Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendbarkeit des § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG. Mietstreitigkeit. Funktionelle Zuständigkeit für das Berufungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
§ 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG findet auch auf Mietstreitigkeiten Anwendung.
Normenkette
GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
Verfahrensgang
LG Berlin |
AG Berlin-Charlottenburg |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss der Zivilkammer 61 des LG Berlin v. 10.2.2003 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
Beschwerdewert: 2.755,50 EuroGründe:
Gründe
I.
Der Kläger hat den Beklagten zu 1) und die frühere Beklagte zu 2) nach Beendigung des mit ihnen geschlossenen Wohnungsmietvertrages auf Zahlung rückständiger Miete i. H. v. 3.790,49 Euro nebst Zinsen sowie weiterer 46,44 Euro in Anspruch genommen. Die Klage ist der früheren Beklagten zu 2) an ihrem Wohnsitz in L. , Großbritannien, zugestellt worden. Das AG hat die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 1.057,77 Euro nebst Zinsen sowie weiterer 23,66 Euro verurteilt. Wegen der Abweisung der Klage im Übrigen hat der Kläger gegen das amtsgerichtliche Urteil Berufung zum LG eingelegt. Nach dessen Hinweis auf § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG hat er die Berufung hinsichtlich der Beklagten zu 2) nach Ablauf der Berufungsfrist zurückgenommen. Das LG hat die Berufung durch Beschluss als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 522 Abs. 1 S. 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch nach § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung für die Klärung des Anwendungsbereichs des durch das ZPO-Reformgesetz v. 27.7.2001 (BGBl. I S. 1887) neu gefassten § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG zulässig, weil sich die Frage stellt, ob Mietstreitigkeiten von dieser Vorschrift erfasst werden. Die Rechtsbeschwerde ist im Übrigen gem. § 575 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Auf die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO kommt es nicht an (vgl. BGH, Beschl. v. 4.9.2002 - VIII ZB 23/02, BGHReport 2002, 1113 = WM 2003, 554 unter II 1 b).
2. Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Zu Recht hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers hinsichtlich des im Rechtsstreit verbliebenen Beklagten zu 1 gem. § 522 Abs. 1 S. 3 ZPO als unzulässig verworfen, weil für die Entscheidung über das Rechtsmittel nicht nach § 72 GVG das LG, sondern gem. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG das KG zuständig ist. Nach dieser Bestimmung sind die Oberlandesgerichte zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel der Berufung und der Beschwerde gegen Entscheidungen der Amtsgerichte in Streitigkeiten über Ansprüche, die von einer oder gegen eine Person erhoben werden, die ihren allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in erster Instanz außerhalb des Geltungsbereichs des Gerichtsverfassungsgesetzes hatte. Das ist hier der Fall.
a) Die Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG findet nach der zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichts auch auf Mietstreitigkeiten Anwendung. Ohne Erfolg verweist der Kläger darauf, dass für diese Streitigkeiten nicht der allgemeine Gerichtsstand des Wohnsitzes nach § 13 ZPO gilt, sondern nach § 29 a ZPO ausschließlich das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk sich die Räume befinden. Daraus lässt sich ein Ausschluss der Mietstreitigkeiten aus dem Anwendungsbereich des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG nicht herleiten. § 29 a ZPO regelt nur die örtliche Zuständigkeit in der ersten Instanz, besagt dagegen nichts zu der in § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG geregelten funktionellen Zuständigkeit für das Berufungsverfahren. Soweit § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf den allgemeinen Gerichtsstand der Parteien verweist, soll damit nicht die Anwendbarkeit der Vorschrift auf die Fälle beschränkt werden, in denen in erster Instanz der allgemeine Gerichtsstand gilt. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs soll das Gerichtsstandskriterium vielmehr - im Rahmen des Gesetzeszwecks, in Fällen mit Auslandsberührung durch eine obergerichtliche Rechtsprechung Rechtssicherheit zu schaffen - "eine hinreichende Bestimmtheit und damit Rechtssicherheit für die Abgrenzung der Berufungszuständigkeit zwischen LG und OLG" gewährleisten (BT-Drucks. 14/6036, 118 f.). § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG enthält demnach eine rein formale Anknüpfung (Zöller/Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 119 Rz. 15). Ein Ausschluss der Mietstreitigkeiten aus dem Anwendungsbereich des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG kommt somit nicht in Betracht. Er wäre aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht ersichtlich und würde deswegen der verfassungsrechtlich gebotenen Klarheit der Rechtsmittelvorschriften (BVerfG v. 11.2.1987 - 1 BvR 475/85, BVerfGE 74, 228 [234] m. w. N. = MDR 1987, 728 = CR 1987, 374) widersprechen. Daher kann dahingestellt bleiben, ob die Annahme des Klägers zutrifft, dass sich im Mietrecht wegen einer regelmäßigen Anknüpfung an die Belegenheit der Mietsache nach Art. 28 Abs. 3 EGBGB kaum Probleme des Internationalen Privatrechts stellen. Aus dem genannten Grund hängt die Berufungszuständigkeit des OLG nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auch nicht davon ab, ob im Einzelfall internationales Recht Anwendung findet (BGH, Beschl. v. 19.2.2003 - IV ZB 31/02, MDR 2003, 707 = BGHReport 2003, 635).
