Verfahrensgang
BGH (Entscheidung vom 07.07.2023; Aktenzeichen 2 BGs 1042/23) |
Tenor
Der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli 2023 (2 BGs 1042/23) wird aufgehoben.
Die Beschuldigte ist in dieser Sache aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Beschuldigte ist am 6. Juli 2023 vorläufig festgenommen worden und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli 2023 (2 BGs 1042/23) seither ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Rz. 2
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Beschuldigte habe sich im Zeitraum von 2014 bis 2019 durch zwei rechtlich selbständige Handlungen an verschiedenen Orten in Syrien mitgliedschaftlich an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 VStGB) zu begehen, und in einem Fall tateinheitlich dazu ihre Fürsorge- und Erziehungspflicht gegenüber vier Personen unter 16 Jahren gröblich verletzt und dadurch die Schutzbefohlenen in die Gefahr gebracht, in ihrer körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 171, 52, 53 StGB. Die Beschuldigte sei gemeinsam mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen (ersten) Ehemann nach islamischem Ritus und den vier gemeinsamen Kindern im Jahr 2014 von der Ukraine über die Türkei nach Syrien ausgereist und habe sich dort dem IS angeschlossen, in die Organisation eingegliedert und aktiv die Ziele des IS gefördert.
II.
Rz. 3
Die Prüfung, ob die Untersuchungshaft fortdauern darf, führt zur Aufhebung des Haftbefehls. Die Beschuldigte ist nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen der ihr vorgeworfenen mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nicht dringend verdächtig im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, ebenso wenig der Unterstützung einer solchen Vereinigung. Die damit verbleibende geringere Straferwartung wegen des dringenden Verdachts der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht trägt den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) nicht. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen besteht gleichwohl ein die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts und damit - nach Abgabe durch den Generalbundesanwalt - der Generalstaatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts begründender Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB (§ 142a Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 4, § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG). Im Einzelnen:
Rz. 4
1. Die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer Vereinigung setzt zum einen eine gewisse einvernehmliche Eingliederung des Täters in die Organisation (die Mitgliedschaft) und zum anderen eine aktive Tätigkeit zur Förderung ihrer Ziele (die Beteiligungshandlungen) voraus. Es gilt:
Rz. 5
a) Die erforderliche Eingliederung des Täters in die Vereinigung kommt nur in Betracht, wenn er sie von innen und nicht lediglich von außen her fördert. Insoweit bedarf es zwar keiner förmlichen Beitrittserklärung oder einer förmlichen Mitgliedschaft. Notwendig ist aber, dass der Täter eine Stellung innerhalb der Vereinigung einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet und von den Nichtmitgliedern unterscheidbar macht. Dafür reicht allein die Tätigkeit für die Vereinigung, mag sie auch besonders intensiv sein, nicht aus; denn ein Außenstehender wird nicht allein durch die Förderung der Vereinigung zu deren Mitglied. Die Mitgliedschaft setzt ihrer Natur nach eine Beziehung voraus, die einer Vereinigung nicht aufgedrängt werden kann, sondern ihre Zustimmung erfordert. Ein auf lediglich einseitigem Willensentschluss beruhendes Unterordnen und Tätigwerden genügt nicht, selbst wenn der Betreffende bestrebt ist, die Vereinigung und ihre kriminellen Ziele zu fördern.
Rz. 6
Die mitgliedschaftliche Beteiligung setzt auf der Grundlage der seit dem 22. Juli 2017 geltenden Legaldefinition der Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) nicht voraus, dass sich der Täter in ihr Verbandsleben integriert. Für die Eingliederung in die Organisation ist somit nicht mehr erforderlich, dass seine Förderungshandlungen von einem einvernehmlichen Willen zur fortdauernden Teilnahme an diesem Verbandsleben getragen sind. Bestehen jedoch bei der zu beurteilenden Vereinigung - wie dem IS - eine ausgeprägte Organisation und ein verbindlicher Gruppenwille, ist auch nach der aktuellen Gesetzeslage dieses von der bisherigen Rechtsprechung verlangte Kriterium von Bedeutung; die Eingliederung in die auf diese Weise strukturierte Personenmehrheit geht typischerweise mit dem einvernehmlichen Willen zur Teilnahme am Verbandsleben einher. Im Übrigen genügt nach neuem Recht insoweit jedenfalls ein entsprechender Wille zu einer auf Dauer oder zumindest längere Zeit angelegten Mitwirkung an den Aktivitäten oder an der Verfolgung der Ziele der Vereinigung (s. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 14/22, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 6 Rn. 28 f. mwN).
