Tenor
Der vom Angeklagten erhobene Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Angeklagte beanstandet die Gerichtsbesetzung in der gegen ihn stattfindenden Hauptverhandlung. Dem liegt folgendes Geschehen zugrunde:
Rz. 2
Wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland befindet sich der Angeklagte seit dem 11. Mai 2021 in Untersuchungshaft. Im Juli 2021 informierte der Generalbundesanwalt das Oberlandesgericht Frankfurt am Main über die geplante Anklageerhebung. Nach dem dortigen Jahresgeschäftsverteilungsplan 2021 fielen alle Verfahren gemäß § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG in die Zuständigkeit des 5. Strafsenats, bei dem zum damaligen Zeitpunkt bereits mehrere erstinstanzliche Sachen anhängig waren. Am 12. November 2021 ging die 130 Seiten umfassende Anklageschrift nebst zugehörigen 120 Stehordnern Ermittlungsakte beim Oberlandesgericht ein. Der Vorsitzende des 5. Strafsenats zeigte am selben Tag die Überlastung des Spruchkörpers an und teilte mit, dass und warum sein Senat das Verfahren nicht beschleunigt werde fördern können.
Rz. 3
Am 22. November 2021 änderte das Präsidium des Oberlandesgerichts die Geschäftsverteilung. Es bestimmte die Einrichtung eines Hilfsstrafsenats 5a, in dessen Zuständigkeit es alle bislang dem 5. Strafsenat obliegenden erstinstanzlichen Strafsachen überführte, die im Zeitraum vom 11. November bis zum 31. Dezember 2021 eingegangen waren und eingehen sollten. Der Beschluss war mit einer Begründung versehen, in welcher die Überlastung des 5. Strafsenats und die Erwägungen für die Einrichtung des Hilfsstrafsenats im Einzelnen dargelegt wurden.
Rz. 4
In der Folge eröffnete der Hilfsstrafsenat das Hauptverfahren. Termine für die Hauptverhandlung beraumte dessen Vorsitzender zunächst ab dem 30. März 2022, nach krankheitsbedingten Verhinderungen ab dem 11. April 2022 an. Am 13. März 2022 wurde den Verteidigern des Angeklagten die sich aus der geänderten Geschäftsverteilung ergebende Besetzung mitgeteilt.
Rz. 5
Der am 21. März 2022 erhobene Besetzungseinwand macht geltend, dass der 5. Strafsenat bereits zu Beginn des Jahres 2021 überlastet gewesen sei und dies spätestens im Juli 2021 hätte anzeigen müssen, nachdem ein anderes Umfangsverfahren bei ihm eingegangen und die vorliegende Sache angekündigt worden war. Die Gefahr der Überlastung des Staatsschutzsenats sei strukturell im Jahresgeschäftsverteilungsplan angelegt; es gehe nicht an, sämtliche Verfahren nach § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG auf diesen einen Senat zu übertragen. Die vom Präsidium nunmehr beschlossene Ableitung, bei der es sich um eine ohnehin unzulässige verdeckte Einzelfallzuweisung handele, sei nicht geeignet, das strukturelle Problem zu beheben und einen effizienten Geschäftsablauf herzustellen. Das Präsidium hätte überdies vorrangig die Mitglieder des 5. Strafsenats von ihren Aufgaben im Zivilrecht entlasten oder die Sache auf den regulär für (andere) erstinstanzliche Strafsachen zuständigen 4. Strafsenat übertragen müssen.
Rz. 6
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, den Besetzungseinwand zurückzuweisen. Das Oberlandesgericht hat ihn ebenfalls für unbegründet gehalten und dem Bundesgerichtshof vorgelegt.
II.
Rz. 7
1. Der Besetzungseinwand ist frist- und formgerecht erhoben. Er entspricht den Begründungsanforderungen des § 222b Abs. 1 Satz 2, § 344 Abs. 2 Satz 2 analog StPO (vgl. dazu BeckOK StPO/Ritscher, 42. Ed., § 222b Rn. 10; KK-StPO/Gmel, 8. Aufl., § 222b Rn. 8, jeweils mwN).
Rz. 8
2. In der Sache hat der Einwand jedoch keinen Erfolg. Die Ableitung des Verfahrens auf den Hilfsstrafsenat 5a ist nicht zu beanstanden.