b) Die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG für die Berufungszuständigkeit des OLG (KG) sind hier erfüllt, weil die frühere Beklagte zu 2) zum Zeitpunkt der Zustellung der vor dem AG erhobenen Klage ihren Wohnsitz und damit gem. § 13 ZPO ihren allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hatte. Entgegen der Auffassung des Klägers ist das OLG nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auch dann einheitlich zuständig, wenn - wie hier - nur einer von mehreren Streitgenossen seinen allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hat. Das gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich um eine einfache oder um eine notwendige Streitgenossenschaft handelt, so dass diese Frage hier keiner Vertiefung bedarf. Für diese Auslegung spricht sowohl die Vereinfachungstendenz des Gesetzes als auch sein Zweck, in Fällen mit Auslandsberührung die Rechtssicherheit durch eine obergerichtliche Rechtsprechung zu verstärken (BGH, Urt. v. 13.5.2003 - VI ZR 430/02, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, unter II 1 m. w. N.).
c) An der danach hier gegebenen Zuständigkeit des KG hat sich nichts dadurch geändert, dass der Kläger seine Berufung hinsichtlich der früheren Beklagten zu 2) zurückgenommen hat. Dadurch ist zwar diejenige Partei aus dem Rechtsstreit ausgeschieden, deren allgemeiner Gerichtsstand im Ausland die Zuständigkeit des OLG (KG) für das Berufungsverfahren begründet hat. Das hat aber jedenfalls dann keinen Einfluss auf diese Zuständigkeit, wenn die betreffende Partei - wie hier - erst nach Ablauf der Berufungsfrist aus dem Rechtsstreit ausscheidet (BGH, Urt. v. 13.5.2003 - VI ZR 430/02, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, unter II 1 m. w. N.).
d) Zu Unrecht macht der Kläger schließlich geltend, das LG wäre mangels Eindeutigkeit des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG bei Streitgenossenschaft nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Klarheit des Zugangs zur Rechtsmittelinstanz (BVerfG v. 11.2.1987 - 1 BvR 475/85, BVerfGE 74, 228 [234] m. w. N. = MDR 1987, 728 = CR 1987, 374) in entsprechender Anwendung des § 36 ZPO verpflichtet gewesen, eine gerichtliche Bestimmung der Zuständigkeit herbeizuführen. Sinn und Zweck des § 36 ZPO ist es, im Interesse der Parteien und der Rechtssicherheit den Streit darüber, welches Gericht für die Sachentscheidung zuständig ist, schnell zu beenden, damit sich das als zuständig bestimmte Gericht möglichst bald mit der Sache selbst befasst (BGH v. 22.2.1978 - IV ARZ 10/78, BGHZ 71, 15 [18]; v. 15.3.1978 - IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69 [74], jew. m. w. N.). Danach kommt hier eine entsprechende Anwendung des § 36 ZPO nicht in Betracht. Hier geht es nicht um die schnelle Entscheidung eines Zuständigkeitsstreits, sondern darum, wie § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auszulegen ist und ob der Kläger die Berufung danach bei dem zuständigen Gericht eingelegt hat. Der Klärung dieser Frage dient das Verfahren des § 36 ZPO nach dem oben genannten Sinn und Zweck nicht.
Fundstellen
NJW 2003, 3278 |
BGHR 2003, 1234 |
NZM 2003, 799 |
ZMR 2003, 823 |
MDR 2003, 1367 |
WuM 2003, 634 |
AIM 2003, 203 |
KammerForum 2003, 419 |
MK 2003, 163 |