweckdefinition des Herstellers beschränkt ist, sondern alle üblichen Verwendungen mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur des komplexen Erzeugnisses umfasst. Danach können im Streitfall insbesondere mit dem Transport oder der Aufbewahrung eines Fahrrads verbundene Handlungen unter dessen bestimmungsgemäße Verwendung fallen.
Rz. 24
aa) Das Bundespatentgericht hat ausgeführt, maßgeblich sei nach §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG die bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Endbenutzer sei nur der Fahrer des Fahrrads, nicht aber ein Mitfahrer oder ein das Fahrrad betrachtender Dritter. Die aus Sicht des Herstellers zu definierende "bestimmungsgemäße" Verwendung eines Fahrrads sei seine Benutzung als Fortbewegungsmittel; diese umfasse den Fahrvorgang und - was zugunsten der Designinhaberin unterstellt werden könne - auch das Auf- und Absteigen. Während dieser Handlungen sei die Unterseite des Sattels vollständig von der Oberseite und den Seitenteilen des Sattels verdeckt. Sichtbar werde sie nur durch einen Blick "von unten", der jedoch völlig unüblich sei. Weitere bestimmungsgemäße Verwendungen ließen sich nicht feststellen. Zu Gunsten der Designinhaberin könne ferner unterstellt werden, dass die Sattelunterseite bei einem Abstellen des Fahrrads in dafür vorgesehenen Vorrichtungen und bei dessen Aufbewahrung sichtbar werde. Jedoch seien Maßnahmen der Aufbewahrung und auch des Transports der bestimmungsgemäßen Verwendung vor- oder nachgelagert, nicht aber Teil von ihr. Anders verhielte es sich nur, wenn die "übliche" von der "bestimmungsgemäßen" Verwendung mitumfasst wäre. Davon könne jedoch nicht ausgegangen werden. Zwar sprächen die englische und französische Fassung des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71/EG von "normal use" beziehungsweise "[une] utilisation normale"; die deutsche Fassung und die nationalen Vorschriften stellten aber unmissverständlich auf die "bestimmungsgemäße" Verwendung ab.
Rz. 25
bb) Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Rz. 26
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 55 f.] - Monz Handelsgesellschaft International).
Rz. 27
Unter Verweis auf die unterschiedlichen Sprachfassungen hat der Gerichtshof festgehalten, dass die normale oder übliche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer sich in der Regel mit einer Verwendung gemäß der Bestimmung des komplexen Erzeugnisses deckt, die dessen Hersteller (oder Entwickler) beabsichtigt hat. Die Beurteilung kann jedoch nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden, weil der Unionsgesetzgeber auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer abstellen wollte, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung des Sichtbarkeitserfordernisses vorzubeugen (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 50 bis 52] - Monz Handelsgesellschaft International).
Rz. 28
Der Umstand, dass Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG nicht angibt, welche Art der Verwendung eines komplexen Erzeugnisses von dem Begriff "bestimmungsgemäße Verwendung" erfasst wird, sondern allgemein auf die Verwendung eines solchen Erzeugnisses durch den Endbenutzer Bezug genommen wird, spricht nach Ansicht des Gerichtshofs für eine weite Auslegung dieses Begriffs. Folglich umfasst die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses auch Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa die Aufbewahrung oder der Transport des Erzeugnisses, nicht aber die nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71/EG ausdrücklich ausgenommenen Handlungen, die mit Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen (vgl. EuGH, GRUR 2023, 482 [juris Rn. 53 f.] - Monz Handelsgesellschaft International).
Rz. 29
IV. Die angefochtene Entscheidung ist danach aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Bundespatentgericht zurückzuverweisen (§ 23 Abs. 5 Satz 2 DesignG, § 108 Abs. 1 PatG). Hierzu weist der Senat auf Folgendes hin:
Rz. 30
1. Wie dargestellt (Rn. 23 bis 28), kann die nach der ersten Voraussetzung des § 4 DesignG zu fordernde Sichtbarkeit des Bauelements und der Merkmale des in ihm verkörperten Designs auch durch Handlungen erfüllt werden, die mit dem Transport oder der Aufbewahrung eines Fahrrads verbunden sind. Das Bundespatentgericht hat die Sichtbarkeit des Designs bei solchen Handlungen bislang lediglich zu Gunsten der Designinhaberin unterstellt und wird hierzu Feststellungen treffen müssen. Gegebenenfalls wird es auch andere von den Parteien vorgetragene Handlungen zu prüfen haben.
Rz. 31
Da nach § 39 DesignG zugunsten der Designinhaberin vermutet wird, dass die an die Rechtsgültigkeit ihres eingetragenen Designs zu stellenden Anforderungen erfüllt sind, hat die Antragstellerin als Voraussetzung für den Erfolg ihres Antrags die negative Tatsache darzulegen und zu beweisen, dass das Design nach Einbau des Bauelements in den komplexen Gegenstand bei dessen üblicher Verwendung nicht sichtbar bleibt. Der Designinhaberin obliegt es als nicht beweisbelastete Partei, im Rahmen des ihr Zumutbaren diese negative Tatsache unter Darlegung der für die gegenläufige positive Tatsache sprechenden Umstände substantiiert zu bestreiten. Die beweisbelastete Partei hat sodann die für die positive Tatsache sprechenden Umstände zu widerlegen (zum vorbekannten Formenschatz vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2018 - I ZR 187/16, GRUR 2018, 832 [juris Rn. 80] = WRP 2018, 950 - Ballerinaschuh).
Rz. 32
2. Das Bundespatentgericht hat seine Beurteilung auf die aus seiner Sicht naheliegende Erscheinungsform des Designs auf der Unterseite eines Fahrradsattels beschränkt, ohne auf eine mögliche Verwendung auf der Unterseite eines Motorradsattels einzugehen. Nachdem die Designinhaberin "Motorradsättel" als weiteres Erzeugnis angegeben hat, wird das Bundespatentgericht seine Prüfung gegebenenfalls auch darauf zu erstrecken haben.
Rz. 33
3. Soweit das Bundespatentgericht die Sichtbarkeit des Designs bejaht, wird es über die zweite nach § 4 DesignG zu prüfende Frage entscheiden müssen, ob die sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Dies hat das Bundespatentgericht bislang ohne abschließende Sachprüfung unterstellt.
Koch |
|
Löffler |
|
Schwonke |
|
Schmaltz |
|
Odörfer |
|
Fundstellen
Haufe-Index 15806265 |
BB 2023, 2306 |