Rz. 9
a) Die von der Rechtsprechung zur Besetzungsrüge im Revisionsverfahren nach § 338 Nr. 1 StPO aF entwickelten Maßstäbe bleiben im Vorabentscheidungsverfahren nach § 222b Abs. 3 StPO anwendbar (KG, Beschluss vom 27. April 2020 - 4 Ws 29/20, juris Rn. 6 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2020 - 2 Ws 36/20, juris Rn. 28 ff.; BeckOK-StPO/Ritscher, 42. Ed., § 222b Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 222b Rn. 19; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2021 - 2 BvR 2076/21 u.a., NStZ-RR 2022, 76, 77). Denn das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2121) hat die revisionsrechtliche Rügemöglichkeit in ein Zwischenverfahren verlagert, ohne den Prüfungsumfang für das Rechtsmittelgericht abweichend zu regeln (vgl. BT-Drucks. 19/14747 S. 29 ff.).
Rz. 10
b) Zur Änderung der Geschäftsverteilung während des laufenden Geschäftsjahres (§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG) gilt danach:
Rz. 11
Die einfachgesetzlichen Regelungen zur Gerichtsbesetzung werden maßgeblich durch die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt. Daraus folgt das Erfordernis, im Voraus so eindeutig wie möglich festzulegen, welcher Richter zur Entscheidung im Einzelfall berufen ist. Auch die Regelungen in den Geschäftsverteilungsplänen, welche die gesetzlichen Bestimmungen ergänzen, müssen im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper festschreiben, damit die einzelne Sache "blindlings" aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird (BGH, Beschlüsse vom 20. April 2021 - StB 13/21 u.a., juris Rn. 20 f.; vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 35; vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, BGHR StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 7 Rn. 17; BVerfG, Beschlüsse vom 16. Januar 2017 - 2 BvR 2011/16 u.a., NJW 2017, 1233 Rn. 24; vom 8. April 1997 - 1 PBvU 1/95, BVerfGE 95, 322, 329).
Rz. 12
Gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG darf das Präsidium die nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies etwa wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Die Vorschrift muss eng ausgelegt und entsprechend angewendet werden. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann allerdings nicht nur zulässig, sondern auch verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann (BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 36; Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268 Rn. 9). Das Beschleunigungsgebot lässt indes das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden (BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 - 2 BvR 229/09, NJW 2009, 1734 Rn. 26).
Rz. 13
Nach diesen Maßstäben steht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren zugleich eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht. In Ausnahmefällen kann sogar eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans zulässig sein, die ausschließlich bereits anhängige Verfahren überträgt, wenn nur so dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen angemessen Rechnung getragen werden kann.
Rz. 14
Jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, muss indes geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben. Einfachrechtlich folgt dieses Erfordernis aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, da Änderungen der Geschäftsverteilung, die nicht der Erhaltung oder Wiederherstellung der Effizienz eines Spruchkörpers dienen, nicht im Sinne dieser Vorschrift "nötig" sind. Da eine Überleitung bereits anhängiger Verfahren, bei denen schon eine anderweitige Zuständigkeit konkretisiert und begründet war, erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich birgt, bedarf es in solchen Fällen einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 37 ff. mwN).
Rz. 15
c) Gemessen daran waren die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Änderung der Geschäftsverteilung nach § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG gegeben.
Rz. 16
aa) Zutreffend ist das Präsidium des Oberlandesgerichts von einer Überlastung des 5. Strafsenats ausgegangen. Die Gründe für seine Einschätzung hat es hinreichend dokumentiert.
Rz. 17
Eine Überlastung im Sinne des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum ein erheblicher Überhang der Eingänge über die Erledigungen zu verzeichnen ist, sodass mit einer Bearbeitung der Sache innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht zu rechnen ist und sich die Überlastung daher als so erheblich darstellt, dass der Ausgleich nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres zurückgestellt werden kann. Indes können auch einzelne Umfangsverfahren eine Überlastung nach § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG herbeiführen. Maßgebend für die Frage der Überlastung ist letztlich, ob innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit einer Bearbeitung der gegenständlichen Verfahren durch den Spruchkörper gerechnet werden kann (s. BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 50 mwN).
