Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 11. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2021 aufgehoben.
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin vom 15. September 2020 (1 O 345/17) gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf bis 65.000 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
I. Das klageabweisende Urteil des Landgerichts ist der Klägerin am 1. Oktober 2020 zugestellt worden. Hiergegen hat die Klägerin fristgerecht Berufung eingelegt, ohne ihr Rechtsmittel gleichzeitig zu begründen. Mit Verfügung vom 7. Dezember 2020 wurde die Klägerin durch das Oberlandesgericht auf die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen des Fehlens einer fristgerechten Begründung ihres Rechtsmittels hingewiesen. Mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2020, eingegangen beim Oberlandesgericht an eben diesem Tag, hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung sowie die Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 4. Januar 2021 beantragt und neben dem Wiedereinsetzungsantrag auch "vorsorglich" die Berufung begründet.
Rz. 2
Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags hat die Klägerin - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten B. (im Folgenden: Rechtsanwaltsfachangestellte) sowie unter anwaltlicher Versicherung - ausgeführt: Der Ablauf der zweimonatigen Frist zur Begründung der Berufung sei richtig auf den 1. Dezember 2020 notiert worden. Durch ein Versehen einer Kanzleimitarbeiterin sei an diesem Tag ein Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung an das erstinstanzliche Gericht adressiert worden. Erst nach dessen Unterzeichnung sei dem mit der Sache befassten Klägervertreter dieser Fehler aufgefallen. Die seit vielen Jahren fehlerfrei arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte sei dann von ihm angewiesen worden, den Schriftsatz "zu schreddern" und einen Fristverlängerungsantrag mit richtiger Adressierung zu fertigen. Nach Unterzeichnung des richtig adressierten Schriftsatzes durch den Klägervertreter sei dann am 1. Dezember 2020 - ohne dass dies weiter anwaltlich überwacht worden sei - durch die Rechtsanwaltsfachangestellte versehentlich nicht der neu erstellte, sondern der ursprüngliche, fehlerhafte Fristverlängerungsantrag per Fax und per Post an das erstinstanzliche Gericht übermittelt worden.
Rz. 3
Der falsch adressierte Schriftsatz ist beim erstinstanzlichen Gericht am 1. Dezember 2020 eingegangen und an das Oberlandesgericht weitergeleitet worden; dort ist er am 7. Dezember 2020 eingegangen.
Rz. 4
Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
Rz. 5
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 6
1. Die gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt die Klägerin in ihrem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), das es den Gerichten verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. Juni 2018 - IV ZB 10/17, NJW-RR 2018, 957 Rn. 6; vom 8. März 2017 - IV ZB 18/16, ZEV 2017, 278 Rn. 5).
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
Rz. 8
Die Klägerin hat zwar die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Ihr ist aber auf ihren rechtzeitig und ordnungsgemäß gestellten Antrag (§ 234 Abs. 1 Satz 1, § 236 Abs. 2 ZPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie ohne ihr Verschulden daran gehindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten (§ 233 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat die Anforderungen überspannt, die daran zu stellen sind, was im Fall der Falschadressierung einer Rechtsmittelschrift als ausreichende Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags vorzutragen und glaubhaft zu machen ist (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Rz. 9
a) Nach Auffassung des Berufungsgerichts könne offenbleiben, ob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei der Behandlung des Fristverlängerungsschriftsatzes gegen seine anwaltlichen Sorgfaltspflichten verstoßen habe. Jedenfalls sei ein Wiedereinsetzungsgrund nicht schlüssig dargelegt. Dem Vorbringen der Klägerin lasse sich nicht entnehmen, was mit dem an das Berufungsgericht adressierten Fristverlängerungsantrag geschehen sei. Offen bleibe hiernach, ob dem mit der Sache befassten Rechtsanwalt oder einem seiner Mitarbeiter hätte auffallen müssen, dass der richtige Fristverlängerungsantrag noch nicht versandt worden war. Deshalb könne ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin entweder in seiner Person oder durch fehlerhafte Büroorganisation nicht ausgeschlossen werden. Die Berufung der Klägerin sei deshalb mangels fristgerechter Begründung zu verwerfen.
Rz. 10
b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Vortrag der Klägerin reicht aus, um darzulegen, dass ihre Prozessbevollmächtigten kein der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden an der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung aus § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO trifft.
