Leitsatz (amtlich)

Zur Notwendigkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers bei möglicher Erstreckung des Aufgabenkreises der Betreuung auf alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen und bei Anordnung eines umfassenden Einwilligungsvorbehalts in Vermögensangelegenheiten (im Anschluss an BGH v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865; v. 9.5.2018 - XII ZB 577/17 - juris).

 

Normenkette

FamFG § 276 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

LG Stade (Beschluss vom 14.11.2017; Aktenzeichen 9 T 119/17)

AG Bremervörde (Entscheidung vom 01.09.2017; Aktenzeichen 8 XVII 59/17)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 9. Zivilkammer des LG Stade vom 14.11.2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das LG zurückverwiesen.

Wert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die 1940 geborene Betroffene leidet an einer phasenhaft verlaufenden bipolaren affektiven Störung. Für sie ist 2017 eine rechtliche Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Wohnungs- sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten eingerichtet worden.

Rz. 2

Im vorliegenden Verfahren ist die Betreuung auf Anregung des Betreuers um die Vermögenssorge erweitert und insoweit ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet worden. Das LG hat die von der Betroffenen eingelegte Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen richtet sich deren Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde rügt mit Recht als verfahrensfehlerhaft, dass in den Vorinstanzen für die Betroffene kein Verfahrenspfleger bestellt worden ist.

Rz. 4

1. Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Abs. 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (BGH v. 16.5.2018 - XII ZB 214/17 - juris Rz. 7 m.w.N.; v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 Rz. 6 m.w.N.).

Rz. 5

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht es, wenn die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (BGH v. 16.5.2018 - XII ZB 214/17 - juris Rz. 8; v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 Rz. 7 m.w.N.).

Rz. 6

Zudem ist auch die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts mit gravierenden Auswirkungen auf die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass in Verfahren, die einen umfassenden Einwilligungsvorbehalt in Vermögensangelegenheiten zum Gegenstand haben, für den Betroffenen in der Regel ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist (BGH, Beschl. v. 9.5.2018 - XII ZB 577/17 - juris Rz. 12).

Rz. 7

Gemessen hieran kann die Entscheidung des LG keinen Bestand haben. Das AG hat die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gem. § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war. Dass davon der Postverkehr noch ausgenommen ist, entbindet als verbliebene Angelegenheit von der Anordnung einer Verfahrenspflegschaft noch nicht. Außerdem hat das AG einen umfassenden Einwilligungsvorbehalt in Vermögensangelegenheiten angeordnet.

Rz. 8

Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers kann nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur dann abgesehen werden, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gem. § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (BGH v. 16.5.2018 - XII ZB 214/17 - juris Rz. 9; v. 23.8.2017 - XII ZB 611/16, FamRZ 2017, 1865 Rz. 8 f. m.w.N.; v. 9.5.2018 - XII ZB 577/17 - juris Rz. 12). Weil das LG entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist.

Rz. 9

2. Gemäß § 74 Abs. 5 und Abs. 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das LG zurückzuverweisen.

Rz. 10

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 12027066

FamRZ 2018, 1692

FuR 2018, 3

FGPrax 2019, 25

JZ 2018, 710

JZ 2018, 715

MDR 2018, 1185

Rpfleger 2018, 679

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