Rz. 18
Ausweislich des Präsidiumsbeschlusses vom 22. November 2021 war eine Überlastung gegeben. Denn der 5. Strafsenat war mit der Bearbeitung von anderen eiligen Verfahren befasst, die seine Arbeitskapazität erschöpften. In einer Sache hatte er nach soeben abgeschlossener Hauptverhandlung nach Revisionseinlegung fristgebunden die Urteilsgründe abzusetzen. Zwei weitere Verfahren verhandelte er in vollständiger Besetzung, eines davon bereits seit 57, das andere seit 19 Tagen. In beiden Hauptverhandlungen war die Urteilsverkündung in Sichtweite bzw. für Januar 2021 geplant, es waren jedoch absehbar auch hier umfangreiche schriftliche Begründungen abzufassen. In der vierten (Haft-)Sache, die schwerwiegende Übergriffe in einem Militärkrankenhaus in Syrien und einen Aktenumfang von 50 Stehordnern zum Gegenstand hatte, sollte die Hauptverhandlung mit fünf Richtern am 13. Januar 2022 beginnen und in der Folge an mindestens zwei Tagen pro Woche stattfinden. Daneben hätte der Staatsschutzsenat das vorliegende komplexe Verfahren nicht auch noch beschleunigt bearbeiten und zeitnah verhandeln können.
Rz. 19
bb) Soweit der Besetzungseinwand ein strukturelles Problem im Hinblick auf die Überlastung des 5. Strafsenats rügt, wendet er sich in der Sache nicht gegen die Änderung der Geschäftsverteilung vom 22. November 2021, sondern gegen die Jahresgeschäftsverteilung für 2021 (§ 21e Abs. 1 Satz 2 GVG). Dass zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über jene eine dauerhafte Überlastung des betroffenen Spruchkörpers vorgelegen hätte, ist dem Vorbringen des Angeklagten jedoch nicht zu entnehmen. Bei der Überlastungsanzeige vom 12. November 2021 handelte es sich um die erste seit einem längeren Zeitraum, mindestens seit dem Jahr 2019. Der letzte Hilfsstrafsenat wurde im Jahr 2011 eingerichtet. Vor diesem Hintergrund ist ein strukturelles Versäumnis des Präsidiums nicht ersichtlich (zum Maßstab für die Überprüfung von Jahresgeschäftsverteilungsplänen s. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - StB 25/21 u.a., NStZ 2021, 762 Rn. 15 mwN).
Rz. 20
cc) Die Änderung der Geschäftsverteilung war nötig im Sinne von § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG. Wie der Dokumentation im Präsidiumsbeschluss vom 22. November 2021 im Einzelnen zu entnehmen ist, war sie insbesondere geeignet, die Effizienz des Geschäftsablaufs wiederherzustellen.
Rz. 21
Die Darstellung des Angeklagten, die bis zum 31. Dezember 2021 befristete Umverteilung habe zur Bewältigung der Überlast des 5. Strafsenats nicht ausgereicht, ist unzutreffend. Denn die beschlossene Ableitung beseitigte die Überlastungssituation des Senats. Die grundsätzlich immer gegebene Möglichkeit, dass in der Folgezeit - die im Übrigen bereits das Jahr 2022 und damit eine zukünftige Jahresgeschäftsverteilung betraf - erneut ein Umfangsverfahren eingehen könnte, dessen ordnungsgemäße Bearbeitung vom Staatsschutzsenat ebenfalls nicht zu leisten wäre, erfordert von Rechts wegen keine vorbeugenden Maßnahmen. Anders mag sich dies darstellen, wenn - in Abweichung zum hiesigen Fall - in einem überschaubaren Zeitraum mehrfach eine solche Situation eintritt und damit konkrete Anhaltspunkte für eine dauerhafte Überlastung vorliegen.
Rz. 22
dd) Der Umverteilung des Verfahrens durch den Präsidiumsbeschluss vom 22. November 2021 lag auch eine generell-abstrakte Regelung zugrunde. Die Ableitung aller vom 11. November bis zum 31. Dezember 2021 eingehenden, in die Zuständigkeit des 5. Strafsenats fallenden Verfahren folgte allgemeinen, sachlich-objektiven Merkmalen und war ersichtlich am Jährlichkeitsprinzip ausgerichtet, nach dem mit dem Abschluss des Geschäftsjahres die Wirkung aller Präsidialbeschlüsse endet (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - StB 13/21 u.a., juris Rn. 11 mwN; BVerwG, Beschluss vom 14. Februar 2022 - 3 B 27.21, juris Rn. 11 mwN).