Rz. 7
b) Eine Beteiligungshandlung des Mitglieds kann darin bestehen, unmittelbar zur Durchsetzung der Ziele der Vereinigung beizutragen; sie kann auch darauf gerichtet sein, lediglich die Grundlagen für die Aktivitäten der Vereinigung zu schaffen oder zu erhalten. Ausreichend ist deshalb die Förderung von Aufbau, Zusammenhalt oder Tätigkeit der Organisation. In Betracht kommt etwa ein organisationsförderndes oder ansonsten vereinigungstypisches Verhalten von entsprechendem Gewicht. In Abgrenzung hierzu fehlt es in Fällen einer bloß formalen oder passiven, für das Wirken der Vereinigung bedeutungslosen Mitgliedschaft grundsätzlich an einem mitgliedschaftlichen Beteiligungsakt (BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2019 - AK 22/19, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 5 Rn. 24 mwN; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 7).
Rz. 8
2. Gemessen daran belegen die bislang ermittelten Tatsachen nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit die dargelegten Voraussetzungen für eine Eingliederung der Beschuldigten in den IS und eine aktive Tätigkeit für dessen Zwecke.
Rz. 9
a) Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Rz. 10
aa) Die Beschuldigte reiste im Jahr 2014 zusammen mit ihren vier in den Jahren 2007, 2009, 2010 und 2012 geborenen Kindern von der Ukraine über die Türkei nach Syrien. Dort lebte sie bis zum Jahr 2019 im Herrschaftsgebiet des IS, zunächst in Tabka, danach in der IS-Hauptstadt Raqqa, sodann in der Nähe der syrisch-irakischen Grenze in Al-Kishmah. Sie trug die Kunya „Amina“ und wohnte nach dem Tod ihres ersten Ehemanns nach islamischem Ritus namens E. für zwei Wochen mit ihrem zweiten Ehemann mit Namen A. zusammen, bevor sie anschließend Drittfrau eines aserbaidschanischen IS-Kämpfers wurde, welcher O. hieß. Auch der zweite und der dritte Ehemann verstarben.
Rz. 11
In Syrien gebar die Beschuldigte in den Jahren 2015, 2016 und 2018 drei weitere Kinder. Sie führte jeweils allein den Haushalt, erledigte die notwendigen Einkäufe, versorgte die insgesamt sieben Kinder und erzog diese. Für einige Zeit hielt sie sich mit ihnen in einer bewachten Unterkunft des IS auf, mutmaßlich einem sogenannten Frauenhaus. Nach dem Tod ihres dritten Ehemannes Anfang 2019 geriet sie in kurdische Gefangenschaft und wurde mit den Kindern in das Flüchtlingslager al-Hol in Nordsyrien verbracht. Später kam sie in das Flüchtlingscamp Roj, von wo aus sie im Jahr 2021 in die Ukraine zurückgeführt wurde.
Rz. 12
bb) Durch den Aufenthalt in der von einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt geprägten Region in Syrien setzte die Beschuldigte ihre vier in der Ukraine geborenen Kinder bewusst der anhaltenden Gefahr von Kriegseinwirkungen, besonders Bombardierungen, sowie der Willkürherrschaft einer terroristischen Organisation aus. Dadurch gerieten die Kinder in die Gefahr, in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung beträchtlichen Schaden zu erleiden.
Rz. 13
b) Für den der Beschuldigten darüber hinaus vorgeworfenen Sachverhalt, sie habe sich in Syrien einvernehmlich in den IS eingegliedert und diesen von innen heraus gefördert, etwa indem sie ihre verschiedenen Ehemänner bei ihrer Tätigkeit für die Organisation aktiv unterstützte und die Kinder im Sinne der IS-Ideologie erzog, besteht nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen keine hohe Wahrscheinlichkeit.