Rz. 11
aa) Stellt der Rechtsanwalt erst im Zusammenhang mit der Überprüfung einer von ihm bereits unterschriebenen Rechtsmittelschrift fest, dass sie nicht an das richtige Berufungsgericht adressiert ist, genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn er - wie hier nach dem Vorbringen der Klägerin geschehen - eine zuverlässige Bürokraft anweist, eine neue, richtig adressierte Berufungsschrift zu erstellen, ihm zur Unterschrift vorzulegen, er diesen (nunmehr richtig adressierten) Schriftsatz unterzeichnet und der Bürokraft zur Übersendung übergibt (vgl. hierzu: BGH, Beschlüsse vom 17. Juli 2007 - VIII ZB 107/06, BRAK-Mitt. 2007, 200 [juris Rn. 6] zum Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung; vom 16. April 2013 - VIII ZB 67/12, juris Rn. 7; vom 12. November 2013 - VI ZB 4/13, NJW 2014, 700 Rn. 12 f. zum Antrag auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung; vom 22. Juli 2015 - XII ZB 583/14, WM 2016, 142 Rn. 16; vom 25. Oktober 2018 - V ZB 259/17, NJW-RR 2019, 315 Rn. 10; vom 16. Juli 2019 - VIII ZB 71/18, FamRZ 2019, 1725 Rn. 13).
Rz. 12
Darauf, dass die in der Vergangenheit zuverlässige Bürokraft der Weisung Folge leistet und die richtig adressierte Rechtsmittelschrift an das dort als Empfänger ausgewiesene Gericht übermittelt, darf sich der Anwalt ohne weitere Vorkehrungen verlassen (BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 aaO Rn. 14).
Rz. 13
bb) Vortrag zum weiteren Schicksal des - richtig adressierten - Schriftsatzes war entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht erforderlich. Denn der Prozessbevollmächtigte genügt den von ihm im Fall einer erkannten Falschadressierung zu beachtenden Anforderungen jedenfalls dann, wenn er wie hier neben dem Auftrag, nunmehr den richtig adressierten Schriftsatz zu versenden, die Bürokraft anweist, den falsch adressierten Schriftsatz zu vernichten (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 - VIII ZB 71/18, FamRZ 2019, 1725 [juris Rn. 14 und 18]). Auch insoweit darf sich der Prozessbevollmächtigte ohne weiteres darauf verlassen, dass seinen Anweisungen Folge geleistet wird.
Rz. 14
Vortrag dazu, was im Einzelnen mit den beiden Schriftsätzen im Nachgang zur Unterzeichnung des richtig adressierten und der Erteilung der Anweisung zur Vernichtung des falsch adressierten Schriftsatzes geschehen ist, erübrigt sich deshalb im Rahmen der Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Denn hier geht es nur um die Frage, ob dem Bevollmächtigten ein Verschuldensvorwurf zu machen ist, der der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen wäre. Bei dem Verwechseln der beiden Schriftsätze anlässlich der Vernichtung des einen und der Versendung des anderen handelt es sich - da hier keine Kontrollpflichten des bevollmächtigten Rechtsanwalts bestanden - um ein alleiniges Verschulden der Bürokraft, für welches die Klägerin nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO einzustehen hat (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 aaO [juris Rn. 17]).
Rz. 15
c) Die Klägerin hat durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten und der anwaltlichen Versicherung ihres vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten auch glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO), dass ihr Prozessbevollmächtigter die anwaltlichen Pflichten erfüllt hat, die einem Rechtsanwalt im Fall einer nach Unterzeichnung einer Rechtsmittelschrift erkannten Falschadressierung obliegen.
Rz. 16
III. Gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO ist der angefochtene Beschluss aufzuheben. Da die Sache hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags zur Endentscheidung reif ist, entscheidet der Senat gemäß § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO insoweit abschließend in der Sache selbst. Im Übrigen ist die Sache gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 17
IV. Das Berufungsgericht wird gegebenenfalls zu prüfen haben, ob die Streithelferin - die im Rubrum der Entscheidung des Oberlandesgerichts und der Rechtsbeschwerde als Streithelferin auf Seiten der Beklagten ausgewiesen ist - tatsächlich auf dieser Seite beigetreten ist (vgl. GA 473a).
Mayen |
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Prof. Dr. Karczewski |
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Dr. Brockmöller |
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Dr. Bußmann |
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Dr. Bommel |
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Fundstellen