Rz. 23
Eine verbotene Einzelzuweisung liegt trotz des relativ kurzen Geltungszeitraums der Änderung nicht vor. Die Regelung erfasste rückblickend insgesamt sechs Verfahren, die zum Stichtag bereits anhängig waren oder noch eingingen. Dass das vorliegende darunter das einzige mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des Oberlandesgerichts darstellte, ist der besonderen Natur der Staatsschutzsachen geschuldet, die bundesweit im Vergleich zu sonstigen erstinstanzlichen Strafsachen niedrige Eingangszahlen verzeichnen.
Rz. 24
ee) Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG erfüllt sind, kann offenbleiben, ob die vorstehenden Fragen in Gänze einer vollen Überprüfung der Rechtmäßigkeit oder lediglich einer Vertretbarkeits- oder Willkürkontrolle unterliegen.
Rz. 25
Wie der Senat bereits ausgeführt hat, sprechen - mit Ausnahme der Frage, ob eine generell-abstrakte Regelung vorliegt - allerdings gewichtige Gründe dafür, die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG durch das Gerichtspräsidium nur dann zu beanstanden, wenn es diese unter Berücksichtigung der Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat und seine Entscheidung objektiv willkürlich erscheint (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 40 ff.; zustimmend Zöller/Lückemann, ZPO, 34. Aufl., § 21e GVG Rn. 44, 52; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 4. April 2018 - 3 B 45.16, NVwZ 2019, 82 Rn. 23 sowie 3 B 46.16, juris Rn. 24). Als Gremium der Selbstverwaltung des Gerichts muss das Präsidium die ihm übertragenen Entscheidungen flexibel und zeitnah treffen. Es ist mit den persönlichen und sachlichen Gegebenheiten vor Ort sowie dem üblichen Anfall von Verfahren im Gerichtsbezirk besonders vertraut und verfügt damit über Beurteilungsgrundlagen, die dem Rechtsmittelgericht nicht vollständig vermittelt werden können. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen über die Geschäftsverteilung wesentlich von der Bewertung zukünftiger Entwicklungen abhängen und solche vorausschauenden Einschätzungen ihrer Natur nach eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle nicht zulassen (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 1999 - 3 StR 267/99, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Hilfsstrafkammer 1). Der Beurteilung einer Überlastungssituation und der Wirksamkeit der zu ihrer Beseitigung erforderlichen Maßnahmen durch das Präsidium sollte deshalb ein gewisser Vorrang zukommen.
Rz. 26
Für die Anwendung eines intensiveren Prüfungsmaßstabs besteht auch aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Notwendigkeit. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erfordert eine umfassende Überprüfung nur bei der Frage, ob die Geschäftsverteilung generell-abstrakten Regelungen folgt (vgl. im Einzelnen BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 44 ff. mwN). Der Senat neigt daher weiterhin dazu, an seiner in früheren Entscheidungen als Revisionsgericht im Rahmen der Prüfung nach § 338 Nr. 1 StPO vertretenen Auffassung, es sei eine umfassende Überprüfung auf jede Rechtswidrigkeit vorzunehmen (Beschlüsse vom 22. März 2016 - 3 StR 516/15, BGHR GVG § 21e Abs. 3 Änderung 12 Rn. 16; vom 12. Januar 2016 - 3 StR 490/15, StV 2016, 623 Rn. 17; vom 12. Mai 2015 - 3 StR 569/14, NStZ 2016, 124, 125; vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09, StV 2010, 294 Rn. 18; Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268 Rn. 17; vgl. auch BGH, Urteil vom 7. April 2021 - 1 StR 10/20, juris Rn. 17; Beschlüsse vom 27. Januar 2020 - 1 StR 622/17, BGHR StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 7 Rn. 17; vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Hilfsstrafkammer 2 Rn. 10 ff.; vom 10. Juli 2013 - 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226 Rn. 17), nicht länger festzuhalten.
Rz. 27
d) Die Ermessensausübung des Präsidiums erweist sich als rechtsfehlerfrei. Die Einrichtung eines Hilfssenats und die Überleitung des Verfahrens begegnen keinen Bedenken.