Rz. 14
aa) Die Beschuldigte hat bestritten, eine eigene Funktion im IS wahrgenommen zu haben; sie habe den IS nie unterstützt und unterstütze ihn auch heute nicht. Sie hat zwar - unter Nennung variierender Zeitangaben - eingeräumt, sich im Gebiet des IS aufgehalten und dort geheiratet zu haben. Sie sei jedoch nicht mit ihrem ersten Ehemann gemeinsam gezielt zum IS ausgereist, sondern aufgrund von Gebietsgewinnen in dessen Herrschaftsbereich gelangt. Sie habe während des gesamten Aufenthalts versucht, mit ihren Kindern aus dem IS-Gebiet zu fliehen. Ihr erster Ehemann sei kein Mitglied des IS gewesen, habe in der Türkei auf Baustellen gearbeitet und sie immer wieder einmal besucht. Der zweite Ehemann habe als Fahrer gearbeitet und Wasser ausgeliefert; auch er habe nicht dem IS angehört. Der dritte Ehemann sei IS-Kämpfer gewesen; mit ihm habe sie indes nicht in einem Haushalt gelebt. Sie habe die beiden Männer in Syrien jeweils auf der Straße kennengelernt und nur geheiratet, um das IS-Gebiet verlassen zu können. Sie und ihre Kinder seien nicht von der Organisation alimentiert worden. Auch ihre Ehemänner hätten die Familie nicht finanziell unterstützt. Sie habe sich von allen Männern scheiden lassen; mittlerweile seien sie tot. Der dritte Ehemann sei bei einem Raketenangriff auf das Haus, in dem er gelebt habe, gestorben. Soweit die Entscheidung eines ukrainischen Gerichts abweichende Angaben ihrerseits enthalte, seien diese unzutreffend und auf die damalige Anwältin zurückzuführen. Den auf ihrem Telefon gesicherten Chat mit einer Frau namens „ “ habe nicht sie selbst geführt, sondern ihr jetziger Mann nach islamischem Ritus.
Rz. 15
bb) Aus sonstigen Beweismitteln gehen eine Eingliederung der Beschuldigten in den IS und ein vereinigungsbezogenes Verhalten ihrer Person ebenfalls nicht mit einem höheren Wahrscheinlichkeitsgrad hervor:
Rz. 16
Einem Beschluss des Gerichts des Stadtbezirks Henitscheskyj des Gebiets (Oblast) Cherson (Ukraine) vom 24. Dezember 2021 und darin enthaltenen Angaben der Beschuldigten ist lediglich zu entnehmen, dass ihr erster Ehemann sie und ihre vier Kinder in das von Terroristen kontrollierte Gebiet in Syrien brachte. Dieser sei in der Folgezeit aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten mit der militärischen Führung des IS getötet worden. Die Beschuldigte habe sodann versucht, mit ihren Kindern das Gebiet des IS zu verlassen, was jedoch nicht gelang. Sie habe zwischen 2015 und 2018 im Flüchtlingslager al-Hol drei weitere Kinder geboren. Am 15. Juni 2021 seien die Beschuldigte und ihre nunmehr sieben Kinder in die Ukraine zurückgekehrt.
Rz. 17
Ausweislich einer Behördenerklärung des Bundesnachrichtendienstes vom 13. April 2023 reiste die Beschuldigte mit ihrem ersten Ehemann 2014 über die Türkei nach Syrien aus, um sich dort dem IS anzuschließen (zum Beweiswert von Behördenzeugnissen s. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2019 - 3 StR 280/18, BGHR StPO § 102 Tatverdacht 4 mwN). Nach dessen Tod habe sie dort zwei weitere Ehemänner geheiratet, die ebenfalls in Syrien verstorben seien. Ihr dritter Ehemann sei ein unbekannter aserbaidschanischer Staatsangehöriger gewesen, der 2019 bei Kampfhandlungen im dortigen Baghouz zu Tode gekommen sei.
Rz. 18
cc) Auch in der Zusammenschau dieser Beweismittel mit den Angaben der Beschuldigten zu ihren Aufenthaltsorten im IS-Gebiet und einem Weiterziehen entlang der Fluchtroute der Vereinigung sowie der Tätigkeit ihrer verschiedenen Ehemänner folgt keine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Strukturen der Vereinigung eingegliedert war und sich als Mitglied für den IS betätigte. Dass ihre beiden ersten Ehemänner Mitglieder der Vereinigung waren, ist nicht belegt. Die Beschuldigte hat zwar eingeräumt, ihr dritter Ehemann sei IS-Kämpfer gewesen. Insoweit hat sie jedoch auch angegeben, seine Drittfrau gewesen zu sein und mit ihm nicht in einem Haus gelebt zu haben, so dass dessen Unterstützung durch sie nicht naheliegt. Das Führen der Kunya „Amina“ und der zeitweilige Aufenthalt in einer vom IS bewachten Unterkunft haben zwar indizielle Bedeutung für eine Mitgliedschaft im IS, sind vor dem Hintergrund der gegebenen Beweislage aber nicht ausreichend, um einen dringenden Tatverdacht zu begründen.
