Verfahrensgang
LG Paderborn (Urteil vom 11.10.2004) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 11. Oktober 2004 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und deshalb gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig. Das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.
Die Verurteilung wegen sexueller Nötigung in der Tatvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Nach den Feststellungen befand sich die zur Tatzeit 18 Jahre alte Nebenklägerin wegen Rückenbeschwerden in Behandlung bei dem Angeklagten, der als Physiotherapeut in einer Krankengymnastikpraxis tätig war. Anläßlich eines Behandlungstermins im Dezember 2003 führte der Angeklagte eine – therapeutisch an sich vertretbare – Brustmassage bei der Nebenklägerin durch. Diese Gelegenheit nutzte er aus, sexuell motiviert die Brüste der mit entblößtem Oberkörper „wehrlos” vor ihm liegenden Nebenklägerin über mehrere Minuten mit beiden Händen zu streicheln und zu kneten und dabei auch gezielt die Brustwarzen zu berühren. Die Nebenklägerin wollte dies nicht, war jedoch „dem für sie überraschenden Übergriff des Angeklagten hilflos ausgeliefert. Sie war psychisch nicht zu einer Gegenwehr in der Lage …, sondern ließ diese Handlungen geschockt und in starrer Haltung einige Minuten über sich ergehen, ohne sich wehren zu können” (UA 5). Nachdem die Nebenklägerin die Frage des Angeklagten, ob er ihre Brüste küssen dürfe, verneint hatte, ließ dieser von ihr ab.
2. Diese Feststellungen belegen nicht die Annahme des Landgerichts, daß der Angeklagte die Geschädigte unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert war, zur Duldung der sexuellen Übergriffe genötigt hat.
a) Eine schutzlose Lage liegt vor, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist; dies ist regelmäßig der Fall, wenn das Opfer sich dem überlegenen Täter allein gegenüber sieht und auf fremde Helfer nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht bedarf (st. Rspr.; BGHSt 44, 228, 231 f.; 45, 253, 256; BGH NStZ-RR 2003, 42, 44; BGHR StGB § 177 Abs. 1 schutzlose Lage 7). Dabei beruht die schutzlose Lage regelmäßig auf äußeren Umständen, etwa der Einsamkeit des Tatorts oder dem Fehlen von Fluchtmöglichkeiten (vgl. BGH NStZ 2003, 533, 534).
Eine auf äußeren Umständen beruhende schutzlose Lage ergibt sich hier nicht allein daraus, daß der Angeklagte als Therapeut eine Behandlungssituation zu dem sexuellen Übergriff mißbraucht hat. Vielmehr müssen auch in einem solchen Fall regelmäßig weitere Umstände hinzutreten, die das Tatopfer daran hindern, sich dieser Situation durch Flucht zu entziehen (vgl. BGHR § 177 Abs. 1 schutzlose Lage 5 und 7). Solche besonderen, eine schutzlose Lage begründenden Umstände aufgrund der Tatörtlichkeit und der Tatsituation hat das Landgericht nicht festgestellt. Es ist vielmehr selbst davon ausgegangen, daß es der Nebenklägerin „physisch möglich” gewesen wäre, die unverschlossenen Praxisräumlichkeiten zu verlassen (UA 11).
Soweit die Strafkammer zur Begründung der schutzlosen Lage darauf abstellt, die Nebenklägerin habe die Übergriffe über sich ergehen lassen, weil sie „vor Schreck und Überraschung wie gelähmt” (UA 11) gewesen sei, geht sie im Ansatz zwar zu Recht davon aus, daß sich eine schutzlose Lage des Opfers auch aus in seiner Person liegenden Umständen ergeben kann. Sie verkennt jedoch, daß in einem solchen Fall an die Feststellung der schutzlosen Lage erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Erforderlich ist, daß das Opfer Widerstandshandlungen gegenüber dem Täter unterläßt, weil es anderenfalls zumindest Körperverletzungshandlungen durch den Täter befürchtet (BGH NStZ 2003, 533, 534). Dies ergeben die Urteilsgründe nicht. Der festgestellte psychische Ausnahmezustand der Nebenklägerin infolge des überraschenden Übergriffs wird – jedenfalls für sich genommen – diesen Anforderungen nicht gerecht. Zwar hat die Nebenklägerin angegeben, auch „verängstigt” und deshalb sprach- und wehrlos gewesen zu sein (UA 8). Die Urteilsgründe lassen jedoch nicht erkennen, aus welchen Gründen die Nebenklägerin Angst vor dem Angeklagten verspürte, insbesondere ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen sie im Falle ihres Widerstands gegen die Übergriffe mit Gewalthandlungen des Angeklagten rechnete.