Rz. 28
aa) Von den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG ist die Rechtsfolge zu unterscheiden. Sind die Tatbestandsmerkmale erfüllt,
stellt die Vorschrift das weitere Vorgehen in das pflichtgemäße Ermessen des Präsidiums (s. BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 56; Urteile vom 30. Juli 1998 - 5 StR 574/97, BGHSt 44, 161, 170; vom 12. April 1978 - 3 StR 58/78, BGHSt 27, 397, 398). Entschließungsermessen besteht im Hinblick darauf, ob es überhaupt tätig werden will, was sich auch für den Fall, dass die Änderung wegen Überlastung nötig ist, nicht von selbst versteht, sondern insbesondere von bestehenden Abhilfemöglichkeiten abhängen kann. Das Präsidium hat ferner Auswahlermessen dahin, welche konkreten Maßnahmen es ergreift.
Rz. 29
Die Entscheidung ist auf beiden Ebenen nur auf Ermessensfehler zu überprüfen, wobei dem Präsidium ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum einzuräumen ist. Dieser ist erst überschritten, wenn für das Vorgehen kein sachlicher Grund besteht und die Verteilung der Geschäfte maßgeblich durch sachfremde Erwägungen geprägt ist, also objektive Willkür vorliegt. Die Kontrolle hat sich nicht darauf zu erstrecken, ob sich die getroffene Regelung als die zweckmäßigste darstellt oder sich bessere Alternativen angeboten hätten (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 57; zur Jahresgeschäftsverteilung BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - StB 25/21 u.a., NStZ 2021, 762 Rn. 15).
Rz. 30
bb) Daran gemessen ist die Entscheidung des Präsidiums, einen Hilfssenat einzurichten und diesem unter anderem das vorliegende Verfahren zuzuweisen, nicht zu beanstanden. Es hat auch die hierfür maßgeblichen Gründe ausführlich dokumentiert und sowohl dargelegt, warum es ein Zuwarten bis zum kommenden Geschäftsjahr nicht für ausreichend gehalten, als auch, weshalb es sich für die Einrichtung des Hilfsstrafsenats anstatt für andere Maßnahmen entschieden hat.
Rz. 31
(1) Die Einrichtung eines Hilfsspruchkörpers für einen begrenzten Zeitraum war in der gegebenen Situation grundsätzlich zulässig. Die Einstufung der Überlastung des 5. Strafsenats als vorübergehend (s. zu diesem Erfordernis etwa BGH, Beschluss vom 25. März 2015 - 5 StR 70/15, NStZ 2015, 658 Rn. 9; Urteile vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268 Rn. 10; vom 8. Dezember 1999 - 3 StR 267/99, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Hilfsstrafkammer 1; Meyer-Goßner/Schmitt, § 21e GVG Rn. 16a; aA SK-StPO/Degenes, 5. Aufl., § 60 GVG Rn. 10 f.), fand ihre Stütze in Erfahrungen aus der Vergangenheit. Im Übrigen kommt dem Präsidium auch insoweit ein Einschätzungsspielraum zu. Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist erst verletzt, wenn offen zutage liegt, dass die Überlastung langfristig und nicht nur episodenhaft ist, weil sich dann die Einrichtung des Hilfsspruchkörpers als objektiv willkürlich darstellen würde (BGH, Urteile vom 8. Dezember 1999 - 3 StR 267/99, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Hilfsstrafkammer 1; vom 7. Juni 1983 - 4 StR 9/83, BGHSt 31, 389, 392; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 60 Rn. 12).
Rz. 32
(2) Es erweist sich als ermessensfehlerfrei, dass das Präsidium nicht die alternative Möglichkeit ergriffen hat, die Mitglieder des 5. Strafsenats durch Aufstockung ihrer Arbeitskraftanteile (AKA) zu entlasten. Zwar waren der Vorsitzende und zwei Beisitzer mit 0,25 AKA sowie die beiden Beisitzerinnen mit 0,1 AKA dem mit (regelmäßig weniger eiligen) Beschwerden in Kostensachen befassten 18. Zivilsenat zugewiesen. Selbst eine vollständige Übertragung dieser Arbeitskraftanteile hat das Präsidium allerdings nicht für geeignet gehalten, die gebotene beschleunigte Bearbeitung der hiesigen Haftsache sicherzustellen. Dies hat es in seinem Beschluss im Einzelnen ausgeführt, weshalb dahinstehen kann, ob es von Rechts wegen zu einer derart umfassenden Erörterung alternativer Regelungsmöglichkeiten verpflichtet gewesen oder ob die Dokumentation der Erwägung anderer Optionen nur dann geboten ist, wenn sich deren Vorzüge im Hinblick auf die Garantie des gesetzlichen Richters aufdrängen.