Rz. 19
dd) Weitere Beweismittel, die auf eine Eingliederung der Beschuldigten in die Vereinigung und Beteiligungshandlungen schließen lassen, sind den bisherigen Ermittlungen nicht zu entnehmen. Die in der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft aufgeführten Auswerteberichte betreffen überwiegend aktuelle Kommunikation des jetzigen Ehemanns der Beschuldigten mit Dritten und enthalten keine Hinweise auf ihr Verhalten im Tatzeitraum 2014 bis 2019. Soweit einzelne Auswerteberichte die - aktuelle - Kommunikation der Beschuldigten sowie auf ihrem Mobiltelefon gespeicherte Fotos und Bilder betreffen, lässt sich daraus lediglich auf eine bestehende islamistisch-jihadistische Einstellung schließen. Dies gilt auch für den oben genannten Chat mit einer Person namens „ “, wobei insoweit noch nicht abschließend hat geklärt werden können, ob dieser Chat von der Beschuldigten, was nach Aktenlage näherliegt, oder - wie von ihr behauptet - ihrem jetzigen Ehemann geführt wurde.
Rz. 20
Auch die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 20. Dezember 2023 darauf hingewiesen, dass die Ermittlungen keine maßgeblichen weitergehenden Erkenntnisse erbracht hätten. Es könne lediglich festgestellt werden, dass sich die Beschuldigte und ihr jetziger Ehemann verfestigt der Ideologie des IS und dessen Zielen verschrieben hätten.
Rz. 21
c) Nach allem ergibt sich zwar, dass die Beschuldigte während ihres Aufenthalts in Syrien keine Distanz zur IS-Herrschaft erkennen ließ. Sie hatte als Islamistin auch ein Motiv für die Ausreise. Anhaltspunkte dafür, dass der IS nicht nur den dritten Ehemann, sondern auch die Beschuldigte als der Vereinigung angehörig betrachtete, sind jedoch nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht mit einem höheren Wahrscheinlichkeitsgrad festzustellen. Hinweise darauf hätten etwa die religiöse Unterweisung ihrer Person, die vom IS vermittelte Hochzeit mit einem Mitglied, die Überlassung einer von der Organisation besetzten Wohnung und an bzw. für die Beschuldigte von der Vereinigung geleistete Zahlungen bieten können (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 20). Derartiges haben die bisherigen Ermittlungen indes, wie dargelegt, nicht zutage gebracht.
Rz. 22
Ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankommt, wären Beteiligungshandlungen der Beschuldigten nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ebenfalls nicht hochwahrscheinlich (zu Tätigkeiten, die entsprechende Hinweise geben können, vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 21). Ihr Verhalten erschöpfte sich nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen in einem alltäglichen Leben im Herrschaftsgebiet des IS sowie im Gebären und Aufziehen der eigenen Kinder. Diese Betätigungen müssen für sich gesehen noch keine Beteiligungsakte darstellen (s. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2018 - StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207; vom 23. Juni 2020 - StB 19/20 und 20/20, nicht veröffentlicht; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 22; ferner SSW-StGB/Lohse, 5. Aufl., § 129 Rn. 38), wenngleich auch solche an sich neutralen Handlungen, wenn sie bewusst auf die Förderung der Ziele des IS angelegt sind, einen Vereinigungsbezug aufweisen können. Dafür, dass die Beschuldigte ihre alltäglichen Verrichtungen mit der entsprechenden Willensrichtung besorgte, fehlt es vorliegend jedoch gleichermaßen an ausreichenden Anknüpfungstatsachen.
Rz. 23
3. Nach dem derzeit zugrunde zu legenden Sachverhalt hat sich die Beschuldigte auch nicht wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB) strafbar gemacht. Konkrete, die Vereinigung objektiv und subjektiv fördernde Tätigkeiten haben sich, wie dargelegt, bislang nicht ergeben (zum Begriff des Unterstützens s. etwa BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2018 - AK 37/18, juris Rn. 14 ff.; vom 28. April 2020 - StB 13/20, juris Rn. 22 f., jeweils mwN).
Rz. 24
4. Damit bleibt es, was den dringenden Tatverdacht betrifft, (nur) bei der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht im Sinne des § 171 StGB in vier rechtlich zusammentreffenden Fällen (§ 52 StGB).