b) Darüber hinaus ist durch die bisher getroffenen Feststellungen auch die subjektive Tatseite für eine Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht hinreichend belegt. Dem Urteil ist weder zu entnehmen, warum der Angeklagte vom Vorliegen einer durch äußere Umstände geprägten schutzlosen Lage der Nebenklägerin ausgegangen ist, noch daß er sich diese zunutzte gemacht hat. Auch ist nicht belegt, daß es dem Angeklagten bewußt war, daß sich die Nebenklägerin ihm aus Angst nicht widersetzte.
3. Die bisherigen Feststellungen ergeben auch nicht, daß die Nebenklägerin während des dem Angeklagten angelasteten Geschehens im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB widerstandsunfähig war und der Angeklagte dies bemerkt und gebilligt hat. Zwar kommt § 179 StGB als Auffangtatbestand in Bezug auf § 177 Abs. 1 StGB dann in Betracht, wenn das Opfer keinen der Tat entgegenstehenden Willen bilden konnte (BGHSt 45, 253, 260). Widerstandsunfähig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer aus den dort genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Willen bilden kann, wobei es genügt, daß das Opfer nur vorübergehend widerstandsunfähig ist (BGHSt 36, 145, 147). Als Ursache einer solchen Unfähigkeit kann auch eine geistig-seelische Beeinträchtigung im Sinne der §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen, die sich etwa aus einem Zusammentreffen einer besonderen Persönlichkeitsstruktur des Opfers und seiner Beeinträchtigung durch die Tatsituation infolge Überraschung, Schreck oder Schock ergeben (BGHSt aaO). Zwar war nach den Feststellungen die Nebenklägerin „psychisch” nicht zu einer Gegenwehr gegen die Übergriffe des Angeklagten in der Lage und ließ diese „geschockt und in starrer Haltung” und „wie gelähmt” über sich ergehen. An einer Widerstandsunfähigkeit der Nebenklägerin bestehen indes in objektiver Hinsicht bereits deshalb Bedenken, weil sie nach den Feststellungen auf Fragen des Angeklagten noch während des Tatgeschehens, aber auch unmittelbar nach Beendigung der Übergriffe situationsangemessen reagierte und ihren dem Vorgehen des Angeklagten entgegenstehenden Willen zum Ausdruck brachte. Jedenfalls ist aus diesen Gründen bislang nicht belegt, daß der Angeklagte mit der Unfähigkeit der Nebenklägerin, sich ihm zu widersetzen, zumindest im Sinne des dolus eventualis gerechnet und deshalb zumindest die Widerstandsunfähigkeit der Nebenklägerin billigend in Kauf genommen hat.
4. Zwar erfüllt das festgestellte Tatgeschehen sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 174 c Abs. 1 StGB. Diese Vorschrift ist jedoch erst nach der verfahrensgegenständlichen Tat durch das am 1. April 2004 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vom 27. Dezember 2003 um die hier in Betracht kommende Tatbestandsalternative (wegen einer „körperlichen Erkrankung” anvertraut) erweitert worden.
5. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer Feststellungen trifft, die eine Verurteilung tragen können. Die Sache muß daher neu verhandelt und entschieden werden.
Unterschriften
VRi'inBGH Dr. Tepperwien ist wegen Krankheit gehindert zu unterschreiben. Kuckein, Kuckein, Solin-Stojanović, Ernemann, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2557043 |
StV 2005, 439 |
StraFo 2005, 344 |