Rz. 33
(3) Auch im Zusammenhang mit dem Umstand, dass das Präsidium sich gegen eine Zuweisung an den regulär eingerichteten 4. Strafsenat entschieden hat, ist kein Ermessensfehler ersichtlich. Es hat die Nichtheranziehung dieses Spruchkörpers damit begründet, dass diesem in Ermangelung eines dort anhängigen Strafverfahrens keine Arbeitskraftanteile zugewiesen und die Senatsmitglieder in zwei Zivilsenaten gebunden waren. Eine Aufstockung der Arbeitskraftanteile des 4. Strafsenats und die damit einhergehende personelle Schwächung der Zivilsenate hat es angesichts extrem hoher Eingangszahlen in Zivilsachen für nicht sachgerecht gehalten. Gegen diese Erwägungen ist nichts zu erinnern.
Rz. 34
Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob die ergänzende Überlegung des Präsidiums, die Ableitung an einen bestehenden Senat beeinträchtige das Recht auf den gesetzlichen Richter genauso intensiv wie diejenige an einen ad hoc eingerichteten Hilfsspruchkörper, seine Ermessensentscheidung ebenfalls hätte tragen können.
Rz. 35
(4) Soweit der Angeklagte schließlich ein Organisationsverschulden rügt, weil der Vorsitzende des 5. Strafsenats nicht bereits im Juli 2021 die Überlastung des Senats im Hinblick auf den zu erwartenden Eingang des vorliegenden Verfahrens angezeigt hat, ist dem nicht beizutreten.
Rz. 36
Bis zum Eingang des hiesigen Verfahrens war der 5. Strafsenat nicht überlastet. Ob eine Überlastung zukünftig eintreten würde, war unklar. Ausweislich des Schreibens des Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 22. Februar 2022 hatte der Generalbundesanwalt lediglich die "mögliche" Erhebung einer Anklage angekündigt. Damit war nicht nur unbekannt, ob das Verfahren überhaupt eingehen, sondern auch, wann es ggf. bei Gericht eintreffen würde. Sein Eingang hätte ebenso erst in den Zeitraum des Geschäftsjahrs 2022 fallen können. Die Entwicklung der Arbeitslast bis zu einem derart ungewissen Zeitpunkt zu prognostizieren, war dem Staatsschutzsenat nicht möglich. Hinzu kommt, dass das Tatgericht den Umfang der angekündigten Sache vor Sichtung der Anklage nicht einzuschätzen vermochte. Weder waren etwa die genauen Tatvorwürfe bekannt noch das Einlassungsverhalten des Angeklagten und seine Haftsituation bei Anklageerhebung. Vor diesem Hintergrund bestand im Sommer 2021 schon keine Anzeigepflicht des Vorsitzenden. Erst recht war das Präsidium nicht gehalten, auf der aufgezeigten unsicheren Tatsachengrundlage vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen.
Rz. 37
Unbeschadet dessen geht der Angeklagte fehl in der Annahme, Verzögerungen der Überlastungsanzeige müssten dergestalt in die Ermessensausübung des Präsidiums einfließen, dass die bisherige Geschäftsverteilung beibehalten und der Angeklagte ggf. aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Die Prüfung der Haftfrage obliegt nicht dem Gerichtspräsidium. Dieses hat im Rahmen der gesetzlichen und tatsächlichen Möglichkeiten vielmehr auch in denjenigen Fällen eine zeitnahe Bearbeitung der Verfahren zu gewährleisten, in denen es kurzfristig von Engpässen in den Spruchkörpern erfährt.
III.
Rz. 38
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO. Die Prüfung, ob tatsächlich Kosten entstanden oder Auslagen angefallen sind, bleibt dem Kostenfestsetzungsverfahren vorbehalten (BGH, Beschluss vom 20. April 2021 - StB 13/21 u.a., juris Rn. 27 mwN).
Schäfer |
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Berg |
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Anstötz |
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Erbguth |
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Kreicker |
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Fundstellen
Haufe-Index 15462227 |
NStZ 2022, 7 |
NStZ-RR 2022, 5 |
NStZ-RR 2024, 302 |
NJW-Spezial 2022, 441 |
StV 2022, 799 |