Rz. 25
Die hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung folgt nach der derzeitigen Beweislage daraus, dass die Beschuldigte ihre vier Kinder vorsätzlich aus der Ukraine in ein Kriegsgebiet verbrachte und der Willkürherrschaft einer terroristischen Organisation aussetzte, wodurch eine Gefahr für deren gesunde körperliche und psychische Entwicklung bestand. Diese Gefahr wird, abgesehen von der allgemeinen Lage vor Ort im Tatzeitraum, unter anderem dadurch deutlich, dass die Familie - wie von der Beschuldigten eingeräumt - Bombenangriffen ausgesetzt war. Die äußeren Umstände lassen derzeit den Schluss auf den subjektiven Tatbestand zu (BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2019 - AK 56/19, juris Rn. 42 ff., und StB 26/19, BGHR StGB § 171 Krimineller Lebenswandel 1 mwN; vom 4. März 2020 - StB 7/20 Rn. 40, nicht veröffentlicht; vom 3. März 2021 - AK 10/21, juris Rn. 36; zum erforderlichen Vorsatz BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2020 - 4 StR 339/20, NStZ-RR 2020, 372), auf den ebenso wie auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadens Bedacht zu nehmen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2019 - StB 26/19, juris Rn. 26 mwN zum Gefahrbegriff).
Rz. 26
Deutsches Strafrecht ist insoweit gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB anwendbar. Die Tatorte lagen in der Ukraine und Syrien. Die Tat ist auch in der Ukraine gemäß Art. 166 des ukrainischen Strafgesetzbuchs strafbar, wenngleich der Tatbestand nach ukrainischem Recht engere Voraussetzungen hat, die allerdings ebenfalls erfüllt sein dürften. In Syrien befanden sich die jeweiligen Tatorte zur Tatzeit unter alleiniger Kontrolle des IS und unterlagen damit faktisch keiner Strafgewalt (vgl. näher BGH, Beschlüsse vom 9. Juni 2020 - AK 12/20, juris Rn. 32; vom 17. Oktober 2019 - AK 56/19, juris Rn. 55; vom 17. Oktober 2019 - StB 26/19, juris Rn. 28; vom 6. Oktober 2016 - AK 52/16, juris Rn. 33 ff.). Die Beschuldigte ist im Inland betroffen, und Auslieferungen von und nach Syrien finden derzeit nicht statt. Zudem werden Auslieferungen an die Ukraine - wie sich aus einem Schreiben des Bundesamtes der Justiz vom 11. Juli 2023 ergibt - angesichts des Angriffskriegs Russlands bis auf Weiteres nicht bewilligt.
Rz. 27
5. Für die Verfolgung der Straftat nach § 171 StGB verbleibt es bei der Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft. Angesichts der islamistischen Orientierung der Beschuldigten, ihrer letztlich freiwilligen Ausreise mit den Kindern nach Syrien, ihres langjährigen Aufenthalts im Herrschaftsgebiet des IS, dem Weiterziehen entlang der Fluchtroute der Vereinigung und der Eingliederung ihres dritten Ehemanns in die Organisation besteht nach wie vor ein Anfangsverdacht für ein Vereinigungsdelikt nach den §§ 129a, 129b StGB.
Rz. 28
6. Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls und der weitere Vollzug der nunmehr bereits knapp sieben Monate andauernden Untersuchungshaft scheiden aus. Es besteht bereits kein Haftgrund mehr.
Rz. 29
Mit dem Wegfall des dringenden Verdachts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland entfällt der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO.
Rz. 30
Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), auf den der Haftbefehl vom 7. Juli 2023 gestützt ist, setzt voraus, dass es bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände wahrscheinlicher ist, dass sich die Beschuldigte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werde. Dies ist angesichts des um die Vereinigungsdelikte reduzierten dringenden Tatverdachts nicht mehr der Fall. Die Straferwartung ist dadurch erheblich geringer. Hinzu kommt, dass die bisherige Untersuchungshaft nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die gegebenenfalls zu verhängende Strafe anzurechnen wäre. Die allein wegen der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zu erwartende Sanktion gegen die nicht vorbestrafte Beschuldigte, die im Fall der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe aller Voraussicht mit einer Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung rechnen könnte, ist deshalb nicht so hoch, dass sie geeignet erscheint, einen bedeutsamen Fluchtanreiz auszuüben.
Rz. 31
Vor dem Hintergrund der zu erwartenden Strafe dürfte die Haftfortdauer auch unverhältnismäßig sein (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Berg Hohoff Erbguth
Fundstellen
Haufe-Index 16193328 |
NStZ-RR 2024, 111 |